Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 23⏐⏐5. Juni 2009 A1165
S E I T E E I N S
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eine Flut von Gedenktagen wird in den kommen- den Wochen und Monaten an die Wiedervereini- gung erinnern. Hoffentlich nicht bis zum Überdruss.Denn die deutsche Einheit ist es wert, gewürdigt zu werden – weil sie Folge einer mutigen, im Sommer vor 20 Jahren einsetzenden Volkserhebung ist. Weil mit ihr Wünsche, ja Sehnsüchte nach Jahrzehnten des Wartens erfüllt wurden. Und: Erinnern ist nötig, weil inzwischen eine Generation herangewachsen ist, die die friedliche Revolution und den Einigungsprozess nur noch vom Hörensagen kennt.
Das Deutsche Ärzteblatt wird deshalb in einer in diesem Heft beginnenden Serie „20 Jahre deutsche Einheit“ nachzeichnen, konzentriert auf das Gesund- heitswesen und die Rolle der Ärzteschaft, aber ein- gebettet in die allgemeine politische Entwicklung bis heute. Der Schwerpunkt liegt auf den Umwälzungen, die die Ärztinnen und Ärzte in Ostdeutschland an- gestoßen und erlebt haben. Manchmal waren sie ihnen auch schlichtweg ausgesetzt, lief Wiedervereinigung doch zumeist darauf hinaus, auch im Gesundheits- wesen westdeutsche Verhältnisse auf die neuen Bun- desländer zu übertragen. Diese Übertragung folgte einem Muster, das im Einigungsvertrag angelegt war:
Die DDR trat der BRD bei. Das mag politisch konsequent gewesen sein. Bürgerrechtler der DDR empfanden den Beitritt eher als „Überrolltwerden“;
sie hatten an einen dritten Weg geglaubt. Doch räumte eine namhafte Bürgerrechtlerin und nunmehr nieder- gelassene Ärztin dieser Tage ein, der Beitritt sei das
„kleinere Übel“ gewesen, denn „angesichts der aktu- ellen Entwicklung in Russland danke ich dem Schöp- fer, dass ich als Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland leben darf“.
Die ostdeutschen Ärztinnen und Ärzte haben die vielfach gänzlich neuen, jedenfalls ungewohnten Um- stände mit bewundernswerter Gelassenheit angenom- men, die Auflösung der Poliklinken oder der Facham- bulanzen an den Krankenhäusern, den Bruch im Le- bensweg vielleicht auch nur hingenommen und sich mit Niederlassung, Selbstverwaltung, Honorar- und Tarif- politik angefreundet. Weil ihnen gar nichts anderes übrig blieb? Im Vertrauen, nicht über den Tisch gezogen zu werden? Mangels berufspolitischer Erfahrung, etwa wenn sie eigene ärztliche Vereinigungen kampflos westdeutschen Profis überließen?
Ärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen aus dem Westen haben demgegenüber nachdrücklich ihre Erfahrungen eingebracht und, in einigen neuen Ländern mehr, in anderen weniger, beim Aufbau der neuen Selbstverwaltungen geholfen. Gestaltet haben die Ärzte in den neuen Ländern indes selbst, und jetzt mischen sie kräftig in der Bundespolitik mit.
Die Krise im Gesundheitswesen trifft heute Ärzte in Ost wie West. Lücken in der ärztlichen Versorgung auf dem Land machen sich in den neuen Ländern, die nach 20 Jahren so neu nun auch wieder nicht sind, zwar be- sonders bemerkbar. Doch das ist weniger ein ostdeut- sches als ein strukturpolitisches Problem, und struktur- schwache Regionen gibt es auch im Westen. Kreative Lösungen sind gefragt. In Ostdeutschland deuten sich die an, sei es Schwester AGnES (auch wenn die nur notgedrungen geliebt wird), sei es die Auferstehung der Polikliniken in neuem Gewand.
Die versprochenen blühenden Landschaften sind nicht so schnell entstanden wie erwartet. Wer aber unvoreinge- nommen durch die nicht mehr neuen Bundesländer fährt und vergleicht, findet in Kliniken und Praxen ein Ge- sundheitswesen, das qualitativ seinesgleichen sucht. Das hatte – um der westlichen Nörgelei am teuren Aufbau Ost zu begegnen – seinen Preis. Doch mit dem Historiker Gerhard Ritter (dessen Buch „Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozial- staates“ die Lektüre lohnt) sei festgehalten, „dass der Preis für die Freiheit der Ostdeutschen und die Einheit Deutschlands nicht zu hoch war und es sich bei der Wiedervereinigung um eine der leider viel zu seltenen Sternstunden der deutschen Geschichte gehandelt hat“.
20 JAHRE DEUTSCHE EINHEIT
Trotz allem, eine Sternstunde
Norbert Jachertz
Norbert Jachertz freier Journalist