auf Entscheidungen der Selbstver- waltung manifestiere.
Das Deutsche Netzwerk Versor- gungsforschung bezeichnet es in seiner Stellungnahme zum VSG als außerordentlich problematisch, dass die Wissenschaft bei der Verteilung der Mittel des Innovationsfonds von den Entscheidungen ausgeschlossen sei. „Medizin macht man nicht ohne Mediziner, und Forschung nicht oh- ne Forscher“, bringt es der DNVF- Vorsitzende Neugebauer im Ge- spräch mit dem Deutschen Ärzte- blatt auf den Punkt. „Man darf nicht so viel Geld ausgeben, ohne dass die Wissenschaft mitredet.“ Allerdings zeigt sich Neugebauer nach einer Anhörung beim BMG zum Gesetz- entwurf – insbesondere nach den Äußerungen des G-BA-Vorsitzen- den Josef Hecken – sehr zuversicht- lich, dass es, was die Beteiligung der Wissenschaft anbelangt, noch zu po- sitiven Wendungen kommen wird.
Hin zu einem lernenden Gesundheitssystem
Dem Netzwerk Versorgungsfor- schung sei dabei klar, dass es ohne den Praxisbezug nicht gehe. Bei der Entwicklung eines Projektes kom- me es darauf an, alle Beteiligten frühzeitig mit einzubeziehen, so dass der Theorie-Praxis-Transfer gewährleistet ist.“ Neugebauer rät dem G-BA dazu, bei der Projektbe- wertung und -evaluation auf beste- hende und bewährte Einrichtungen mit Erfahrungen im Wissenschafts- management und Gutachterverfah- ren zurückzugreifen. „Es muss das Rad nicht neu erfunden werden. In unserer Stellungnahme haben wir außerdem eine Beratungsstelle in Berlin vorgesehen. Die Expertise ist da; die muss zu denjenigen kanali- siert werden, die ihre Projektanträ- ge schreiben.“ Auch eine wissen- schaftliche Begleitevaluation der Projekte sei unverzichtbar. „Wenn etwas später in die Regelversorgung überführt werden soll, muss das wissenschaftlich abgesichert sein“, betont Neugebauer. Als Ergebnis schwebt ihm so ein lernendes Ge- sundheitssystem vor. „Zu viel ist bereits eingeführt worden ohne wis- senschaftliche Evaluation.“
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Thomas Gerst
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ebenslange Haft wegen Mor- des an ihrer dreijährigen Toch- ter Yagmur – so lautet das Urteil des Landgerichts Hamburg für Melek Y., das am 25. November verkündet wurde. Immer wieder geschlagen, getreten, geschüttelt und geschleu- dert wurde das Kind von der Mutter in seinem kurzen Leben. Mehr als 80 zum Teil schwere Verletzungen stellten Rechtsmediziner fest. Das Jugendamt war in den Fall invol- viert – Fehlentscheidungen verhin- derten den Schutz des Kindes.Es wäre zu einfach zu sagen, dass Frühe Hilfen den Tod des Mädchens hätten verhindern können, aber die regionalen Unterstützungssysteme und Hilfsangebote für Eltern und Kinder von der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr, sind ein gu- ter Ansatz. Die Netzwerke bieten praktische Hilfen im Alltag und sol- len zudem die Beziehungs- und Er- ziehungskompetenz der Eltern stär- ken (Kasten). Denn: „Nicht alle El- tern schaffen es, ihr Kind gesund aufwachsen zu lassen. Es gibt Pro-
bleme, die ein empathisches Einfüh- lungsvermögen in das Kind nicht funktionieren lassen: geringes Ein- kommen, niedriges soziales Mi- lieu, psychische Erkrankungen oder Sucht“, erklärte Prof. Dr. med. Eli- sabeth Pott, Direktorin der Bundes- zentrale für gesundheitliche Aufklä- rung (BZgA). Zusammen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dem Nationalen Zen- trum Frühe Hilfen (NZFH) veran- staltete die BZgA die Tagung „Ge- meinsam Verantwortung – interpro- fessionelle Qualitätszirkel als In- strument in den Frühen Hilfen“ am 26. November in Berlin.
Ärzte häufig der einzige Kontakt in den ersten Jahren
„Die Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheitssystem und der Kinder- und Jugendhilfe ist sehr wichtig“, sagte Pott weiter. Geburtskliniken ebenso wie niedergelassene Gynä- kologen, Kinderärzte, Hausärzte und Psychotherapeuten seien häufig die einzigen Kontaktpersonen zu Risi- kofamilien in den ersten drei Le- bensjahren und außerdem beson- ders befähigt, die Betroffenen auf das Netzwerk Frühe Hilfen hinzu- weisen. Aber: „Die Zusammenar- beit zwischen Ärzten und Jugend- hilfe ist nicht immer einfach, weil unterschiedliche Kulturen aufeinan- der treffen“, erklärte Pott.
Deshalb war der Schwerpunkt der Tagung ein erfolgreiches Mo- dellprojekt der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württem- PRÄVENTIVER KINDERSCHUTZ
„Oftmals nur ein ungutes Gefühl“
Frühe Hilfen sind Angebote der Jugendhilfe. Ärzte können belastete Familien motivieren, sie in Anspruch zu nehmen. Ein Modellprojekt in Baden-Württemberg zeigt, wie die Kooperation gelingen kann.
Deutsches Ärzteblatt
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5. Dezember 2014P O L I T I K
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5. Dezember 2014 berg zur Vernetzung von vertrags-ärztlichen Qualitätszirkeln mit An- geboten der Kinder- und Jugend - hilfe. „Die Erfahrung in Baden- Württemberg hat gezeigt, dass die Zusammenarbeit gelingen kann“, betonte Dr. med. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV. Er wies zunächst auf die höheren Ri - siken für gesundheitliche Proble- me hin, die Kinder aus Familien mit geringem sozioökonomischen Status haben: funktionelle Entwick- lungsstörungen, Adipositas, Ess - störungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Sucht. „Neu an der sogenann- ten neuen Morbidität ist die epide- mische Häufung.“ Immer häufiger sehe der Kinderarzt belastete Fami- lien. Oftmals seien die Anzeichen für eine mögliche Kindeswohlge- fährdung nicht konkret, sondern nur
„ein ungutes Gefühl“, sagte Gassen.
Solche Fälle können anonymisiert in den interprofessionellen Quali- tätszirkeln besprochen werden.
Dauerhafte Einrichtung der Qualitätszirkel gefordert
Von der Implementierung des Mo- dellprojekts Frühe Hilfen bei der KV Baden-Württemberg berichtete Ro- land Müller, dort Sachgebietsleiter für Qualitätssicherung und Verord- nungsmanagement. Start war eine Pilot-Veranstaltung für Qualitätszir- kel-Moderatoren 2009, bei der sich herausstellte, dass Ärzte zwar zu- nehmend belastete Familien in ihren Praxen sehen, aber keine Zusam- menarbeit im präventiven Kinder- schutz mit der Jugendhilfe stattfin- det. Wissen über Ansprechpartner und Angebote der Jugendhilfe waren kaum vorhanden, berichtete Müller.Mit Hilfe der modellhaften Förde- rung durch das NZFH und der Ein- richtung einer Koordinierungsstelle bei der KV wurden Qualitätszirkel errichtet, in denen sich Ärzte und Psychotherapeuten mit Mitarbeitern der Jugendhilfe austauschen können.
Dazu wurden Moderatoren ausgebil- det, die im Tandem, jeweils ein Arzt oder Psychotherapeut und ein Ver- treter der Jugendhilfe, diese Zirkel anleiten. „Die Moderatoren müssen Kollegen motivieren, an einem Zir- kel teilzunehmen“, sagte Müller. Das habe bereits zu 34 Qualitätszirkeln
landesweit geführt, aber es funktio- niere noch nicht überall. „Geduld ist gefragt“, so Müller. Ziel der Zirkel sei es, die Vernetzung und klinische Fallbearbeitung mit der Jugendhilfe zu fördern und die Kommunikati- onswege zu standardisieren. Ärzte müssen belastete Familien erkennen und motivieren, die Angebote der Frühen Hilfen in Anspruch zu neh- men. Als Instrument der Fallfindung wird ein Erhebungsbogen einge- setzt, der Ärzten im Verdachtsfall er- möglicht, mehr Informationen über die Belastungssituation der Schwan- geren oder der Familie zu erhalten.
Im Juli 2014 wurde eine Rahmen- vereinbarung mit der BKK Landes- verband Süd und kommunalen Spit- zenverbänden abgeschlossen, der bislang 23 BKKen beigetreten sind.
Müller wünscht sich für Baden- Württemberg eine Verstetigung der Koordinierungsstelle und hofft, seine Erfahrungen ins Bundesgebiet beför- dern zu können. Auch Gassen sprach sich für eine dauerhafte Regelung aus und dafür, die interprofessionel- len Qualitätszirkel in weiteren KVen einzurichten.
„Erfolgreich ist die Arbeit in den Qualitätszirkeln dann, wenn bei den Beteiligten die Bereitschaft besteht, sich sehr irritieren zu lassen“, sagte Prof. Dr. med. Markus Siebolds von der Unternehmensberatung Sysco GmbH. Zu unterschiedlich sei die Arbeit von Ärzten und Mitarbeitern der Jugendhilfe. Zu Beginn der Qua- litätszirkel hätten sowohl Ärzte als
auch Jugendhilfemitarbeiter häufig Vorurteile über die Arbeit der an - deren gehabt. Mittels gegenseitiger Wertschätzung und Mitteilung über die Besorgnis um den Fall könne je- doch vieles aufgelöst werden. Die Frage sei zudem immer, wie der Arzt die Leistungen der Jugendhilfe nach SGB VIII auslösen kann; über- weisen sei schließlich aufgrund der unterschiedlichen Systemarchitek- tur nicht möglich, so Siebolds.
Systemübergreifende Kooperation wichtig
Die parlamentarische Staatssekretä- rin im Bundesfamilienministerium Caren Marks wies auf die Vereinba- rung im Koalitionsvertrag hin, die Zusammenarbeit zwischen Gesund- heitswesen und Kinder- und Ju- gendhilfe zu verbessern. Seit dem Start der Bundesinitiative Frühe Hilfen 2012 seien in ganz Deutsch- land Netzwerke Früher Hilfen ent- standen: 98 Prozent der Kommunen hätten inzwischen eine Koordinie- rungsstelle eingerichtet, in 84 Pro- zent stünden Familienhebammen und Kinderkrankenschwestern zur Verfügung, um belastete Familien zu unterstützen.
„Die systemübergreifende Ko- operation zwischen Gesundheits- wesen und der Kinder- und Jugend- hilfe ist ein wichtiger Schritt“, lobte Annette Widmann-Mauz, parlamen- tarische Staatssekretärin im Bundes- gesundheitsministerium (BMG), die Arbeit der Qualitätszirkel. Frühe Hil- fen hätten eine besonders hohe Re- levanz für den Kinderschutz. Sie kündigte zudem an, dass das BMG eine S-3-Leitlinie zum Thema Kin- derschutz und Kindesmisshandlung fördern wolle, um Ärzten und Psy- chotherapeuten eine Handlungsleit- linie zu geben.
„Ärzte und Psychologische Psy- chotherapeuten müssen generell noch stärker in die kommunalen Netzwerke der Frühen Hilfen einge- bunden werden“, forderte KBV-Vor- standsvorsitzender Gassen abschlie- ßend. Und mit einem klaren Signal an die Politik: „Wir brauchen eine Rechtsgrundlage im SGB V – Kin- derschutz muss eine Aufgabe des Gesundheitswesens werden.“
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Petra Bühring Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen wurde 2007 vom Bun-
desfamilienministerium gegründet, um den präventiven Kin- derschutz zu stärken und die Fachpraxis beim Auf- und Aus- bau der Frühen Hilfen zu unterstützen. Träger sind die BZgA und das Deutsche Jugendinstitut. Frühe Hilfen sind: