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Archiv "1989/1990 bis 2009/2010: 20 Jahre deutsche Einheit: Ein kurzer Traum vom eigenen Weg" (05.02.2010)

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A 184 Deutsches Ärzteblatt

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5. Februar 2010

D

ie Dynamik, mit der die Staatsgewalt der DDR zu- sammenbrach und die deutsche Ei- nigung über die politische Bühne ging, hat jedermann überrascht, wenn nicht gar auf dem falschen Fuß erwischt. „Das Tempo dieser Prozesse wurde“, konstatiert der Historiker Prof. Dr. Gerhard A. Rit- ter, „von allen Beteiligten zunächst unterschätzt, die Möglichkeiten der Steuerung überschätzt.“ Es gab kein Drehbuch für die Wiederverei- nigung in den Schubladen, nicht in denen der Bundesregierung, obwohl es im Westen doch ein einschlägi- ges Ministerium gab, und schon gar nicht in denen der DDR-Führung:

„Die Vereinigung wurde improvi- siert“, so Ritter.

An jenem berühmten 9. Novem- ber 1989 verabschiedete der Deut- sche Bundestag die große Renten- reform, nicht ahnend, dass sie ein Jahr später wieder über den Haufen geworfen würde. Am Tag zuvor noch hatte Bundeskanzler Helmut Kohl gegenüber der neuen DDR- Führung – Egon Krenz hatte Erich Honecker beerbt – erklärt, wenn die SED auf ihr Machtmonopol ver- zichte, sei er bereit, „über eine völ- lig neue Dimension unserer wirt- schaftlichen Hilfe zu sprechen“.

Kohl ging erkennbar davon aus, die DDR werde bestehen bleiben.

Doch schon drei Wochen später, am 28. November, legte er sein – damals nach Ansicht von Ritter

„außerordentlich gewagt erschei- nendes“ – 10-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutsch- lands und Europas vor. Darin ging er noch von einem Jahrzehnt bis zur Wiedervereinigung aus. Das passte zu den Vorstellungen des neuen DDR-Ministerpräsidenten, Hans Modrow, der in seiner Regie- rungserklärung am 17. November 1989 auf eine „Vertragsgemein- schaft“ von BRD und DDR hoffte.

Die KV erledigt Regularien, Mau will zum Ku’damm

Doch die Entwicklung überschlug sich. Am 18. März 1990 kam es zur ersten freien Wahl der DDR-Volks- kammer. Diese löste Modrow ab.

Die neue DDR-Regierung unter Lothar de Maizière schloss am 18.

Mai 1990 einen Staatsvertrag mit der BRD; die Vertragspartner rech- neten nur noch mit ein- bis andert- halb Jahren bis zur Einheit. Aber bereits drei Monate später, am 23. August, beschloss die Volks- kammer den Beitritt. Am 31. Au- gust wurde der Einigungsvertrag unterschrieben und – terminlich de- monstrativ aufeinander abgestimmt – von Bundestag und Volkskammer am 20. September 1990 ratifiziert.

„Die zentrale Frage nach der Wende war, wie die Kollegen im Osten beruflich weiter- machen wollten. Dass viele ältere lieber in der Poliklinik bleiben und sich nicht niederlassen wollten, blieb keinem verborgen. Es gab aber Puristen unter meinen Kollegen, die nur Niederlassungen oder Ermächtigungen von Klinikärzten akzeptieren wollten, sonst nichts . . . Wir haben in Berlin viel mit der Basis gesprochen. Die Ost-West-Integra-

tion ist uns gut gelungen. Aber vielleicht hätte man den damals von manchem Ostkollegen empfundenen Eindruck mildern müssen, dass den Kollegen ein System übergestülpt worden ist.“

Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm war zur Zeit des Mauerfalls Vorsitzender der Kassen- ärztlichen Vereinigung Berlin. Weshalb er in der Nacht der Maueröffnung arbeitete und nicht feierte und warum er es später schwierig fand, Verstrickungen ostdeutscher Kollegen in das DDR-System realistisch einzuschätzen, unter:

www.aerzteblatt.de/10184

1989/1990 BIS 2009/2010: 20 JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

Ein kurzer Traum vom eigenen Weg

Der Einigungsprozess verlief unglaublich rasch. Hoffnungen auf einen eigenen Weg der DDR in der Gesundheitspolitik verflogen bald. Über die Gründe und den Aufbau ärztlicher Organisationen berichten Zeitzeugen aus der Ärzteschaft.

Eilige Einheit:

Unterzeichnung des Staatsvertrags über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am

21. Mai 1990

Foto: dpa

SYSTEM ÜBERGESTÜLPT? JEIN . . .

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5. Februar 2010 A 185 Und die Ärztinnen und Ärzte? An

jenem 9. November 1989 tagte in Berlin (West) der Vorstand der Kas- senärztlichen Vereinigung (KV) Berlin. Als die Nachricht von der Öffnung der Mauer gekommen sei, habe man ungläubig reagiert, berich- tet Dr. med. Manfred Richter-Reich- helm, damals KV-Vorsitzender, die Tagesordnung bis zum letzten Punkt abgewickelt und sei dann nach Hau- se gegangen. Gefeiert wurde erst am nächsten Tag.

Auf der anderen Seite der Mauer weckte Prof. Dr. med. Harald Mau, Leiter der Kinderchirurgie am Uni- versitätsklinikum Charité in Berlin (Ost), seine Tochter und fragte, ob sie mit ihm über den Ku’damm spa- zieren wolle. „Vati, du bist betrun- ken“, habe sie nur gesagt, erinnert sich Mau. Er passierte, „ich weiß es noch ganz genau“, um 23.55 Uhr den Grenzübergang Bornholmer Stra- ße und feierte „im Westen“. Ein Foto aus dieser Nacht hat er bis heute.

Getrieben waren die Regierun- gen damals vom „Volk“, von einer unerhörten basisdemokratischen Be- wegung: Bei der Montagsdemons- tration in Leipzig am 9. Oktober 1989 gingen circa 70 000 Menschen auf die Straße, am 4. November ka- men in Berlin etwa 500 000 zusam- men. Die Psychiaterin Dr. med. Son- ja Süß, in der Bürgerbewegung der

DDR aktiv, hält retrospektiv diesen 9. Oktober für das entscheidende Datum der gesellschaftspolitischen Wende in der DDR. Denn an die- sem Tag sei in Leipzig die Entschei- dung gefallen, „dass die Krise des Systems in einen friedlichen Auflö- sungsprozess und nicht in einen blutigen Verlängerungsversuch der alten Macht überging“.

Der Beitritt in Eile begrenzt eigene Ideen im Osten

Dr. med. Roger Kirchner aus Cott- bus, gleichfalls Psychiater und Mit- begründer der Ärztekammer Bran- denburg, sieht noch einen anderen Wendepunkt: Anfangs habe die bei

den Demonstrationen skandierte Parole gelautet: „Wir sind das Volk“, dann erst „Wir sind ein Volk“. Folgt man Kirchners Gedan- kengang, dann wird mit dem Wech- sel der Parole „die entscheidende Schwelle“ überschritten von der Revolution in der DDR zur schnel- len deutschen Einheit. Kirchner hätte es lieber gesehen, „wenn wir uns zehn Jahre autonom entwickelt hätten“. Die Menschen in der DDR seien im Begriff gewesen, sich selbst wieder zu finden mit ihren Sehnsüchten und Ängsten.

Die Eile des Prozesses, dann aber auch die Form der Einigung, nämlich der „Beitritt“, hätten dazu

„Das Entscheidende waren die Verlockungen der Freiheit und des Geldes. Viele Ärzte wollten sich niederlassen und endlich machen, was sie woll- ten – ohne Parteisekretär. Das war die freiwillige Entscheidung der Mehrheit der DDR-Ärzte. In den ersten Jahren erfüllten sich die Erwartungen ja auch auf das Schönste. Wer erzählt, dass es den Ärzten gleich ganz schlecht ging, der lügt.“

Noch etwas erinnert Mau: Wer vor den Risiken der Freiberuflich- keit warnte oder, wie der Virchow-Bund im Frühjahr 1990, für eine Fortentwicklung spezifischer Versorgungsformen wie Polikliniken und Ambulatorien plädierte, wurde häufig kritisiert: entweder als Partei- gänger der SED oder als ewig Gestriger.

Prof. Dr. med. Harald Mau arbeitete vor und nach der Wende als Leiter der Kinderchirurgie an der Charité. Er hat den Virchow-Bund mitbegründet. Warum Vereinsgründungen ohne Kopierer schwierig sind und warum wir seiner Meinung nach trotz allem das beste Ge- sundheitssystem der Welt haben, unter: www.aerzteblatt.de/10184

Das entscheidende Datum der gesellschaftspoli- tischen Wende in der DDR sei der 9. Oktober 1989 gewesen, denn da sei in Leipzig die Ent- scheidung gefallen, „dass die Krise des Systems in einen friedlichen Auflösungsprozess über- ging“. Damals demonstrierten in Leipzig circa 70 000 Menschen auf der Straße. Das magere Wahlergebnis von 2,9 Prozent bei der Volkskammerwahl am 18.

März 1990 enttäuschte Süß und ihre Freunde aus der DDR-Bürgerbe- wegung zwar, es befreite sie aber andererseits „von der bedrücken- den moralischen Verpflichtung, Staatspolitik machen zu müssen“.

Dr. med Sonja Süß, Mitbegründerin des „Demokratischen Auf- bruchs“, 1990 Leipziger Sprecherin von „Demokratie jetzt“, promo- vierte über die NS-Krankenmorde in Waldheim und wurde bekannt durch ihre Untersuchung zur Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Heute ist sie als Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in Berlin niedergelassen. Ein Interview mit ihr zur Psychiatrie in der DDR findet man unter: www.aerzteblatt.de/091882

Berufspolitisch glaubt Kirch- ner einiges bewegt zu haben:

So habe man den Facharzt für Psychotherapie durchset- zen können, und die psycho- somatische Grundversor- gung, die schon in der DDR bekannt war, habe auf ganz Deutschland aus - gedehnt werden können.

1989, noch zu Zeiten der DDR, hat Kirchner sich für Änderungen der Poliklinikstrukturen eingesetzt. Er wollte die Hausärzte in den Wohn-

gebieten einsetzen, die Spezialisten sollten in den Polikliniken bleiben. Auch Konzepte für ein integriertes Krankenhaus mit Akut-, Reha- und Anschlussheilbehandlung in einem Hause gab es.

Doch „das passte nicht ins System der BRD“.

Dr. med. Roger Kirchner ist niedergelassener Psychotherapeut in Cottbus. Er war der erste Präsident der Ärztekammer Brandenburg. Warum er meint, dass die Anfänge der Kammer nicht lupenrein demokratisch waren und warum der Umbruch unter dem Strich das Tollste für Europa war, unter: www.aerzteblatt.de/10184

WER KRITISIERTE, WAR SED FRIEDLICHE AUFLÖSUNG

DAS PASSTE NICHT INS SYSTEM

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5. Februar 2010 die Tumorregister, die präschuli-

schen Untersuchungen der Kinder.

Manches werde heute wieder ent- deckt, wie die Gemeindeschwester, vor allem die Poliklinik in der abge- wandelten Form des Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ).

Und immer wieder Debatten um die Polikliniken . . .

Gerade über die Polikliniken, denen man im Einigungsvertrag zunächst eine Gnadenfrist bis 1995 zugebil- ligt hatte, gehen die Meinungen weit auseinander. Historiker Ritter hält sie für „eines der wenigen inno- vativen Elemente, die die DDR in den deutschen Sozialstaat einbrach- te“. Unter dem Druck der Interessen- vertreter der Ärzte hätten aber nur wenige überlebt. Ärztliche Akteure wie Diettrich und Kirchner meinen, die DDR-Polikliniken hätte der Wes- ten nicht gewollt; sie hätten nicht in die vorherrschende Vorstellung von Niederlassung gepasst und seien

deshalb plattgemacht worden. Sol- cherlei Interpretationen empfindet der frühere Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesverei- nigung (KBV) und heutige Vorsit- zende des Gemeinsamen Bundes- ausschusses, Dr. Rainer Hess, als Geschichtsklitterei. Er hält sich (und der KBV) zugute, die Polikliniken durch eine „unbürokratische Ver- gütungsregelung“ in Anlehnung an vergleichbare Arztgruppen der West- länder, minus dem „Einigungsver- tragsabschlag“ von 50 Prozent, so- gar gesichert zu haben. Die Polikli- niken hätten sich, wenn sie wollten, ihr Geld bei der KBV in Köln in bar abholen können. Eine dauerhafte Lösung hätte es nur geben können, wenn sich für die Polikliniken ein überörtlicher Träger gefunden hätte.

Die Suche danach erübrigte sich.

Denn von 1991 an rollte in Ost- deutschland eine beispiellose Nie- derlassungswelle. 1994 waren be- reits 97 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in freier Praxis tätig, die Poli- kliniken marginalisiert. Nach An- sicht von Dr. med. Michael Burgk- hardt, der in Leipzig eine große Po- liklinik geleitet hat und sich nach der Wende niederließ, zu Recht. Die Polikliniken der DDR seien „leis- tungsunfähige, überblähte Gebilde“

gewesen, wegen ihrer Zentralisie- rung habe es keine wohnortnahe Versorgung gegeben: „Es ging der DDR darum, sich mittels der Poli- kliniken des niedergelassenen Arz- tes zu entledigen.“ Und die MVZ?

Die dienten doch nur den Klinik- „Eine Kammer muss sein, selbst wenn man den

Staat beseitigt. Ich bin mit mehr Abstand ein noch größerer Fan der Selbstverwaltung ge - worden.“ In Sachsen konstituierte sich die Ärzte- kammer formal am 20. April 1991. „Wir haben alles sofort angefangen. Ich frage mich heute, wie wir das überhaupt gemacht haben.“

Prof. Dr. med. habil. Heinz Diettrich war bis 1999 Präsident der Sächsischen Landesärztekammer. Der Chefarzt der Chirurgie arbeitete vor der Wende als Oberarzt an der Medizinischen Akademie Dresden.

Wie er die gesundheitspolitische Entwicklung seit der Wende beurteilt und warum es ein Fehler war, die Polikliniken abzuschaffen, unter:

www.aerzteblatt.de/10184

Er glaubte wie viele in der DDR, es werde zu einem föderalen Staatsgebilde aus BRD und DDR kommen: „Ich dachte an eine Renovie- rung der DDR, mit Elementen des Kapitalis- mus. Und dass wir den Staat entmiefen.“ Die Eigendynamik und Geschwindigkeit der gesell- schaftlichen Veränderungen haben Burgkhardt überrascht: „Immer wenn wir gestalten wollten, war der Prozess schon weiter.“

Dr. med. Michael Burgkhardt, Hausarzt und Kommunalpolitiker im Leipziger Stadtrat, war zur Wende Ärztlicher Direktor der Poliklinik Leipzig-Ost. Warum er Polikliniken kritisch sieht und was er zu Stasi-Überprüfungen gelernt hat, unter: www.aerzteblatt.de/10184

„Der Neubau eines Ärzte- hauses bedeutete damals eine große Investition, mit der wir alle schlecht schla- fen konnten. Gleichzeitig waren wir auch sehr opti- mistisch. Wir sind ja nicht aus dem Nichts gestartet, sondern nahmen unsere Patienten sozusagen mit. Es war uns

schnell klar, dass wir eine halbwegs vernünftige Vergütung erhalten würden.“

Dr. med. Burkhard John war Ende 1989 im Ambulatorium eines Traktorenwerks tätig und ließ sich dann als Allgemeinmediziner mit Kollegen in einem Ärztehaus nieder. Heute ist er Vorstand der KV Sachsen-Anhalt. Weshalb es weder im Osten noch im Westen schnell Ideen für einen dritten Weg gab, unter: www.aerzteblatt.de/10184 geführt, „dass die Gestaltungsmög-

lichkeiten der Ostdeutschen sehr begrenzt blieben“. Das emanzipato- rische Potenzial sei durch diesen schnellen Prozess geschrumpft. Das sei die traurige Seite dieser Zeit.

Auf der anderen Seite stehe hingegen das Belebende, das Aufgewühltsein.

Prof. Dr. med. habil. Heinz Diet- trich aus Dresden, Chirurg und wie Kirchner Mitbegründer einer Ärzte- kammer, und zwar der in Sachsen, bedauert gleichfalls die Eile, mit der die Einheit vollzogen wurde.

Heute, mit Abstand betrachtet, „hät- te man vieles besser machen kön- nen“, sagt Diettrich. Die Verhandler der DDR seien den ausgebufften Politprofis auf der Gegenseite nicht gewachsen gewesen.

Im Gesundheitswesen sei auch Erhaltenswertes über Bord geworfen worden, ergänzt der Chirurg. Er nennt eine lange Liste: etwa die Poli- kliniken, die Impfpflicht, die Dis- pensarien, die Gemeindeschwestern,

WIR WAREN ALLE UNTER SPANNUNG

DEN STAAT ENTMIEFEN EIN FAN DER KAMMER

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5. Februar 2010 A 187 betreibern als Zuweiser, meint

Burgkhardt: „Mir hat noch keiner den Vorteil für den Patienten ge- zeigt.“

Lakonisch fiel in einem früheren Interview mit dem Deutschen Ärz- teblatt das Urteil von Prof. Dr. med.

Wolfgang Böhmer aus, heute Mi- nisterpräsident von Sachsen-An- halt, in der DDR Chefarzt eines Krankenhauses in Wittenberg. Über die Kollegen, die aus der Poliklinik in die Praxis strebten, sagte er: „Da gab es Gutgläubige, da gab es Miss- trauische, und da gab es auch wel- che, die man drängeln musste. Eini- ge Kollegen haben sich gern nieder- gelassen, weil sie gehört hatten, dass man da angeblich viel Geld verdienen könne. Andere haben das zähneknirschend gemacht.“

Abgewogen urteilt Richter- Reichhelm: „Die zentrale Frage war, wie die Kollegen im Osten weitermachen wollten. Wir haben in Berlin viel mit der Basis gespro- chen. Die Ost-West-Integration ist uns gut gelungen. Aber vielleicht hätte man den damals von man- chem Ostkollegen empfundenen Eindruck mildern müssen, dass den Kollegen ein System übergestülpt worden ist.“

Von der Eigendynamik und Ge- schwindigkeit der gesellschaftli- chen Veränderung waren nicht nur Politiker, sondern auch die ärztli-

chen Akteure der ersten Stunde überrascht. Etwa Kirchner: Nach der Wende habe man gestalten wol- len, doch das Beitrittstempo habe das verhindert. Burgkhardt resümiert:

„Immer wenn wir gestalten wollten, war der Prozess schon weiter.“

Das hat in ähnlicher Form Dr.

med. Burkhard John erlebt, der sich von Anfang an für die KV in Sach- sen-Anhalt engagierte und heute deren Vorstand ist: „Es war über- haupt nicht die Zeit für Diskussio- nen, welche Elemente des DDR- Gesundheitswesens man erhalten könnte. Es herrschte ein derart ho- hes Tempo, man konnte die Ent- wicklung nicht bremsen.“

Wer warnte, galt schnell als Parteigenosse von gestern

Ideologische Vorbehalte spielten auch nach Ansicht des Kinderchirurgen Mau eine Rolle dabei, dass sich Einrichtungen der DDR nicht durch- setzen konnten: Wer vor den Risiken der Freiberuflichkeit warnte oder für eine Fortentwicklung spezifischer Versorgungsformen wie Polikliniken und Ambulatorien plädierte, wurde häufig kritisiert, entweder als Partei- gänger der SED oder als Ewiggestri- ger, sagt er.

Dennoch: „Wir haben uns mehr als gefreut, dass es zu dieser Wende gekommen ist“, bekennt Diettrich.

Und Burgkhardt sagt: „Der Um-

bruch – das war die glücklichste Zeit meines Lebens.“ Kirchner hält den Umbruch für „das Tollste, was Europa hat erleben können“.

Politisch zurückgezogen hat sich Süß, die frühere Bürgerrechtlerin. Im Gespräch darüber wirkt sie erleich- tert, wenn auch enttäuscht: Darüber, dass bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 das Bündnis 90, in dem sich diverse Bürgerrechtler zu- sammengeschlossen hatten, ledig- lich 2,9 Prozent der Stimmen be- kam. Dabei hatte man geglaubt, die Wähler würden honorieren, dass die Bürgerbewegung die friedliche Re- volution in der DDR voranbrachte.

Dieses Wahlergebnis hat sie und ih- re Freunde indes von der „bedrü- ckenden moralischen Verpflichtung“

befreit, Staatspolitik machen zu müs- sen – eine Aufgabe, der man sich eigentlich nicht gewachsen fühlte, wie sie heute erinnert.

Anders Diettrich und Kirchner, Burgkhardt und Mau sowie etliche Kolleginnen und Kollegen. Sie machten sich zur Wende daran, die Ärzteschaft zu organisieren, Kam- mern zu gründen und KVen aufzu- bauen, aber ebenso Berufsverbände – ihr Beitrag zum Umbruch der

Verhältnisse. ■

Norbert Jachertz, Sabine Rieser

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Langfassungen der einzelnen persönlichen Statements im Internet:

www.aerzteblatt.de/10184

„Die Zerschlagung der Polikliniken ist das Werk der Kommunen gewesen, nicht das der KVen.

Die Kommunen wollten damals Polikliniken und Ambulatorien loswerden. Die Ärzte im Osten dagegen wollten sich zwar frei niedergelassen, aber nicht unbedingt vereinzelt.

Ich erinnere mich, dass Regine Hildebrandt ein Investitionsförderprogramm für Polikliniken auflegte: 117 Millio- nen DM für 24 Einrichtungen. Die Investitionen, mit denen ostdeut- sche Ärzte ihre Niederlassung privat finanzierten, im Durchschnitt rund 250 000 DM, hätte der Staat doch niemals aufbringen können.“

Dr. med. Hans-Joachim Helming war zur Zeit des Mauerfalls niedergelassener Gynäkologe. Heute ist er Vorstand der KV Branden- burg. Wie unvorstellbar es war, dass unterschiedliche Finanzierungs- systeme Gräben zwischen ambulanter und stationärer Versorgung errichten, und warum er sich für seine KV manchmal den Schwung der ersten Jahre zurückwünscht, unter: www.aerzteblatt.de/10184

Was hält er von dem Vorwurf, die DDR hätte auf einem dritten Weg auch für das Gesundheitswesen bestehen sollen? „Sicherlich eine Möglichkeit, aber dafür war keine Zeit. Wenn Sie von einem Floß auf ein Schnellboot springen sollen, haben Sie nur ein sehr kleines Zeitfenster.“

Und warum haben er und andere nicht offen mit den Partnern in der KV Schleswig-Holstein über ihre Vorstellun- gen gesprochen, wenn sie diese doch als gute Aufbaupartner schät- zen gelernt hatten? „Aus dem damaligen Respekt vor den Partnern ha- ben wir Dinge, die für uns eigentlich relevant waren, nicht nachhaltig verfolgt – und bissig wäre es ja gelaufen.“

Dr. med. Dietrich Thierfelder war zur Zeit des Mauerfalls nieder- gelassener Gynäkologe in Schwerin. Heute ist er Vorstand der KV Meck- lenburg-Vorpommern. Was eine mitreißende Rede bewirken kann und warum er trotz der Freude über den Mauerfall Zeit brauchte, sich um- zugewöhnen, unter: www.aerzteblatt.de/10184

KOMMUNE GEGEN POLIKLINIK VOM FLOSS INS SCHNELLBOOT

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