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Archiv "20 Jahre Deutsche Einheit: Zweitklassige oder belastete Professoren kamen nicht zum Zug" (14.05.2010)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 19

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14. Mai 2010 A 923

D

ie DDR sei für ihn als Medi- zinstudent in München im- mer „weit, weit weg“ gewesen.

Trotzdem werde er manchmal als

„Vorzeige-Wessi“ bezeichnet, be- richtet Prof. Dr. med. Michael Stumvoll. „Auch die deutsche Wie- dervereinigung habe ich nur in Eng- land beim Billardspielen verfolgt und dann wieder ausgeblendet“, ge- steht Stumvoll beim Festsymposi- um der Universitätsmedizin Leip- zig im Sommer vergangenen Jahres anlässlich des 20. Jahrestages der friedlichen Revolution. Mittlerwei- le hat es Stumvoll, der ursprünglich in den USA arbeiten wollte, nicht in den Westen, sondern in den Osten verschlagen. „Bei meiner Bewer- bung 2004 hier in Leipzig war die Endokrinologie einfach perfekt auf- gestellt“, erklärt der heutige Direk- tor der Klinik und Poliklinik für En- dokrinologie und Nephrologie am Universitätsklinikum Leipzig seine Entscheidung, nach Ostdeutschland zu gehen.

An der Universität Leipzig, die im vergangenen Jahr ihren 600. Ge-

burtstag feierte, sowie an deren Me- dizinischer Fakultät hat sich in den Jahren nach der politischen Wende 1989 sehr viel verändert, sowohl personell und strukturell als auch baulich. „Die Universitätsmedizin Leipzig hat vor 20 Jahren das Glück der Rückkehr in die weltweite Wis- senschaftsgemeinschaft als einzig- artige Chance genutzt“, bestätigt Prof. Dr. med. Joachim Thiery, am- tierender Dekan der Medizinischen Fakultät Leipzig. Klinikum, Fakul- tät und vernetzte Leipziger For- schungsinstitutionen seien heute zu einem sichtbaren und attraktiven Wissenschaftsstandort geworden – auch international.

Erneuerung war notwendig Noch vor etwa 20 Jahren wehte je- doch an der Leipziger Fakultät ein völlig anderer Wind. „Ich habe die Mangelwirtschaft in der For- schung noch kennengelernt“, erin- nert sich Prof. Dr. med. Torsten Schöneberg, der erstmals als Schü- ler in Leipzig mit der Wissenschaft in Kontakt kam und von 1986 bis

1992 in Greifswald Medizin stu- dierte. „Man musste sich arrangie- ren, Lösungen finden“, sagt er.

„Aber diese Erfahrung möchte ich auch nicht missen. Was vor allem in der DDR fehlte, war die Triebkraft:

die Wertschätzung von Leistung und der internationale Austausch.“

Schöneberg ging nach der Wende als Postdoc in die USA („Dort ver- steht man es, die Triebkräfte zu mo- bilisieren.“). Nach seiner Rückkehr entschloss er sich, in der alten Hei- mat zu bleiben und bewarb sich schließlich 2003 auf eine C-4-Pro- fessur für Molekulare Biochemie an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. „Leipzig ist in- zwischen eine wissenschaftliche Boomtown und wissenschaftliche Wertschätzung ein hohes Gut an der Fakultät“, meint der heutige stell- vertretende Direktor des Instituts für Biochemie der Medizinischen Fakultät Leipzig. „Diese Triebkraft darf nicht veröden.“

Wie Stumvoll und Schöneberg prägen heute viele neue Hochschul- lehrer aus Ost und West, Nord und 20 JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

Zweitklassige oder belastete

Professoren kamen nicht zum Zug

Mittlerweile verwischen an den medizinischen Fakultäten die Unterschiede zwischen Ost und West. In Leipzig erinnern sich jedoch heutige und ehemalige Hochschullehrer aus alten wie neuen Bundesländern noch gut an die Zeit der „Wende“.

Erhielt nach der Wende auch bau- lich ein neues Ge- sicht: der Medizin- Campus Liebigstra- ße. An die Stelle der

1900 eröffneten Chirurgischen Klinik trat das 2003 in Be-

trieb genommene Operative Zentrum.

Fotos: Universität Leipzig

T H E M E N D E R Z E I T

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A 924 Deutsches Ärzteblatt

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14. Mai 2010 Süd das Gesicht der

Medizinischen Fakultät Leipzig. Dass die Fakul- tät nach der Wende personell erneu- ert werden musste, auch wenn dies für manche einen schmerzlichen Schnitt bedeutete, davon ist Prof.

Dr. med. Gottfried Geiler, Dekan der Medizinischen Fakultät der Uni- versität Leipzig von 1990 bis 1995, nach wie vor überzeugt. „Ein soge- nannter sozialverträglicher Wechsel hätte bedeutet, dass man eine große Gruppe von Hochschullehrern be- lassen hätte, die der alten Ideologie verhaftet waren. Dies hätte jedoch keinen geistig-moralischen Erneue- rungsprozess gebracht“, erklärt der heute 82-Jährige im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt.

Ein Blick auf den Alltag an den DDR-Universitäten verdeutlicht dies: Auch wenn es freiheitliche Nischen an den medizinischen Fa- kultäten gab, allein nach fachli- cher und wissenschaftlicher Kom- petenz wurden in der DDR keine Hochschullehrer ernannt. „Die Be- rufungen in der DDR waren ein- deutig SED-gesteuert“, bestätigt Geiler. Besonders mit der dritten Hochschulreform im Jahr 1968 habe der Ideologisierungsprozess des „real existierenden Sozialis- mus“ an Schärfe gewonnen und an den Universitäten wie den me- dizinischen Fakultäten schweren Schaden angerichtet. „Die gesam- te Berufungspolitik war sozialis- tisch geprägt“, berichtet Geiler auf dem Festsymposium zum Jahres- tag der friedlichen Revolution in Leipzig. „Es gab keine Berufungs- kommissionen oder öffentliche Ausschreibungen. Außerdem ran- gierte sowieso Parteizugehörigkeit vor fachlicher Kompetenz.“

Defizite in der Forschung An den neun medizinischen Fakul- täten der DDR lehrten 1989 etwa 1 000 Hochschullehrer. Sie alle mussten sich nach der Wende zu- nächst einer inneren Evaluierung an den Universitäten und Hoch- schulen unterziehen, bei der die Personalkommissionen die Vertrau- ensfrage stellten, und später der äu- ßeren Evaluierung durch die Lan- desregierung. Einige entzogen sich

auch einer eingehenden Überprü- fung, indem sie 1989 direkt die Hochschule verließen und eine ei- gene Praxis eröffneten oder eine Stelle in Westdeutschland oder im Ausland antraten.

Fakt ist: Nicht jeder Professor in der DDR war massiv belastet. Doch 40 Jahre SED-Herrschaft hatten bei der Auswahl der Hochschullehrer unbestreitbar deutliche Spuren hin- terlassen. „Die personelle Neuge- staltung erforderte viel Kraft, denn es herrschte an der Fakultät ein gro- ßes Ausmaß von Verunsicherung“, erklärt Geiler. 141 Hochschulleh- rerstellen schrieb er in seiner Amts- zeit als Dekan aus. Zudem leitete er für die Kollegen, die trotz fachli- cher Kompetenz während der DDR-Zeit nicht berufen worden waren, Berufungsverfahren zum außerordentlichen Professor ein.

Rückblickend ist Geiler, dem 2007 für seine wissenschaftlichen Ver- dienste sowie sein Engagement für den demokratischen Erneuerungs- prozess die Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät Leipzig verliehen wurde, zufrieden: „Es war ein schwieriger, aber notwendi- ger Erneuerungsprozess.“

Die Medizinische Fakultät Leip- zig erreichte in den ersten Jahren nach der Wende eine Flut von Be- werbungen, besonders aus den alten Bundesländern, Österreich und der Schweiz, aber auch aus den neuen Ländern. Bei den Berufungsverfah- ren hätten damals durchaus west- deutsche Kollegen größere Chan- cen gehabt als ostdeutsche, räumt Geiler ein. „Dies ist aber das Er - gebnis der DDR-Politik und nicht Schuld des neuen Systems.“ Zweit- oder drittklassige Westdeutsche sei- en nicht eingestellt worden, meint er. Der Grund für die hohe Rate der Berufungen aus Westdeutschland seien schlicht und einfach deren meist besseren wissenschaftlichen Leistungen gewesen. Dies ist nicht verwunderlich: „Im Bereich der Forschung haben bei den ostdeut-

schen Bewerbern einfach Defizite bestanden“, erklärt Geiler. „Sie wa- ren von internationalen Tagungen ausgegrenzt und somit wissen- schaftlich benachteiligt.“

In der Tat sind die wissenschaft- lichen Karrieren von Ärztinnen und Ärzten in der DDR in keiner Weise mit den Werdegängen im Westen zu vergleichen. Denn für die Ostdeut- schen war es nahezu unmöglich, wissenschaftlich einen internatio- nalen Standard zu erreichen. Die wenigsten waren sogenannte Reise- kader und hatten die Möglichkeit, internationale Kongresse und Ta- gungen zu besuchen. Bereits das Unterbringen einer Publikation war nicht frei von politischen Regle- mentierungen. „Was die klinisch- ärztliche Tätigkeit anbelangt, waren die ostdeutschen Bewerber jedoch mindestens vergleichbar gut, was

die Lehre anbetrifft, sogar meist besser“, resümiert Geiler. In Leip- zig stellte sich in den ersten Jahren nach der Wende schließlich ein per- sonelles Gleichgewicht ein, das von

„gegenseitigem Respekt geprägt war“, wie der gebürtige Leipziger es beschreibt. Als er sein Amt als Dekan der Medizinischen Fakultät Leipzig 1995 an seinen Nachfolger, Prof. Dr. med. Volker Bigl, über- gab, stammte etwa die Hälfte der neu berufenen Professoren aus den neuen Bundesländern, die andere Hälfte aus den alten.

Mittlerweile spielt es in Leipzig keine Rolle mehr, aus welchem Bundesland man kommt. „Es ist an vielen Stellen zu sehen, dass sich die Unterschiede zwischen Ost und West auflösen“, meint Thiery, Di- rektor des Instituts für Laboratori- umsmedizin an der Medizinischen Fakultät Leipzig. Auch er ist ur- sprünglich ein „Wessi“, geboren im Saarland, nur wenige Kilometer entfernt vom Geburtsort von Erich Honecker. Schmunzelnd erklärt er:

„Das ist so meine Verbindung zur

DDR.“ ■

Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann

Parteizugehörigkeit rangierte in der DDR oft vor

fachlicher Kompetenz.

Prof. Dr. med. Gottfried Geiler, Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig in den Nachwende-Jahren

Foto: Archiv

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