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Archiv "1989/2009 – 20 Jahre Deutsche Einheit: Deutsch-deutsche Gesundheitspolitik im Einigungsprozess (I)" (05.06.2009)

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(1)

V

ierzig Jahre unterschiedlicher Gesellschafts- und Gesund- heitspolitik in der Bundesrepublik und der DDR zeigten sich bei der ambulanten ärztlichen Versorgung am deutlichsten. Hier gab es die ge- gensätzlichen Konzepte freiberuflich tätiger Ärzte in Einzelpraxen einer- seits und der Polikliniken mit an- gestellten Ärzten andererseits. Die Strukturen der ambulanten ärztlichen Versorgung waren schon in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und anschließend von der Staats- und Parteiführung der DDR teilweise aus pragmatischen, insbesondere aber aus gesellschaftlichen Überlegungen umgestaltet worden (1). Es soll hier keine Analyse der Vor- und Nachteile der beiden Gesundheitssysteme vor-

genommen werden. Nur so viel: Zu den Vorzügen des DDR-Gesund- heitssystems gehörten zweifellos die enge Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung, die Be- tonung der Prävention und Früher- kennung von Krankheiten sowie die Einheit von Versorgung, Behandlung und Nachsorge. In diesem Kontext sind auch die Organisationsstruktu- ren der ambulanten ärztlichen Ver- sorgung, vor allem die Polikliniken einzuordnen.

Die Zahl der niedergelassenen Ärzte in der DDR nahm kontinuier- lich ab, ihr Durchschnittsalter stieg stetig. Demgegenüber wurde der Ausbau von staatlichen und betrieb- lichen Polikliniken und Ambulato- rien sowie der staatlichen Arztpra-

xen vorangetrieben. Im Herbst 1989 befand sich daher der überwiegen- de Teil der ambulant tätigen Ärzte in einem Beschäftigungsverhältnis mit dem staatlichen oder betrieb- lichen Gesundheitswesen, arbeite- te in Polikliniken, in Ambulatorien und im Betriebsgesundheitswesen.

Daneben wurde ein Teil der ambu- lanten Behandlung durch in stati- onären Einrichtungen tätige Ärzte erbracht. Nur ein verschwindend geringer Teil war hingegen am Ende der DDR noch in freier Praxis als niedergelassener Arzt tätig: 1989 waren dies noch 341 der 20 570 am- bulant tätigen Ärzte (4).

Die Krise des ostdeutschen Gesundheitswesens 1989

Bereits am 11. August 1989 hatte die SED-Führung in einer internen Analyse über die Sicherung der me- dizinischen und sozialen Betreuung der Bevölkerung wichtige Defizite benannt (5): Arbeitskräftemangel in den Krankenhäusern, die ungenü- gende Kapazität in den Feierabend- und Pflegeheimen – hier warteten

* Überarbeitete Fassung eines Vortrags beim Workshop „Transforma- tion des Gesundheits- wesens in den neuen Bundesländern“, ver- anstaltet vom Hannah- Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Meißen im Sommer 2006 (Literaturstand 2007).

1989/2009 – 20 JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

Deutsch-deutsche Gesundheitspolitik im Einigungsprozess (I)

Für kurze Zeit schien vieles möglich. Doch schneller, als von den meisten erwartet, wurden die bundesdeutschen Strukturen der ambulanten ärztlichen Versorgung auf die neuen Bundesländer übertragen.

Heidi Roth*

Die wirklich einschneidenden Veränderungen erfolgten im Osten nach dem Fall der Mauer. Lange Ver- trautes verschwand binnen Kurzem.

(2)

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 23⏐⏐5. Juni 2009 A1191 160 000 Antragsteller auf ihre Auf-

nahme, darunter 20 000 dringliche Fälle –, der katastrophale Zustand der Bausubstanz von Krankenhäu- sern, Kureinrichtungen und medizi- nischen Forschungsanstalten, der die Funktionsfähigkeit gefährdete oder einschränkte; die medizinische Arbeit wurde durch Mängel in der Bereitstellung von Medikamenten und in der medizintechnischen Aus- stattung behindert. Weiter musste eingestanden werden, dass sich der Abstand zur medizintechnischen Ausstattung im internationalen Ver- gleich vergrößert hatte. Der Öffent- lichkeit wurden derartige kritische Befunde vorenthalten. Auch mit den betroffenen Mitarbeitern des Ge- sundheits- und Sozialwesens wurde offenbar nicht gesprochen. Kriti- sche Diskussionen hätten die Vor- bereitungen zu den Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der DDR gestört.

Während der friedlichen Revolu- tion waren vor allem die Schwächen des Gesundheitswesens in den Me- dien und in der Öffentlichkeit prä- sent. In Erinnerung ist etwa die Kri- tik an der maroden Bausubstanz der Krankenhäuser und an Altenhei- men, in denen alte und pflegebe- dürftige Menschen in überbelegten Mehrbettzimmern lebten. Völlig ausgeblendet wurden damals die er- haltenswerten Seiten des Gesund- heitswesens. Diese mediale Aus- wahl hatte offenbar Auswirkungen auf die Grundeinstellung der DDR- Bevölkerung. Es verwundert folg- lich auch nicht, dass sich Demons- tranten nirgends für den Erhalt von Polikliniken oder Ambulatorien ein- setzten. Reformdiskussionen inner- halb der Ärzteschaft, wie beispiels- weise in der oppositionellen Grup- pierung „Ärzte für den Frieden“ (6), drangen im stürmischen Herbst 1989 nicht an die Öffentlichkeit.

Die Krise des Gesundheitswe- sens verschärfte sich in den letzten Monaten des Jahres 1989 drama- tisch, vor allem die personellen Pro- bleme wurden immer größer; denn nach dem Fall der Mauer hielt der Weggang von Ärzten und anderem medizinischen Personal aus der DDR in die Bundesrepublik an.

1989 verließen rund 10 000 Mitar- beiter des Gesundheits- und Sozial-

wesens, darunter circa 4 000 Ärzte und Zahnärzte und 4 000 Kranken- schwestern, die DDR (7).

Geld für Gesundheit: „Es geht hier um einen Lebensnerv“

Der letzte SED-Minister für Ge- sundheits- und Sozialwesen, Klaus Thielmann, wandte sich im Novem- ber 1989 in mehreren Briefen an führende DDR- und SED-Funk- tionäre, auch an den neuen SED-Ge- neralsekretär Egon Krenz (8). Er forderte unter anderem die Er- höhung der Gehälter und die Auf- stockung der materiellen und finan- ziellen Mittel für das Gesundheits- wesen. Ende November 1989 schrieb Thielmann an den neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow und wiederholte seine Forderungen.

Er bat um Umschichtung der Staats- ausgaben für das Ministerium für Staatssicherheit und die Nationale Volksarmee zugunsten der Gesund-

heits- und Sozialpolitik. Der Anteil der Ausgaben für das Gesundheits- wesen am Nationaleinkommen der DDR betrug zuletzt fünf Prozent;

das war im Vergleich zu den westli- chen Ländern, selbst zur Sowjetuni- on zu niedrig. Außerdem bat Thiel- mann um den Einsatz von Arbeits- kräften aus dem Bestand des Minis- teriums für Staatssicherheit (MfS) und der Nationalen Volksarmee (NVA) im Sozialwesen. Falls seine Forderungen nach einer wesentli- chen Anhebung der Gehälter im Ge- sundheits- und Sozialwesen nicht erfüllt würden, drohte er mit Rück- tritt. Offenbar fand der Minister Gehör. Zum 1. März 1990 wurden die Gehälter im Gesundheitswesen erheblich erhöht (9).

Thielmann war sich der besonde- ren politischen Brisanz der desola- ten Lage im Gesundheitswesen für das Ansehen der letzten SED-Re- gierung bewusst. „Gerade am Ge- sundheits- und Sozialwesen zu scheitern“, schrieb er Ende Januar 1990 an Modrow, „bedeutet jedoch, Glaubwürdigkeit für eine Politik, die dem Menschen dienen und ihn vor elementarsten Nöten schützen soll, zu verlieren. Es geht hier um ei- nen Lebensnerv.“ (10)

Thielmann hielt zusätzliche Auf- wendungen für das Gesundheitswe- sen auch deshalb für notwendig, um bei einer Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik und im „Zusam- menwirken und Zusammenwachsen

(2) nach Winkler, 1989

(3) nach Wasem, 1992 TABELLE 1

Polikliniken, Ambulatorien und sonstige Einrichtungen für ambulante Behandlung in der DDR

Jahr Poli- Ambu- Staatliche Betriebs- Betriebs- Gemeinde-

kliniken latorien Arztpraxen arzt- schwestern- schwestern- sanitätsstellen sanitätsstellen stationen

1949 180 520 – 2 400

1950 184 575 – 2 620

1955 369 720 – 1 695 1 691 4 031

1960 399 766 298 1 964 1 595 4 493

1965 412 855 787 1 866 1 478 4 807

1970 452 828 1 301 2 067 1 323 4 716

1975 522 929 1 606 2 051 1 227 5 061

1980 561 969 1 645 2 058 1 277 5 279

1985 590 998 1 602 1 950 1 370 5 463

TABELLE 2

Ambulant tätige Ärzte in der DDR

Jahr Ambulant Einwohner dar. Ärzte Anteil

tätige je in eigener in

Ärzte Arzt Niederlassung Prozent

1965 7 270 1 740 2 524 35

1979 10 690 1 375 1 888 18

1980 16 730 950 863 5

1989 20 840 808 340 2

(3)

der beiden deutschen Staaten Grund- positionen auf dem Gebiet der Ge- sundheits- und Sozialpolitik einbrin- gen zu können, denen wir uns in der Entwicklung der DDR verschrieben hatten und die nicht verloren gehen dürfen. Gerade damit haben wir die Möglichkeit“, so Thielmann, „Eigen- ständiges einzubringen: Die sozialen Prinzipien unseres Gesundheits- und Sozialwesens sind unbestritten. Der Ausschluss von Kommerzialisierung in diesem Bereich ist eine historische Errungenschaft“. (11)

Nachdenken über eine Angleichung der Systeme

Nach dem Fall der Mauer kam es in beiden deutschen Staaten zu einer lebhaften normativen Diskussion über die Leistungsstrukturen des am- bulanten Gesundheitswesens in bei- den Teilen Deutschlands: Das west- deutsche Gesundheitssystem war seit Längerem einer kritischen Bewer- tung seiner Effizienz und Effektivität ausgesetzt gewesen, wohingegen dem ostdeutschen Gesundheitssys- tem in den vergangenen Jahrzehnten teilweise durchaus gute Noten zuge- sprochen worden waren und einige Elemente seiner Leistungsstruktur Anknüpfungspunkte für in West- deutschland artikulierte Reformvor- stellungen boten (12). Auch in der internationalen Bewertung der Welt- gesundheitsorganisation gab es An- erkennung für bestimmte Strukturen und Ergebnisse des DDR-Gesund- heitswesens (13).

In Westdeutschland galten bis in die 1970er-Jahre Diskussionen über alternative Organisationsformen der ambulanten ärztlichen Tätigkeit – sowohl bei Ärzten als auch in der Öffentlichkeit – fast schon als illegi-

tim (14). Anfang der 70er-Jahre wur- de verstärkt eine Reform des bundes- deutschen Gesundheitswesens ge- fordert. Alternative Organisations- formen wurden vorgeschlagen. Kri- tik kam von den Gewerkschaften an den Einzelpraxen der niedergelasse- nen Ärzte, weil diese zunehmend den modernen medizinischen An- forderungen nicht mehr gerecht würden. Vorgeschlagen wurden medizinisch-technische Zentren, die als nicht gewinnorientierte Körper- schaften mit fest angestellten Ärzten errichtet werden sollten; dort sollten für die niedergelassenen Ärzte einer Region sämtliche aufwendigen dia- gnostischen Maßnahmen durchge- führt werden (15). Solche Vorschläge wurden damals nicht nur von den meisten Ärzten entschieden abge- lehnt, sondern fanden auch in der breiten politischen Öffentlichkeit kaum einen Widerhall.

Erst im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen und politischen Diskussionen über Krise und Umbau des deutschen Sozialstaats, in Son- derheit mit der im Westen Deutsch- lands einsetzenden gesundheitsöko- nomischen Wettbewerbsdiskussion, wurde das Versorgungsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen wie- der stärker hinterfragt. So wurden auch Konzepte diskutiert, alternative Strukturen in der ambulanten medizi-

nischen Versorgung einzuführen (16).

In diesen Debatten sahen Politiker und Experten der Bundesrepublik zu- mindest einige soziale Institutionen und soziale Leistungen der DDR auch als mögliche Vorbilder für not- wendige Reformen an.

Nach dem Zusammenbruch der DDR konnte es deshalb nicht über- raschen, dass zahlreiche gesund- heitspolitische Experten beider Staaten Vorschläge entwickelten, die zwar eine Reform des ostdeut- schen Gesundheitswesens vorsa- hen, aber keine unmodifizierte Übernahme der westdeutschen Strukturen. Nachdem sich eine schnelle staatliche Vereinigung ab- zuzeichnen begann, kamen Über- legungen hinzu, die Vereinigung zu einer umfassenden Reform des Ge- sundheitswesens in beiden deut- schen Staaten zu nutzen. So ent- wickelte die Gewerkschaft ÖTV 1990 Reformkonzepte unter Anleh- nung an das Gesundheitswesen der DDR (17). Allerdings stießen derar- tige Überlegungen im Westen über- wiegend auf heftigen Widerspruch.

Die in der DDR ambulant tätigen Ärzte waren gleichfalls für eine Re- form des Gesundheitswesens (18).

Allerdings muss auf die sehr unter- schiedlichen Zielvorstellungen der ostdeutschen Ärzte im Frühjahr 1990 verwiesen werden: Einerseits forderten sie, die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens der DDR in- tern zu klären. Auf der anderen Seite erwarteten die meisten Ärzte bereits sehr früh, dass Niederlassungen künftig in jedem Fall wieder erlaubt und ein Bestandteil einer kommen- den gesundheitlichen Versorgungs- struktur sein würden (19). Man kann davon ausgehen, dass die ambulant tätigen Ärzte der DDR in dieser Übergangsphase noch keine ein- heitliche Auffassung zum Erhalt der Polikliniken oder zur Einrichtung von Niederlassungen hatten (20).

Ende 1989 gab es in der DDR 5 248 Polikliniken. Für ihren Erhalt als ein typisches Strukturelement des ostdeutschen Gesundheitswe- sens sprach sich im Frühjahr 1990 noch eine Mehrheit aus, wohin- gegen nur eine kleine Minderheit der ambulant tätigen Ärzte in Ost- deutschland zur Niederlassung fest TABELLE 3

Reformwünsche ambulant tätiger Ärzte im März/April 1990 (Bezirk Halle)

Typen ambulant tätiger Ärzte In Prozent entschlossen Niederlassungswillige 9,8 bedingt Niederlassungswillige 28,0

bedingte Polikliniker 26,6

entschlossene Polikliniker 28,2

nicht einzuordnen 7,4

Gesundheitsförde- rung im Betrieb:

Werktätige des VEB Statron bei der Pausengymnastik, aufgenommen im September 1976

(4)

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 23⏐⏐5. Juni 2009 A1193 entschlossen war. Der Anteil derer,

die diesen Schritt entschieden ab- lehnten, war rund dreimal so groß.

Die Regierung Modrow hielt an der staatlichen Organisation des Gesundheitswesens als tragender Säule der medizinischen Betreuung in der DDR fest. Auch für den be- vorstehenden Prozess des Zusam- menwachsens beider deutscher Staaten sah sie in der „Dominanz des staatlichen Gesundheits- und Sozialwesens in der DDR […] ein unbedingt erhaltenswertes Ele- ment“. (21) Aber Ministerpräsident Hans Modrow musste sein ur- sprüngliches Konzept einer Reform der sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung unter Er- haltung der Eigenstaatlichkeit der DDR aufgeben. Angesichts des zu- nehmenden Verfalls der staatlichen Autorität, der Krise der Wirtschaft und der Finanzen und des Drucks der DDR-Bevölkerung auf die Ver- einigung mit der Bundesrepublik konnte er diese Forderung nicht länger aufrechterhalten.

Er sah seine Hauptaufgabe nun darin, ein in erster Linie vom Zen- tralen Runden Tisch ausgearbeite- tes, umfangreiches sozialpolitisches Programm im Rahmen einer Sozial- union in den gemeinsamen neuen Staat einzubringen. Dabei sollte das hohe Niveau der Sozialleistungen der Bundesrepublik mit der Garantie der sozialen Besitzstände der DDR- Bürger verbunden werden. Es ent-

sprach dieser Auffassung, dass Ge- sundheitsminister Thielmann sich dafür einsetzte, in die Formulierung der Sozialcharta über das Gesund- heitswesen ausdrücklich die Forde- rung nach einem „starken staatlich- kommunalen Bereich unter Nutzung und Ausbau effizienter Polikliniken und Ambulatorien“ und nach Ge- währleistung betriebsärztlicher Be- treuung aufzunehmen (22).

Die Sozialcharta wurde nach langwierigen Beratungen vom Zen- tralen Runden Tisch ausgearbeitet, von der Regierung der DDR akzep- tiert und am 7. März 1990 in der letzten Sitzung der alten DDR- Volkskammer angenommen. Sie sollte nach den Empfehlungen des Runden Tisches und dem Beschluss der Volkskammer als Standpunkt der DDR in die Verhandlungen über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und in die Diskussion um die künftige Verfassung einbe- zogen werden.

Seehofer: „Das faule Ei vom Runden Tisch“

Der Adressat der Sozialcharta war allerdings nicht mehr die Regierung Modrow, sondern die nach den Wahlen im März gebildete neue DDR-Regierung, die man damit auf die Vertretung eines umfassenden Programms sozialer Grundrechte sowie die Bewahrung und den Aus- bau der sozialen Besitzstände der DDR-Bürger festlegen wollte.

Die in der Volkskammer vorge- stellten Grundlinien einer Sozial- charta und die Standpunkte der DDR-Regierung zu sozialistischen Grundrechten im Sozialverband mit der Bundesrepublik präzisierten die sozialen Wunschvorstellungen des Runden Tisches und der DDR-Re- gierung (23). Die Einheit sollte auf dem „Wege eines wechselseitigen Reformprozesses beider deutscher sozialen Systeme“, die auf ein höhe- res soziales Sicherungsniveau zu führen seien, vollzogen und die so- zialen Besitzstände der DDR-Bür- ger behauptet sowie ihr persönli- ches Eigentum rechtlich geschützt werden (24).

Mit der Sozialcharta sollten die Eckpunkte für eine Sozialgesetzge- bung gesetzt werden, die die Ein- führung einer wirklich sozialen Marktwirtschaft ermöglichen wür- den. Allerdings machte das Pro- gramm keine Aussagen über die Fi- nanzierung. Faktisch erwartete man die Finanzierung des Programms von der Bundesrepublik. Entspre- chend heftig war dort die Reaktion, wobei man vor allem den Mangel an Realitätssinn monierte. Horst Seeho- fer, damals parlamentarischer Staats- sekretär im Bundesministerium für Arbeit, kritisierte in einem Zeitungs- artikel unter der Überschrift „Das faule Ei vom Runden Tisch“ (25), dass sich die Sozialcharta in weiten Teilen noch in den Denkstrukturen sozialistischer Luftschlösser bewe- ge, dass sie von einer überdimensio- nalen Rolle des Staates ausgehe und kein Verständnis für die Freiheit selbstverantwortlicher Unternehmer, für Sozialpartnerschaft und für den Vorrang des Leistungsprinzips im so- zialen Sicherungssystem aufbringe.

Diese Sozialcharta ist bei der Bundesregierung nie angekommen.

Sie war auch nie Gegenstand der Verhandlungen bei der Vorbereitung der staatlichen Vereinigung (26).

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2009; 106(23): A 1190–3

Dr. phil. Heidi Roth Historikerin in Leipzig E-Mail: dr.heidi.roth@t-online.de

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit2309

@

Die DDR-Betriebs- polikliniken sollten nicht zuletzt den Erhalt der Arbeits- fähigkeit der Werk- tätigen gewähr- leisten. Routine- untersuchung in der Betriebspoliklinik des VEB Schwer- maschinenbau Lauchhammer im Juli 1974

(5)

LITERATUR

1. Vgl. Jürgen Wasem, Vom staatlichen zum kassenärztlichen System. EineUntersu- chung des Transformationsprozesses der ambulanten ärztlichen Versorgung in Ost- deutschland, Frankfurt/New York, 1997, S. 39.

2. Gunnar Winkler (Hg.), Geschichte der So- zialpolitik der DDR 1945–1985, Berlin (Ost) 1989, S. 391.

3. Vgl. Jürgen Wasem, Von der Poliklinik in die Kassenarztpraxis: Versuch einer Re- konstruktion der Entscheidungssituation ambulant tätiger Ärzte in Ostdeutschland.

In: Max-Planck-Institut für Gesellschafts- forschung, Köln 1992/5, S.134.

4. Vgl. Wasem, Vom staatlichen zum kassen- ärztlichen System, S. 48.

5. Vgl. Analyse und Vorschläge, wie in Fort- führung der Gesundheitspolitik der Partei durch höhere Qualität und Effektivität der Arbeit die medizinische und soziale Be- treuung der Bevölkerung im Fünfjahrplan- zeitraum bis 1995 gesichert wird, vom 11.8.1989 (BArch, DQ 1, 12097, unpagi- niert)

6. Beitrag von Herbert Loos beim Workshop

„Transformation des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern“, veranstaltet vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitaris- musforschung im Sommer 2006 in Meißen.

7. Vgl. Gero Neugebauer, "Sozialcharta" kon- tra "Sozialreport". Entwürfe zu Wunsch und Wirklichkeit der DDR-Sozialpolitik. In:

ZParl 21 (1990), S. 146–8.

8. Vgl. Thielmann an den Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staats- rates der DDR, 7.11.1989 (BArch, DQ 1, 14919, unpaginiert)

9. Vgl. Thielmann an den Oberbürgermeister von Berlin (Ost), 5.2.1990 (BArch, DQ 1, 14919, unpaginiert)

10. Thielmann an Modrow, 21.1.1989 (BArch, DQ 1, 14919, unpaginiert)

11. Ebd.

12. Vgl. Wasem, Vom staatlichen zum kassen- ärztlichen System, S.21.

13. Vgl. Manfred G. Schmidt, Grundlagen der Sozialpolitik in der DDR. In: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd.

1, Baden-Baden 2001, S.750.

14. Vgl. Wasem, Vom staatlichen zum kassen- ärztlichen System, S. 51

15. Vgl. ebd.

16. Vgl. ebd.

17. Vgl. Gesundheitspolitische und beschäfti- gungspolitische Perspektiven der Gewerk- schaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), 5.6.1990 (BArch, DQ 1/14222, unpaginiert)

18. Vgl. Wasem, Vom staatlichen zum kassen- ärztlichen System, S. 122f.

19. Vgl. ebd., S. 123.

20. Vgl. Wasem, Vom staatlichen zum kassen- ärztlichen System, S. 124.

21. Thielmann an die Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, 28.2.1990. (BArch, DQ 1, 14919, unpaginiert)

22. Thielmann an die Ministerin für Arbeit und Löhne, H. Mensch, und die Hauptverant- wortlichen für die Ausarbeitung der Sozial- charta, 13.3.1990 (BArch, DQ 1, 14919, unpaginiert)

23. Vgl. Standpunkte der Regierung der DDR zu sozialen Grundrechten (BArch, DQ 3, 1884, unpaginiert)

24. Ebd.

25. Horst Seehofer, „Das faule Ei vom Runden Tisch. Sozialisten lernen nichts dazu“. In:

Bayernkurier vom 17.3.1990.

26. Vgl. Bundesministerium für Arbeits- und Sozialordnung (Hg.), Der Sozialstaat eint:

Zur sozialen Einheit Deutschlands - Ent- wicklungen und Eindrücke. Eine Aufzeich- nung von Hans-Ulrich Spree, Baden-Ba- den 1994, S. 36.

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 23/2009, ZU

1989/2009 – ZWANZIG JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

Deutsch-deutsche Gesundheitspolitik im Einigungsprozess (I)

Für kurze Zeit schien vieles möglich. Doch schneller, als von den meisten erwartet, wurden die bundesdeutschen Strukturen der ambulanten ärztlichen Versorgung auf die neuen Bundesländer übertragen.

Heidi Roth*

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