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Archiv "Ärzte und Soziologen auf der Suche nach einer gemeinsamen Basis" (13.02.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

TAGUNGSBERICHT

An ein ebenso umstrittenes wie ak- tuelles Thema wagte sich der Ver- band der niedergelassenen Ärzte Deutschlands (NAV) zum Auftakt seiner Bundeshauptversammlung Ende November 1974 im Kölner Gürzenich heran: Das Thema: „Der Begriff des Sozialen in der Medi- zin" sollte im Rahmen einer Po- diumsdiskussion ausgelotet wer- den.

Bereits zu Beginn dieses Unterfan- gens wies der wiedergewählte NAV-Bundesvorsitzende Dr. med.

Kaspar Roos darauf hin, daß das Diskussionsthema als ein „Ver- such" gewertet werden müsse, von dem man von vornherein nicht ge- nau wisse, ob etwas Spektakuläres oder etwas längst Bekanntes dabei herauskomme. „Es wird vielleicht einmal die Bundeshauptversamm- lung 1974 des NAV in der Ge- schichte unseres Verbandes unter dem Stichwort der Polarität, nicht nur was den Begriff des Sozialen in der Medizin angeht, laufen", mein- te Dr. Roos zum Auftakt der Dis- kussion und stellte fest, wie sehr die Definition des Sozialen eine Rolle bei dem Versuch spiele, die von der Ärzteschaft stets unter- stützte Gesellschaftsbezogenheit ärztlicher Berufsausübung in Frei- heit zu vertreten.

Das Verhältnis von Medizin und Soziologie

Um das Ergebnis des Schlagab- tauschs zwischen Soziologen und Ärzten vorwegzunehmen: Es ging

weniger um die Erörterung der Standortbestimmung des Sozialen in der Medizin, sondern vielmehr um das stets schwierige Verhältnis zwischen Medizin und Soziologie, das gegenwärtig eher als ein Ge- gen- oder Nebeneinander denn als ein Miteinander bezeichnet werden kann.

Unter der Moderation von NAV- Hauptgeschäftsführer Dr. med.

Walter Hemmer diskutierten der Augsburger Soziologe Professor Dr. Peter Atteslander, der Bielefel- der Soziologe Dr. Christian von Ferber, der Marburger Medizinso- ziologe Professor Dr. med. Johan- nes Siegrist, der Heidelberger So- zialmediziner Professor Dr. med.

Hans Schaefer, der Arzt für Allge- meinmedizin und Lehrbeauftragte an der Medizinischen Hochschule Hannover, Dr. med. Klaus-Dieter Haehn, Kirchboitzen, und Dr. med.

Karlheinz Reese, Königswinter-Vin- xel.

Viel Zündstoff breitete Profes- sor von Ferber in seinem einleiten- den Referat mit seiner Feststellung aus, das jetzige konfliktartige Ver- hältnis zwischen Medizin und Ge- sellschaft, zwischen Ärzten und Gesundheitspolitikern gründe vor- nehmlich in Sachproblemen.

Seiner Ansicht nach gebe es eine erdrückende Vielfalt von ungelösten Problemen, die auf eine Entschei- dung drängten. Die anstehenden Sachfragen, die sich Medizinern und Soziologen gemeinsam stel- len, skizzierte Professor von Fer- ber so:

• Wie könne in Zusammenarbeit von Ärzteschaft, Sozialleistungsträ- gern und Patienten die Rehabilita- tion erfolgssicherer und in ihren Er- gebnissen überzeugender organi- siert werden?

• Wie könne man Gesundheitser- ziehung, Gesundheitsvorsorge und Krankheitsfrüherkennung zu wirk- samen Instrumenten einer moder- nen Medizin gestalten?

• Wie sei die kurative Medizin von sachfremden Aufgaben zu ent- lasten und ihre ärztlich-beratende und helfende Leistung zu verstär- ken?

• Wie könne man dem sozialstaat- lichen Auftrag gerecht werden, die Leistungen der Medizin jedem Bür- ger bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen, und zugleich dem ärztli- chen Beruf seine Autonomie erhal- ten?

• Wie könne man einer fortschrei- tenden arbeitsteiligen Spezialisie- rung in der Medizin Formen der Kooperation und Instrumente der Koordinierung entgegensetzen?

• Wie sei die negative Auswir- kung einer Arbeitsteilung zu be- grenzen, die Allgemein- und Fach- ärzte, die ambulante und stationä- re Versorgung, die ärztliche und nichtärztliche Gesundheitsberufe voneinander scheide und das Arzt- Patienten-Verhältnis belaste?

• Wie könne man das tarifvertrag- liche Gegeneinander von Ärzte- schaft und Sozialleistungsträgern um tragfähige Formen der Koope- ration im Interesse der Patienten ergänzen?

Drei soziologische Diagnosen

Von Ferber glaubte drei Eigen- schaften diagnostizieren zu sollen, die sämtlichen genannten Proble- men gemeinsam seien:

Die meisten anstehenden Probleme hängen nach von Ferber mit dem

Ärzte und Soziologen auf der Suche

nach einer gemeinsamen Basis

Aspekte einer Podiumsdiskussion anläßlich der NAV-Bundeshauptversammlung in Köln

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 7 vom 13. Februar 1975 447

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NAV-Podiumsdiskussionsrunde von links nach rechts: Professor Dr. Johannes Siegrist, Dr. Karlheinz Reese, Professor Dr. Hans Schaefer, Dr. Walter Hemmer, Professor Dr. Christian von Ferber, Dr. Klaus-Dieter Haehn, Professor Dr. Peter Atteslander Foto: Zellmann

448 Heft 7 vom 13. Februar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche-

Aufsätze -Notizen Ärzte und Soziologen

beschleunigten sozialen Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg zu- sammen.

Die Sozialgesetzgebung habe vor- nehmlich das Ziel verfolgt, das wirtschaftliche Wachstum der Nachkriegsepoche, den techni- schen und medizinischen Fort- schritt gesundheitspolitisch umzu- setzen und anzuwenden. Daraus sei für die praktische Medizin — vor allem in der primär-ärztlichen Versorgung — ein „Aufgaben- druck" entstanden, der subjektiv vielfach als Überforderung empfun- den werde.

Sämtliche anstehenden Probleme verlangten für ihre Lösung „kom- plexere Organisationsformen", be- tonte von Ferber. Dabei gehe es um Größenordnungen, die die bisheri- gen Maßstäbe sprengten, aber auch um die Zusammenarbeit zwi- schen Angehörigen ärztlicher und nichtärztlicher Berufe, um die An- leitung und Aktivierung der Patien- ten und schließlich um eine Ver- knüpfung des Beitrags verschiede- ner Wissenschaften (Natur- und Sozialwissenschaften) unter einer praktischen Aufgabenstellung.

Alle aktuellen Probleme stellten — so meinte von Ferber — das überkommene Selbstverständnis der Medizin in Frage.

Behandlungsergebnis — kein alleiniger Erfolgsmaßstab Seine drei Kardinalthesen begrün- dete Professor Ferber so:

Die Mediziner müßten den Erfolg ihrer Tätigkeit nicht nur am Be- handlungsergebnis einzelner Pa- tienten, sondern an der statistisch zu belegenden Verringerung des Gesundheitsrisikos von Personen- gruppen messen. Nicht nur die Qualität der Leistungen des ein- zelnen Arztes, sondern auch die Qualität der Leistungen aller Ärzte in ihrem Zusammenwirken seien für die gesundheitspolitische Be- wertung der Medizin entschei- dend.

Es gelte, die Patienten nicht nur zu behandeln, die Ärzte müßten viel- mehr sie und ihre nächste Umge- bung „anleiten". Die Medizin müs- se sich ihre „didaktische Dimen- sion" erschließen.

Die Ärzte sollten nicht nur ihre ei- gene Praxis oder ihre Klinik orga- nisieren, sie müßten auch in Zusammenarbeit mit anderen pla- nen, sich in eine Koordination ein- fügen, ihre gemeinsame Tätigkeit dokumentieren und auswerten (zum Beispiel Programme zur Krankheitsfrüherkennung).

Die Ärzte, so sagte von Ferber, müssen sich nicht nur ihrer Be- rufsaufgabe widmen, sondern sie müssen diese gemeinsam mit So- zialleistungsträgern, mit anderen Angehörigen nichtärztlicher Berufe wahrnehmen und meistern.

Eine Reihe von mehr oder weniger originellen Palliativmitteln stellte der Referent zur Diskussion: Die Ärzte sollten ihre Tätigkeit „ge- samthaft" planen, ihnen werde ein

„Gemeinschaftshandeln" abgefor- dert (diese Formeln blieben aller- dings unerklärt im Raum). Zum an- deren greift nach von Ferber die Berufsaufgabe des Arztes in Tätig- keitsfelder aus, die von anderen Berufen und Organisationen be- reits besetzt sind. Sie müßten da- her ihr Handeln mit anderen Be- rufen und Organisationen abstim- men und koordinieren. Partner sei- en nicht nur ärztliche Kollegen, sondern auch Psychologen, Sozial- arbeiter, Angestellte der Versiche- rungsträger, Berufsberater, kom- munale Einichtungen u. a.

Organisatorisches Neuland

entdecken

In einer entwickelten Industriege- sellschaft wie der in der Bundesre- publik seien die Ärzte aufgerufen, organisatorisches Neuland zu be- treten, das überkommene Selbst- verständnis der Medizin in Frage zu stellen und sich den gesell- schaftlichen Forderungen offen und ohne Scheuklappen zu stellen.

Anknüpfend an die aktuelle ge- sundheitspolitische Diskussion, ap- pellierte von Ferber an die Ärzte- schaft, die nur vereinzelt und zufäl-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Ärzte und Soziologen

lig bestehenden Kontakte zwischen Medizinern und Sozialwissen- schaftlern, insbesondere Soziolo- gen, zu verstärken. „Wenn unter den gewandelten gesellschaftli- chen Verhältnissen unserer Zeit eine solche Kooperation nur unge- nügend in Gang gekommen ist, dann liegen die Gründe dafür nicht in einer mangelnden Kapazität der Soziologie", hob der Bielefelder Soziologe anklagend hervor. Das für die Medizin verwertbare sozio- logische Wissen liege in der Bun- desrepublik in einem Umfang „an- wendungsbereit" vor, der nur

„marginal" genützt werde. Wenn eine Kooperation zwischen prakti- scher Medizin und Soziologie her- gestellt werden solle, so dürfe sie sich nicht nur auf akademischer Ebene bewegen. Von Ferber wies auf das Dilemma hin: „Die eigentli- che Barriere, die zwischen Ärzte- schaft und Soziologie gegenwärtig besteht, ist die Distanz, die eine Hochschulwissenschaft von einem praktischen Beruf trennt, der zu- dem über keine eigenen For- schungsmöglichkeiten verfügt und dem seine eigene Basiswissen- schaft — die Hochschulmedizin — eine akademische Vertretung vor- enthält."

Von Ferber forderte gemeinsame Forschungseinrichtungen für die primär-ärztliche Versorgung und für die Medizinsoziologie, um Lösun- gen auf dem Gebiet der Rehabilita- tion der Präventivmedizin, der ku- rativen Medizin und der Selbst- steuerung des Gesundheitswesens zu erarbeiten und in Modellversu- chen wissenschaftlich zu begleiten.

Soziologie — eine primär

deskriptive Wissenschaft

Die provokatorischen Thesen und überspitzten Formulierungen des Bielefelder Soziologen fanden bei den Podiumsteilnehmern und im Auditorium nicht immer ungeteilten Beifall. Professor Schaefer stritt zwar nicht die Verdienste der So- ziologie ab, wies sie aber als eine

„primär beschreibende Wissen-

schaft" in ihre Schranken. Die Stärke der Soziologie bestehe vor allem darin, daß „nicht Offenbare"

an gesellschaftlichen Verhältnissen offenbar zu machen. Mit Hilfe sozio- logischer Methoden sei es überdies möglich, Widersprüche zwischen der Ideologie und der Praxis abzu- leiten.

Schaefer plädierte dafür, den An- spruch der Soziologie innerhalb ei- ner Neustrukturierung der Medizin zu überdenken und das Problem- feld auf das zu begrenzen, was die Soziologie als Wissenschaft tat- sächlich leisten kann: „Das ist nicht wenig, aber es ist nicht im- mer das, was die Soziologie zu lei- sten vorgibt."

Präzise Fragestellungen mit präzisen

Methoden klären

Der Medizinsoziologe Professor Johannes Siegrist wehrte sich da- gegen, daß allzu hohe Ansprüche an seine Wissenschaft gestellt wer- den. Die Medizinsoziologie sei als eine beschreibende Wissenschaft durchaus wissenschaftlich legiti- miert, und sie verliere sehr viel von dem unrealistischen Schrecken, wenn man ihr anvertraue, präzise Fragestellungen mit präzisen Me- thoden erarbeiten zu lassen. Die Soziologie sei auf wissenschaftli- che Aufklärung, auf Wissensverar- beitung hin angelegt; das könne man anhand der Geschichte sehr gut nachweisen.

Dieser Standortbestimmung pflich- tete auch der Allgemein-Soziolo- ge Professor Atteslander bei:

„Wir beobachten, wir messen, und wir versuchen, Zusammenhänge zu erklären ... Die Soziologie kann keine normativen Vorschläge abge- ben". Der Wert soziologischer Ana- lysen bestehe vor allem darin, ge- sellschaftliche Zusammenhänge zu erklären, soziale Zeitanalysen zu betreiben und gesellschaftliche Ab- läufe mit einem großen Wahr- scheinlichkeitsgrad zu prognosti- zieren. Auf das Anwendungsfeld Gesundheitspolitik bezogen, mein-

te Atteslander, es sei schon ein wissenschaftliches Ergebnis, fest- zustellen, wie effektiv die Gesund- heitsversorgung aussehe, wie sie sich voraussichtlich weiterentwik- keln werde und wo die Engpässe zwischen Praxis und der Ausbil- dung für die Praxis bestünden.

Der Nachholbedarf der Allgemeinmedizin

Der Allgemeinarzt Dr. Haehn wies auf den wissenschaftlichen Nachhol- bedarf auf dem Gebiet der Allge- meinmedizin hin und brach eine Lanze dafür, dieser Disziplin einen breiten Raum in Wissenschaft und Hochschule einzuräumen. Und Dr.

Reese klagte, daß nicht wenige So- ziologen — von wissenschaftlichen Randgebieten ausgehend — ver- suchten, die Medizin zu usurpieren, und dabei Wertmaßstäbe setzten, für die sie den Medizinern vorher ihre Parameter nicht genannt hät- ten.

Professor Schaefer verdeutlichte dies an einem konkreten, aktuellen Beispiel: Manche Soziologen- bespielsweise auf dem ominösen

„Marburger Kongreß" vom Januar 1973 — hätten Forderungen erho- ben, ohne die Alternativen und die Konsequenzen solcher gesell- schaftspolitischer, auf Strukturver- änderungen abzielender Postulate aufzuzeigen.

Es sei schon viel gewonnen, wenn es der Soziologie gelänge, das Verhalten gesellschaftlicher Gruppen zu untersuchen, gesell- schaftliche Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen exakt zu beschreiben, so daß „harte Wis- senschaften", beispielsweise die praktische Medizin, oder die Sozial- politik darauf aufbauend Konzepte und Technologien entwickeln, um damit im konkreten Fall — in der Arztpraxis wie in der Gesellschaft

— gewappnet und stets handlungs- fähig zu sein.

Dr. Harald Clade

DEUTSCHES ÄRZTE BLATT Heft 7 vom 13. Februar 1975 449

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