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Archiv "1989/90 bis 2009/10: 20 Jahre deutsche Einheit – Kleine Handlungsspielräume" (19.03.2010)

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Deutsches Ärzteblatt

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19. März 2010 A 489

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ir konnten natürlich viel mit unserer eigentlichen medizi- nischen Arbeit, mit der Dringlichkeit der Patientenbetreuung begründen.

Aber es gab trotzdem kaum Spielräu- me, wenn es zum Beispiel um grund- legende politische Äußerungen ging.

[. . .] Insofern war es aber oft akzep- tiert, wenn wir gesagt haben, unsere beste Aktivität für den Sozialismus ist eine gute Arbeit in der medizinischen Betreuung am Patienten, in der Lehre und in der Forschung.“ (1) Diese Meinung über persönliche Hand- lungsspielräume äußerte ein Profes- sor der Medizin während eines der zahlreichen Interviews mit ehema- ligen Universitätsangehörigen; mit diesen sollte anlässlich der Aufarbei- tung der Geschichte der Alma Mater Lipsiensis der akademische Alltag in der DDR erforscht werden (1).

Ungeschriebene Regeln Im Ergebnis der im Jahre 2008 ge- führten Zeitzeugengespräche ent- stand ein heterogenes Sample von Selbstzeugnissen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wieder- vereinigung Deutsch lands. Die ge- troffenen Aussagen spiegeln am Bei- spiel Leipzigs den akademischen Alltag in der DDR mit all seinen un- terschiedlichen Facetten wider. Sie führen unter anderem die damalige politische Einflussnahme durch SED und Staat sowie damit verbundene (begrenzte) Anpassungsleistungen von Akademikern in ihrer Vielfalt vor Augen. Dabei erwiesen sich die Befragten jedoch nicht nur als passiv Betroffene, sondern auch als aktiv Handelnde, welche die politischen und wissenschaftlichen Verhältnisse mitprägten.

Sicherlich war es nur eine Min- derheit von DDR-Bürgern, die sich

nie mit dem Regime abfand, bewusst ein zurückgezogenes Leben führte oder sich alternativen Lebensformen zuwandte. Eine noch kleinere Grup- pe versuchte, konkreten Widerstand zu leisten und die bestehenden Machtstrukturen zu verändern. Auf der anderen Seite gab es indes auch diejenigen, die an der Macht maß- geblich teilhatten und/oder sogar an Machenschaften des diktatorischen Regimes mitwirkten, die unmora- lisch waren und gegen Menschen- rechte verstießen. Die Mehrheit der Bevölkerung jedoch passte in keine dieser Kategorien. Dennoch blieb sie, insbesondere nach dem Mauer- bau, in das diktatorische System ein- gebunden. Angesichts dieser nicht zu ändernden Gesamtsituation er- sannen die meisten von ihnen des- halb individuelle Strategien, um die Prozeduren und Einschränkungen ihrer Verhältnisse durchzustehen.

Sie lernten die ungeschriebenen Re- geln, was sie wo und in welcher Form sagen konnten; viele hatten die Normen und den Diskurs des Re- gimes verinnerlicht, oder sie redeten und handelten wenigstens so, als ob

sie dies getan hätten. Die Verhaltens- weisen blieben jedoch jeweils unter- schiedlich: Manche ließen sich stär- ker beeinflussen und waren eher be- reit, sich anzupassen, Kompromisse zu schließen und Verpflichtungen einzugehen; andere wiederum waren ehrgeizig und ließen sich auf das System ein; wieder andere rekla- mierten für sich, die Dinge anders zu sehen als andere (2).

Alle Befragten beschrieben den politischen Einfluss von SED und Staat an der Leipziger Universität als nahezu allgegenwärtig. Dieser war jedoch zu bestimmten Zeiten und an einzelnen Institutionen des medizinischen Bereichs, der Natur- und der Geisteswissenschaften un- terschiedlich intensiv zu spüren.

Eine der wesentlichen Ursachen hierfür sahen die Interviewpartner darin, dass die Medizin wie die Naturwissenschaften weit weniger im Fokus der Parteikontrolle ge- standen hätten als die Mehrzahl der Geisteswissenschaften.

Der Großteil der Gesprächsteil- nehmer war aber auch davon über- zeugt, dass man sich innerhalb des damaligen Systems „bewegen“ und auch Kritisches zur Sprache brin- gen konnte. Man habe allerdings öffentlich keine Zweifel gegenüber

„dem Großen und Ganzen“ hegen dürfen. Da sei man schnell auf der Seite des „Feindes“ vermutet wor- den, gefolgt von unnachsichtigen Fragen, wie zum Beispiel: „Ist er/

sie würdig, an einer sozialistischen Universität zu studieren oder zu un- terrichten? Kann er/sie denn noch den Erziehungsauftrag wahrneh- men?“ Kritische Diskussionen gin- gen demnach nur so weit, dass der Verlust des Studien- oder Arbeits- platzes nicht riskiert wurde.

Kritik in Maßen möglich

Auch in den 1980er Jahren sei man nach wie vor vorsichtig gewesen, obwohl sich viele Universitätsange- hörige in diesem Zeitraum immer seltener Vorschriften hätten machen lassen. Vor allem unter Studierenden habe es seitdem offenere Debatten über existenzielle Probleme, etwa der Ökologie, gegeben. Dabei sei man zwar nach wie vor „als politischer Stimmungsmacher“ hingestellt wor-

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1989/90 BIS 2009/10: 20 JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

Kleine Handlungsspielräume

„Öffentlich duckten wir uns weg, taten das, was unbedingt

notwendig war“ – akademischer Alltag in der DDR im Spannungsfeld von Anpassung und Gegenwehr.

Francesca Weil

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19. März 2010 den; solange man aber keine Flug-

blätter gedruckt und verteilt habe, habe man keine Angst mehr haben müssen. Zahlreiche kritische Diskus- sionen liefen wohl eher informell ab.

Die kritischsten Debatten, vor allem im Zusammenhang mit Gorba- tschows „Perestroika“ und „Glas- nost“ ab 1985/86 erlebten manche SED-Mitglieder in den eigenen Par- teigruppen. Solche Äußerungen seien aber meistens „in der Hilflosigkeit dieser kritisch denkenden, diskutie- renden Gruppe abgeschottet im Raum“ verblieben. In diesem Zeit- raum habe es innerhalb der Universi- tät aber immerhin mehr Diskussions- freiräume als außerhalb gegeben.

Was hier teilweise gesprochen wor- den sei, hätte man in dieser Form an anderen Arbeitsplätzen nicht disku- tieren können. Deswegen habe es aber auch für eine Reihe von Univer- sitätsangehörigen (mehr als für ande- re Berufsgruppen) den Anschein ge- habt, durch Diskussionen etwas be- wegen und auch politisch verändern zu können, was sich jedoch letztlich als Trugschluss herausgestellt habe.

Erstaunlicherweise thematisier- ten die Interviewpartner nur verein- zelt den Verlust an Lebenszeit, der ihnen durch die erzwungene Teil- nahme an meist ausschließlich politisch-ideologisch ausgerichteten Veranstaltungen und durch die all- gegenwärtige „gesellschaftliche Ar- beit“ entstanden ist. Nur wenige pro- blematisierten ebenfalls das Ausmaß, in welchem sie vom Wohlwollen einzelner politischer Entscheidungs- träger abhängig waren. Rückbli- ckend empfinden es einige Ge- sprächspartner als besonders bedrü- ckend, dass Parteientscheidungen, die alle betrafen, hinter verschlos- senen Türen gefällt worden sind.

Man habe den Beschlüssen oft völ- lig hilflos und ohnmächtig gegen- übergestanden. Dass man daraufhin

„nur“ versucht habe, sich geschickt zu drücken und auszuweichen, quält manchen Interviewten noch heute. Andere wiederum erinnern sich der vom System gesetzten Grenzen unter einem anderen Blickwinkel. Sie erklärten, immer von dem Bestreben geleitet worden zu sein, diese Grenzen auszuweiten oder gar zu durchbrechen, um letzt-

Verlust an Le- benszeit durch erzwungene Teil- nahme an Veran- staltungen; hier ein FDJ-Aufmarsch zum 1. Mai 1973

Parteieintritts, der Übernahme von Funktionen, der Mitgliedschaft bei den Kampfgruppen und Ähnlichem zwar nicht zwangsläufig konkrete persönliche oder berufliche Nach- teile. Es war jedoch häufig nicht mehr mit der gewünschten akademi- schen Karriere zu rechnen. Man stand nicht (mehr) im „Kaderplan“, was für eine Reihe der hier Befrag- ten Stagnation in der beruflichen Entwicklung bedeutete. So erinnerte sich beispielsweise ein Arzt wäh- rend des Interviews, dass der Kader- leiter (Personalleiter) der Medizini- schen Fakultät nach seiner Habilita- tion in den 60er Jahren zu ihm ge- sagt habe: „Wissen Sie, Sie haben nun eine wissenschaftliche Qualifi- kation erreicht, aber das wird für Sie keine wesentlichen Folgen an der Universität haben. Die Ernennung zum Dozenten oder zum Professor sehen wir nicht, auch nicht in abseh- barer Zeit. Die Kaderentwicklung ist noch an weitere Voraussetzungen gebunden.“ In Hinblick auf die Be- rufskarriere seien damit für ihn „die Weichen gestellt“ gewesen. Fehlen- dem politischem Engagement folgte demnach das Ende der Karriere.

Innerhalb der vom System deter- minierten Grenzen boten sich den- lich das zu tun, was sie selbst für

richtig hielten oder ihnen Befriedi- gung verschaffte.

Nachteile bei Fehlverhalten In den Interviews wurde aber auch deutlich, dass jeder Befragte solche Grenzlinien und das eigene Maß an Anpassungsbereitschaft jeweils in- dividuell festlegte. Jeder wog für sich persönlich bei vielen Gelegen- heiten immer wieder ab, welche Grenzen überschritten werden konnten. Die Mehrheit wollte nicht auffällig werden und arbeitete zum Beispiel in der Gewerkschaft oder im sozialistischen Wettbewerb als Alibi mit. Die meisten Befragten wollten vor allem Situationen ver- meiden, die mit Sicherheit ernste Probleme für sie aufgeworfen hät- ten. Andererseits sei man auf man- ches, was einem abverlangt worden sei, nicht eingegangen; auch als Nichtgenosse habe man das eine oder andere machen können, was nicht konform gewesen sei. Bei be- stimmten Entscheidungen seien je- doch Konsequenzen von vornherein nicht auszuschließen gewesen: So folgten auf die Verweigerung des

Foto: Picture Alliance

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19. März 2010 A 491 noch für zahlreiche Universitäts -

angehörige Handlungsspielräume:

War man selbstbewusst, leistungs- stark und zugleich energisch, habe man „sich einen Raum erhalten“

können. Für die einzelnen Bereiche der Universität gab es offenbar auch markante Unterschiede, was Handlungsspielräume und deren mögliche Ausmaße anging. So sei es beispielsweise Mitarbeitern in den medizinischen Institutionen immer wieder gelungen, „Verhinde- rungen“ bei der politischen Arbeit mit der eigentlichen medizinischen Arbeit, mit der Patientenbetreuung zu begründen. „Wir vermochten uns oft mit unseren Aufgaben in der Medizin vor gesellschaftlichen An- forderungen zu schützen, weil wir sagen konnten: Für uns ist der Pa- tient das Wichtigste“, erzählte ein weiterer Arzt. Aber auch an der Me- dizinischen Fakultät hätten kaum Spielräume existiert, wenn es um grundlegende politisch-ideologische Äußerungen gegangen sei. Dabei konnten sich Handlungsfreiheiten im Laufe der Jahre nicht unmaß- geblich verändern. Von großen, aber auch sukzessive abnehmenden Freiräumen und von Möglichkei- ten, eine gewisse Individualität zu

leben, sprachen in erster Linie Uni- versitätsangehörige, die zu Beginn der zweiten Hälfte der 40er Jahre an der Leipziger Alma Mater zu studieren begonnen hatten. Andere Interviewpartner stellten fest, dass sich Handlungsspielräume erst in den 80er Jahren wieder nach und nach erweitert hätten.

Geborgenheit in Nischen In den Interviews kamen auch im- mer wieder die sogenannten Ni- schen der DDR-Gesellschaft zur Sprache: Für den einen existierten sie, für den anderen nicht; der eine benötigte sie, der andere nicht. Ei- ner Reihe von Interviewten er- schien die Universität Leipzig auf- grund ihrer Größe für die SED als nicht völlig „durchherrschbar“. Ein Arzt beschrieb seinen Eindruck fol- gendermaßen: „Die Universität Leipzig war mir immer deswegen sehr lieb, weil sie durch ihre schiere Größe unbeherrschbar war. Da gab es immer Nischen. Da konnte man

sich immer verdrücken. Wenn man nicht an die Öffentlichkeit oder sich nicht profilieren wollte, dann muss- te man sich auch politisch nicht sehr aus dem Fenster hängen.“ Auf- grund dessen gab es – nach Ansicht einiger Zeitzeugen – in dieser Insti- tution zu jeder Zeit „Nischen“, in- nerhalb derer es sich für viele un - beschwerter studieren, arbeiten und soziale Kontakte knüpfen wie pfle- gen ließ. So galten etwa bestimmte Institute als „Inseln“ oder „Refu- gien“; bei entsprechender personel- ler Zusammensetzung konnten auch Arbeits- oder Seminargruppen die- se Funktion erfüllen. „Insofern den- ke ich, dass – wie es in der DDR- Gesellschaft auf vielen Ebenen war – wir uns in dieser Seminargruppe auch eine soziale Nische schufen, die ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt hat. Öffentlich duckten wir uns weg, taten das, was unbe- dingt notwendig war. Die Rollen in der Gruppe waren zuverlässig ver- teilt. Insofern wussten wir uns in unserer Nische in dieser Seminar- gruppe ganz gut aufgehoben. Das mag paradox klingen. Aber die Le- benssituationen in autoritären Staa- ten sind vielschichtig [. . .]“, erin- nerte sich ein Medizinprofessor.

Trotz aller Unterschiede in den Anpassungsleistungen und den da- mit verbundenen Grenzen scheint allen Interviewten gemeinsam zu sein, dass sie sich gegen politische Anforderungen mit bestimmten Strategien zur Wehr setzten – je- doch meist nicht offensiv, sondern defensiv.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2010; 107(11): A 489–91

LITERATUR

1. Heydemann G, Weil F (Hg.): „Zuerst wurde der Parteisekretär begrüßt, dann der Rektor

…“, Zeitzeugenberichte von Angehörigen der Universität Leipzig (1945–1990), Leip- zig 2009. Dieses Zitat und die im Folgen- den angeführten direkt oder indirekt zitier- ten Aussagen stammen aus den Interviews mit ehemaligen Universitätsangehörigen.

2. Fulbrook M: Ein ganz normales Leben.

Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darm- stadt 2008: S. 309 ff.

Anschrift der Verfasserin Dr. phil. Francesca Weil Hannah-Arendt-Institut

Mommsenstraße 13, 01062 Dresden

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