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Archiv "1989/2009 – 20 Jahre deutsche Einheit: Die Waldheim-Story" (25.09.2009)

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A 1882 Deutsches Ärzteblatt

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er Bahnhof von Waldheim, oben auf der Höhe hat schon bessere Zeiten gesehen: D-Zug-Sta- tion! Heute hält jede Stunde die Re- gionalbahn, 37 Minuten bis Chem- nitz. Die Schalter vernagelt, kein Taxi auf dem Vorplatz, der Bus fährt stündlich. Unten, entlang des Flusses die hübsche Stadt, die „Per- le des Zschopautals“. 8 500 Ein- wohner, vor der „Wende“ 10 500.

Vom Rathausturm fällt der erste Blick auf die jenseitige Anhöhe mit dem gewaltigen, von einer Ringmauer umgebenen Komplex der Justizvollzugsanstalt, des größ- ten Arbeitgebers am Ort. Das Zuchthaus gibt es seit 1716. Es wurde sprichwörtlich für harten Strafvollzug genutzt, Kindern wur- de gedroht: Wenn ihr nicht brav seid, kommt ihr nach Waldheim.

Seit 1950 ist „Waldheim“ auch In- begriff politisierter Justiz. „Wald- heim“ meint zudem eine dem Zuchthaus benachbarte psychiatri- sche Anstalt, in der während der NS-Zeit „Euthanasie“ praktiziert wurde und die 1990, nach der

„Wende“, verdächtigt wurde, der Stasi gedient zu haben.

Der Schlussakt der „Waldheimer Prozesse“ ging 1950 im Sitzungs-

saal des Rathauses über die Bühne:

10 Schauverhandlungen vor aus - gewähltem Publikum. Unter den Beobachtern Dr. Hilde Benjamin, Vizepräsidentin des Obersten Ge- richts der DDR, später Justizminis- terin, die „rote Hilde“. Benjamin hatte in Schnellkursen die Volks- richter ausbilden lassen, die in Waldheim ihren Bewährungsein- satz hatten.

Verhandlungen im 30-Minuten-Takt

Die Waldheimer Prozesse waren von der sowjetischen Militäradmi- nistration als Bewährungsprobe für die am 7. Oktober 1949 ausgerufe- ne DDR gedacht. Die Militärs woll- ten ihre Speziallager „liquidieren“.

Hier saßen Ende 1949 noch 13 945 Personen ein, die von Operativ- gruppen des Innenministeriums der Sowjetunion nach Kriegsende ge- fangen genommen worden waren.

10 513 dieser Lagerinsassen waren bereits verurteilt, 3 432 noch nicht.

Das sollte die DDR besorgen. Die Staatsführung ließ alle Häftlinge nach Waldheim transportieren. Der junge Staat wollte dort demonstrie- ren, dass er ein für allemal mit dem Faschismus abrechne.

Die meisten Prozesse fanden nicht im Rathaus vor Publikum, sondern oben auf der Höhe, im frei geräumten Häftlingskrankenhaus, hinter verschlossenen Türen statt.

Zwischen dem 21. April und dem 29. Juni 1950 wurde hier buch - stäblich kurzer Prozess mit Tausen- den „Nazi- und Kriegsverbrechern“, so der offizielle Terminus der SED, gemacht. 1 366 Angeklagte wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Die Ver- handlungen im 30-Minuten-Takt, ohne Verteidigung und Zeugen, ähnelten Standgerichten. 32 Todes - urteile wurden gefällt, 24 davon nach vergeblicher Berufung in der Nacht zum 4. November 1949 im Keller des Neuen Zellenhauses, des

„Bremen“, vollstreckt, die Toten verbrannt.

Einer der Hingerichteten war Dr.

med. Gerhard Wischer. Er starb zu- fällig am Ort seiner Taten: Gegen- über des „Bremen“ lag die Heil- und Pflegeanstalt Waldheim, in der Wischer von 1938 bis Kriegsende amtierte, wenn er nicht gerade für die Krankenmordaktion T4 als Gut- achter unterwegs war. In der An- stalt, die nicht zum Zuchthaus ge- hörte, aber merkwürdigerweise auf 1989/2009 – 20 JAHRE DEUTSCHE EINHEIT

Die Waldheim-Story

Von Nazis und Antifaschisten, Stasi und Psychiatrie

Foto: Norbert Jachertz

Blick von oben auf die „Perle des Zschopau tals“

im Freistaat Sachsen

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dessen Gelände lag, waren psy- chisch kranke oder geistesschwa- che Straftäter untergebracht, eine in der NS-Zeit doppelt stigmatisierte Gruppe. Unter Wischers Ägide wurde sie ausgelöscht.

Wischer gutachtete drei Jahre lang für die T4-Krankenmordakti- on, welche Behinderten umzubrin- gen waren. Aus seiner Waldheimer Heil- und Pflegeanstalt wurden 1940 und 1941 insgesamt 1 503 Pa- tienten „in eine andere Anstalt ver- legt“, wie die T4-übliche Floskel für den Transport in eine der Tötungsanstalten lautete. Wischers Haus fungierte als „Zwischenan- stalt“ für Pirna-Sonnenstein, das heißt, Wischer hatte dafür zu sor- gen, dass der Nachschub für die Gaskammer und die beiden Ver- brennungsöfen auf dem Sonnen- stein so lief, dass die Kapazitäten stetig ausgelastet waren.

Als die „Aktion T4“ nach Protes- ten 1941 endete, stellte sich auch Wischers Anstalt um. Mithilfe des Luminalschemas nach Nitsche, je- nem renommierten Psychiater und zeitweiligen T4-Chef, wurden die Patienten auf Station zu Tode ge- bracht. In Wischers Anstalt starben zwischen 1940 und 1945 mehr als 800 Patienten, wahrscheinlich an einer Kombination aus Verhungern- lassen und Medikamenten. So be- stellte Wischer am 13. September 1943 auf Privatbogen bei Prof. Dr.

Paul Nitsche in Berlin „zunächst einmal 100 Ampullen Evipan zu je 1,0 g und 3 000 Tabl. Luminal zu je 0,3“, zu senden an seine Privat- anschrift. „Ich rechne“, so Wischer an Nitsche, „mit einem monat li- chen Durchschnitt von 20 bis 30 be- handelten Patienten; irgendwelche Schwierigkeiten sind bisher weder beim Personal noch von Seiten der Angehörigen aufgetreten.“

Wendepunkt bei der Ahndung von NS-Unrecht in der DDR Wegen der „Tötung von Kranken“

wurde Wischer 1945 von einer der operativen Gruppen des sowjeti- schen Innenministeriums, die die Besatzungszone systematisch durch- kämmten, verhaftet und in den „Spe- ziallagern“ Nr. 1 (Mühlberg an der Elbe) und Nr. 2 (Buchenwald) fest-

gesetzt. Er wirkte dort als Lagerarzt und soll den Häftlingen ein guter Arzt gewesen sein. 1950 dann das Todesurteil in Waldheim. Neben Wi- scher wurden in Waldheim ein wei- terer Arzt und vier Pfleger(innen) wegen der Ermordung Behinderter zu langen Freiheitsstrafen verurteilt.

Es sollen dort insgesamt 30 Ärzte angeklagt gewesen sein, deren Iden- tität aber bisher nicht völlig geklärt werden konnte.

Die Waldheimer Prozesse hatten ein denkwürdiges juristisches Nach- spiel. Das (West-)Berliner Kam- mergericht erklärte nämlich 1954 die Waldheimer Urteile für „absolut und unheilbar nichtig.“ Die Verur- teilten seien „so zu behandeln, als ob kein gerichtliches Verfahren ge- gen sie durchgeführt worden ist, das heißt, sie gelten als nicht verur- teilt“. Deshalb muss auch Wischer als nicht verurteilt gelten, wenn er auch wegen seiner Untaten exeku- tiert wurde. Das Bezirksgericht Dresden hat 1991 die „deklara- torische Aufhebung“ der Urteile zwar bestätigt, aber hinzugefügt:

„Die Feststellung, dass die von den Waldheimer Urteilen Betroffenen nicht rechtswirksam verurteilt sind, beinhaltet nicht die weitere Fest- stellung, dass somit auch deren Unschuld erwiesen sei.“

Waldheim war ein Wendepunkt bei der Ahndung von NS-Unrecht durch die DDR-Justiz. „Nachdem

die SED nach den Waldheimer Mas- senprozessen einen Schlussstrich un- ter das Kapitel NS-Verbrechen und Entnazifizierung gesetzt hatte und der Kalte Krieg begann, verringerten sich die Bemühungen um eine juris- tische Strafverfolgung“, resümiert die Historikerin Petra Schweizer- Martinschek. Sie untersucht die Strafverfahren, die in Ost und West wegen NS-„Euthanasie“-Verbrechen geführt worden sind. Das waren 22 vor ostdeutschen und 23 vor west- deutschen Gerichten.

In der Tat, vor „Waldheim“ kam es in der Sowjetischen Besatzungs- zone (SBZ) und der jungen DDR zu 18 Prozessen, durchweg mit drasti- schen Strafen. Der wohl bedeutends - te war der Dresdener Sonnenstein- Prozess (1947), in dem unter ande- ren Nitsche zum Tode verurteilt wur- de. Ungeklärt bleibt, wie viele Ärzte, die der „Euthanasie“ oder Men- schenversuche verdächtigt wurden, unmittelbar nach dem Krieg er- schossen oder in sowjetische Lager verbracht wurden, stellt Anna-Sabi- ne Ernst in ihrer Untersuchung über Mediziner in der SBZ/DDR 1945 bis 1961 fest. Nach „Waldheim“ kam es in der DDR bis 1952 noch zu vier Prozessen wegen Krankenmords, doch Anfang der 50er-Jahre habe man in der DDR die Verfolgung von NS-Verbrechen als abgeschlossen betrachtet, vermerkt Ernst. Aller- dings ergänzt sie: „Skandalöse Frei- sprüche von angeklagten NS-Ärzten wie im Westen kamen freilich nicht vor.“ Das entsprach auch der offi- ziellen Linie der SED, gegen Fa- schisten Härte zu beweisen.

Man konzentrierte sich fortan darauf, „Euthanasie“-Täter im Wes- Psychiatrie in

Waldheim 1990:

Eine Untersuchung förderte erschre-

ckende Miss -

stände zutage. Fotos: Jürgen Kunstmann

Nach Waldheim konzentrierte man

sich vor allem darauf, „Euthanasie“-

Täter im Westen bloßzustellen.

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ten bloßzustellen. Bis auf eine Aus- nahme: Einem der T4-Chefs, dem Psychiater Prof. Dr. med. Werner Heyde alias Dr. Sawade, sollte 1964 vor dem Landgericht Limburg an der Lahn, im Westen also, der Pro- zess gemacht werden. Bereits bei den Prozessvorbereitungen waren peinlicherweise auch vier Mittäter aufgefallen, die in der DDR veror- tet wurden, darunter Wischer aus Waldheim – der aber war ja tot –, bei zwei weiteren verliefen sich die Ermittlungen. Gegen den Vierten, Dr. med. Otto Hebold, der in den Tötungsanstalten Bernburg und Sonnenstein gewirkt hatte, war ein Verfahren unvermeidlich. Das zu- ständige Bezirksgericht Cottbus – Hebold arbeitete zuletzt als Leiter eines Landambulatoriums in Fal- kenberg/Elster – verurteilte ihn 1965 zu lebenslanger Haft. Der Prozess wurde fast verschämt geführt, war doch offiziell der Faschismus aus- gerottet. Über das Urteil wurde die Öffentlichkeit mit einer 32-Zeilen- Meldung in der Lausitzer Rund- schau informiert. Das war’s.

Der Prozess gegen Heyde im Westen, der den Fall Hebold ausge- löst hatte, kam letzten Endes nicht zustande. Heyde nahm sich vier Ta- ge vor Verhandlungsbeginn das Le- ben. Die Heyde/Sawade-Affäre habe

„keine öffentliche Diskussion über ethische und moralische Eckpunkte der damals noch jungen Bundesre- publik ausgelöst“, bedauert der Ju- rist Klaus-Detlev Godau-Schüttke:

„Eine Katharsis fand nicht statt.“

Das Ministerium für Staatssicher- heit (MfS) hatte zur Zeit des He- bold-Prozesses längst einen Weg ab- seits der Justiz gefunden. Es sam-

melte in einem „NS-Archiv“ Belas- tungsmaterial und behielt es für sich, um es für Erpressungen zur Hand zu haben oder um es aus dem Verkehr zu ziehen, ehe bekannt wurde, dass Ärzte, die unter den Nazis aktiv wa- ren, auch in der antifaschistischen DDR beschäftigt wurden. So ver- schwand der Operativvorgang „Aus- merzer“, in dem die MfS-Dienststel- le Gera Material gegen einen Arzt und zwei Ärztinnen der Anstalt Stadtroda gesammelt hatte, 1966 im Archiv. Denn eine der Observierten, Prof. Dr. med. Rosemarie Albrecht, war hoch gestiegen und musste ge- schützt werden, weil sie noch ge- braucht wurde.

Politische Säuberung nach 1945 scheiterte

Einer, der auch gebraucht wurde, war Dr. med. Johannes Kuniß. Er hatte in der Nazizeit in der Anstalt Zschadraß gearbeitet und war zeitweilig zu Wischer nach Waldheim abgeordnet worden; die Orte liegen nah bei - einander. Zschadraß aber war wie Waldheim Zwischenstation für die Mordanstalt auf dem Sonnenstein.

Nach vier Jahren sowjetischer Lagerhaft konnte Kuniß in Wald- heim wieder anfangen zu arbeiten;

er blieb, allseits geschätzt, bis zur Pensionierung. Denn Ärzte waren in der SBZ und frühen DDR knapp, unbelastete sogar rar. Die Zentralverwaltung Gesundheit der SBZ gestand jedenfalls schon 1948 ein, dass es nicht gelungen sei, die ehemaligen Nazis unter den Chef- ärzten „in stärkerem Maße zu eli- minieren“. In der Tat, so resümiert Anna-Sabine Ernst: „Gemessen an den anfänglichen hohen Ansprü-

chen muss die politische Säube- rung bei den Medizinern als ge- scheitert gelten.“

Mit einer Enthüllungsstory kam die Illustrierte „Stern“ im Frühjahr 1990 heraus, kurz nach der „Wen- de“, als sich so mancher Westler neugierig, ahnungslos und vor - eingenommen in den unbekannten Osten aufmachte. Unter der Schlag - zeile „Wo die Stasi foltern ließ“ be- richtete die in Westdeutschland sehr bekannte, so geschätzte wie an - gefeindete Journalistin Uta König über die Nervenklinik, die inzwi- schen als Abteilung der nahe gele- genen Großanstalt Hochweitzschen firmierte. Deren Chefarzt, Dr. med.

Wilhelm Poppe, war nebenbei auch für die Waldheimer Nervenklinik zuständig, einmal die Woche, für fünf Stunden und 200 Patienten.

Was hatte es mit der „Psychofol- ter“ im „Stasiknast“ nun auf sich?

Uta König war von einigen jungen Mitarbeitern der Waldheimer Ner- venklinik auf acht Patienten ange- sprochen worden; die Mitarbeiter vermuteten politische Zusammen- hänge bei der Einweisung. Eine vom DDR-Gesundheitsminister ei- lends eingesetzte Untersuchungs- kommission überprüfte zwischen Mai und Juni die Fälle, eine weite- re, eingesetzt von der ersten frei ge- wählten Volkskammer, widmete sich im Oktober 1990 erneut den Vorgängen. Deren Berichte ließen auf drei Unterbringungen mit einem gewissen politischen Hintergrund schließen, bestätigte der Dresdener Psychiater Dr. med. Herbert Loos bei einem Workshop 2006 in der Sächsischen Landesärztekammer.

Loos hatte 1990 eine der Unter - suchungskommissionen geleitet.

Zwei dieser Fälle kamen unter di- rekter Mitwirkung des MfS zustan- de, ein weiterer betraf einen Sport- funktionär, der zeitweilig interniert wurde, um ihn vom Turn- und Sportfest 1983 in Leipzig fernzu- halten; man befürchtete, er werde wegen einer psychotischen Episode die Veranstaltung stören. Die bei- den Fälle, in denen die Stasi nach- weislich mitmischte, betrafen zum einen einen Stasizuträger, der sich als Alkoholiker entpuppte und dem die Stasi eine „gesicherte Unter- Der Bereich

der vorbildlichen Sauberkeit endete an der Pforte zur Waldheimer Psychiatrie.

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25. September 2009 bringung“ verpassen wollte, zum

anderen einen Mann, den die Stasi vermutlich erpressen wollte. Er wurde in der Isolierzelle der Wald- heimer Nervenklinik buchstäblich

„eingebunkert“, vom MfS inner- halb und außerhalb der Klinik stun- denlang verhört und nach drei Wo- chen wieder entlassen, weil die Be- weisführung für eine Anklageerhe- bung nicht ausgereicht habe. Ein medizinisch/psychiatrischer Grund für die Einweisung war nicht zu er- mitteln. Ein eindeutiger Missbrauch der Psychiatrie, stellten die Unter- suchungskommissionen fest.

Einen Missbrauch der Psychiatrie wie in der Sowjetunion habe es in der DDR jedoch nicht gegeben, re- sümiert Sonja Süß in ihrem Stan- dardwerk über Psychiatrie und Stasi.

Die DDR habe eine elegantere Lö- sung für ihre Probleme mit Dissi- denten gehabt, erklärt Süß mit leich- ter Ironie: „Sie konnte unbequeme Kritiker in die Bundesrepublik ab- schieben und dafür auch noch be- trächtliche Geldsummen kassieren.“

Bei der Untersuchung der Wald- heimer Zustände stellten sich 1990

indes erschreckende Missstände heraus: erbärmliche Unterbringung der Patienten, Übergriffe des Pfle- gepersonals, eigenwillige Behand- lungsmethoden – Hirnoperationen und Kastrationen – des Chefarztes Poppe und willkürliche Isolierung von Patienten im „Bunker“.

Poppe wurde wegen der eigenar- tigen Operationen und der extensi- ven Isolierung von Patienten 1993 angeklagt und nach einigem Hin und Her 1998 freigesprochen. Ihm sei nicht zu widerlegen gewesen, aus medizinischen Gründen gehan- delt zu haben. „Dass Dr. Poppe un- gestraft körperverletzende Behand- lungsmethoden an wehrlosen Pa-

tienten und Patientinnen praktizie- ren konnte“, erklärt Süß damit, dass es in der DDR an öffentlicher Kon- trolle gefehlt habe. Eine zweite Schlangengrube vom Kaliber der Waldheimer Anstalt habe es jedoch, davon ist Süß überzeugt, in der DDR nicht gegeben, wenn auch die Betreuungsbedingungen in vielen psychiatrischen Einrichtungen mi- serabel gewesen seien.*@

Die Kommission der DDR- Volkskammer fand schließlich noch heraus, dass Poppe als inoffizieller Mitarbeiter (IM) Seidel der Stasi- kreisstelle in Döbeln zugearbeitet hatte, auch unter Bruch der Schwei- gepflicht. Es mag sein, dass die Einweisungen, bei denen das MfS mitmischte, auch diesem Zusam- menspiel zu verdanken sind.

Hinter den Mauern der Strafan- stalt Waldheim war die Stasi ständig präsent. Sie hatte ein Büro im Haus und „natürlich auch ihre Zuträger“, auch hatte sie „jederzeit Zutritts- recht“, weiß ein Kenner der Verhält- nisse. Aber nicht im Krankenhaus, versichert der frühere Gefängnisarzt Dr. med. Siegfried Hillmann, „hier mussten sie sich vorher anmelden“.

Gemeint ist das Haftkrankenhaus, nicht zu verwechseln mit Wischers Heilanstalt oder Poppes Nervenkli- nik. Das Haftkrankenhaus knüpfte an eine ältere Tradition an, denn schon 1876 wurde die „Irrenanstalt bei der Strafanstalt Waldheim“ ge- gründet. Anfang der 60er-Jahre bau- te Dr. med. Manfred Ochernal eine psychiatrische Beobachtungsabtei- lung in Waldheim auf. Hier kam es ganz offiziell zu Einweisungen durch das MfS, denn das MfS war nach DDR-Recht ein staatliches Un- tersuchungsorgan und vergab somit auch Gutachtenaufträge an Ärzte, so auch an die Waldheimer Psychiatrie im Strafvollzug. Ochernal wechselte später als Professor für Forensische Psychiatrie an die Berliner Hum- boldt-Universität und gab jährlich 30 bis 40 Gutachten über politische Häftlinge im Haftkrankenhaus des MfS in Berlin-Hohenschönhausen ab. 1991 wurde er interviewt, wieder- um von Uta König im „Stern“. Sie warf ihm vor, mit seinen Gutachten politisch unbequeme Bürger, die nicht geisteskrank gewesen seien, in

die Psychiatrie gebracht zu haben.

Ochernal, dem die harten Interview- Usancen offenbar nicht bekannt wa- ren, beging den Fehler, den Vorwurf nicht sofort kategorisch zurückzu- weisen. Und so blieb etwas hängen, wenn auch Ochernal selbst der Über- zeugung war, korrekt begutachtet und differenziert geurteilt zu haben.

Waldheim heute. Vom Nieder- markt zieht die Straße in einer wei- ten Kurve steil aufwärts. Sie führt entlang der Ringmauer, die neuer- dings mit Bruchstein hübsch ver- kleidet ist, auf den Schlossplatz.

Links das barocke Torgebäude der Justizvollzugsanstalt, rechts eine Grünanlage. An der Stelle muss einmal das Gebäude gestanden ha- ben, das für die Waldheimer Pro- zesse freigeräumt wurde und später die im „Stern“ porträtierte Nerven- klinik beherbergte.

Die wechselvolle Geschichte der Strafanstalt schildert ein unge- wöhnliches Strafvollzugsmuseum.

Erinnerungen an den ehemaligen Insassen Karl May sind da genauso versammelt wie Ergebnisse der Kunsttherapie von heute. Die psy- chiatrische Heilanstalt, Wischers Wirkungsstätte, wurde aufgelöst, das Haus dient heute der Sozialthe- rapie, nichts erinnert an die NS- Morde. Das Gebäude außerhalb der Mauer wurde abgerissen. Es sei baufällig gewesen. Dem Besucher kommen die erschreckenden Bilder in den Sinn, die ein Fotograf von der heruntergekommenen Nerven- klinik gemacht hat.

In der Grünanlage vor der Justiz- vollzugsanstalt erinnern ein Gedenk- stein und eine Tafel an die unschuldi- gen Opfer der Waldheimer Prozesse.

Die Betonung liege auf unschuldig, erklärt Dr. Hillmann, der sich um das Opfer-Gedenken bemüht. Denn bei den Waldheimer Prozessen seien auch wirklich Schuldige verurteilt worden. Hillmann erinnert an Wi- scher. Doch weder auf der Gedenk - tafel noch sonst wo in Waldheim fin- det man Hinweise auf die Kranken- morde in der NS-Zeit. „Warum ist das so?“, fragt Hillmann. ■

Norbert Jachertz

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Das Interview mit Sonja Süß im Wort- laut unter www.aerzteblatt.de/091882 Eine Erinnerung an

die Waldheimer Pro- zesse gibt es, einen Gedenkstein für die Opfer der NS-Kran- kenmorde sucht man vergeblich.

Foto: Norbert Jachertz

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