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Archiv "Evidenzbasierte Medizin (EbM): Begriff entideologisieren" (03.06.2005)

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U

m sichtbar zu machen, dass die praktizierte Medizin Qualitäts- standards genügt, ist aus dem An- gelsächsischen der Begriff „evidence based medicine“ über uns gekommen.

„Evidenzbasierte Medizin“ (EbM) wird auch bei uns als Goldstandard und Qualitätsmarker für jedwede klinische Entscheidungsfindung deklariert.Wissen- schaft als Basis der Medizin gilt in Euro- pa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als etabliert, und schon vor Jahrzehnten wä- re eine unbegründete ärztliche Meinung – wenn diese sich nicht auf substanzielle Daten gestützt hätte – nicht akzeptiert worden. Der Begriff EbM hat sich inzwi- schen lawinenartig verbreitet. Heute gilt per se das als richtig, was das Bewer- tungskriterium oder Präfix EbM auf- weist, ohne dass geprüft wird, ob das Petitum auch zutrifft. Einige Autoren ha- ben in der Vergangenheit versucht, die Problematik dieser Begriffsbildung dar- zustellen (2, 3, 5, 6, 7), ohne dass es ge- lungen wäre, zu einer grundsätzlichen Verständigung zu gelangen.

Grundgedanken nicht neu

Die Kontagiosität des Begriffes EbM verbindet sich mit der Suggestion eines Qualitätsanspruchs, den viele Akteure in Medizin und Politik der Gesellschaft gegenüber gerne ausweisen wollen (2).

Der Begriff infiltriert Konferenzen, Zeitschriften, Bücher und Gesetze, oh- ne dass die meisten Anwender genau wissen, was gemeint ist. Unbeabsichtigt wird der Blick auf eine wissenschaftlich fundierte Medizin verstellt, weil eine spezielle Methode der Betrachtung ärztlich-wissenschaftlicher Ergebnisse fast ideologisch angepriesen wird. Die Breite der wissenschaftlichen Argu-

mentation wird weitgehend auf die sta- tistische Beurteilung von Studienergeb- nissen verengt. Einige der Grundgedan- ken dieses Ansatzes sind richtig, aber keineswegs neu. Neu ist allenfalls das Heil, das in diesem Vorgehen gesehen wird, auch wenn bislang eine Bestäti- gung der Richtigkeit dieses methodi- schen Ansatzes nicht vorliegt.

Weil der Begriff „evidence“ durch Vorgaben eingeengt ist, sich andererseits aber inzwischen auf Derivate erweitert, wie Clinical Evidence,

taugt er kaum mehr zur Beurteilung von medizi- nischen und ärztlichen Sachverhalten. Der An- satz stammt aus dem bri- tischen Gesundheitswe- sen. Er wollte dort ur- sprünglich sichern, dass nur wissenschaftlich be-

gründete Maßnahmen beim Patienten angewandt werden und nicht irgendwel- che ideologischen „Selbstüberzeugun- gen“ oder Scharlatanerien. Ein solcher Ansatz für mehr Wissenschaftsbezug in der Medizin war dort berechtigt. Bei uns würde vieles erleichtert, wenn statt des Begriffes „Evidenz“ (6, 7) wieder „Be- gründung“ oder „nachweisgestützt“ (1, 8) gewählt würde. In einer wissenschaft- lich fundierten Medizin ist die Begrün- dung einer Maßnahme selbstverständ- lich und erlaubt ein stets nachprüfbares Niveau der Qualität der diagnostischen oder therapeutischen Vorgehensweise.

Bedeutsam ist es, dass die Inauguratoren unter EbM einen Dreiklang verstanden, der ärztliche Erfahrung, die Wünsche der Patienten und die Berücksichtigung der wissenschaftlichen Literatur als „exter- nal evidence“ umfasste (8). Gegenwärtig wird aber zumeist dieses 3-Säulen- Modell der EbM nicht gesehen und nur

auf den letzten Punkt, die Studien, Be- zug genommen, die „evidenzbasiert“ in verschiedene „Evidenzgrade“ eingeteilt werden (6).

In der Regel wird „EbM“ derzeit als eine Medizin verstanden, die in ihrer Methode auf Studien basiert, die be- stimmten methodischen Anforderungen genügen müssen, kontrollierte und ran- domisierte und gegebenenfalls verblin- dete Verfahren. Studien in dieser Art durchzuführen ist in der wissenschaftli- chen Medizin etabliert und wohl bekannt. Stu- dien, insbesondere kom- plexe Studien sind aber ein hoch artifizielles Mi- lieu und müssen keines- wegs die Wirklichkeit bei der Mehrheit der Pa- tienten widerspiegeln.

Es gibt darüber hinaus- gehende Bewertungsspielräume (4). Zu- sätzlich führen erkenntnistheoretische Erwägungen und die Berücksichtigung der biologischen Variabilität des Men- schen dazu, dass Untersuchungsergeb- nisse aus Studien in der Medizin nie ein Resultat wie etwa in der Physik haben können. Die biologische Wissenschaft ist abhängig von der Variabilität der biolo- gischen Grundsubstanz. Auch die An- wendung komplexer mathematischer Methoden ändert daran nichts. Bewer- tungsagenturen, wie das Cochrane-Zen- trum oder die Health Technology Agen- cy, behaupten, durch die systematische Durchsicht der Literatur dieses Problem zu überwinden und Einsichten aus der Literatur zu destillieren, die der „norma- le“ Arzt nicht gewinnen kann. Ein Beleg für die Effektivität dieses Vorgehens in Bezug auf eine Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung

steht allerdings aus.

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 22⏐⏐3. Juni 2005 AA1569

Evidenzbasierte Medizin (EbM)

Begriff entideologisieren

EbM ist eine unkritische Medizin, argumentiert der Autor. Nicht mehr der pathophysiologische Hintergrund ärztlicher Maßnahmen und der Patient stehen im Vordergrund. Der Blick ist nur auf scheinbar gesicherte Untersuchungsergebnisse gerichtet.

Komplexe Studien sind ein hoch artifizielles

Milieu und müssen keineswegs die Wirklichkeit bei der Mehrheit der Patienten

widerspiegeln.

Peter von Wichert

(2)

Die Einteilung von Studienergebnis- sen in verschiedene „Evidenzgrade“ ist mithin biologisch sinnlos. Auch metho- disch exzellent durchgeführte Untersu- chungen können die Problematik nicht überwinden, da sie der Biologie inhärent ist. Die mathematisch-statistisch gesi- cherte Aussage einer Studie gilt immer nur bezogen auf das jeweilige Studien- kollektiv, und jede Erweiterung der Er- gebnisse auf andere Populationen ist ein Analogieschluss, der per se die „biologi- sche Wahrheit“ begrenzt. Durch die der- zeit zu beobachtende, fast ausschließliche Berücksichtigung der „Evidenzgrade“

als Garanten der Richtigkeit der Studi- enaussage werden vernünftige biologi- sche oder pathophysiologische Überle- gungen abgewertet, und Entscheidun- gen, die biologisch gut abgeleitet werden könnten, erfolgen nicht, weil ein „Evi- denzgrad“ fehlt. Evidenzgrade beschrei- ben keine biologischen Qualitätsunter- schiede. Evidenzgrad 1 einer Studie ist nicht „wahrer“ als Evidenzgrad 2 oder 3, allenfalls wahrscheinlicher.

Analogieschlüsse sind weder schäd- lich noch unzulässig. Man muss sich nur davor hüten, die Aussage einer als „evi- denzbasiert“ deklarierten Studie beson- ders zu bewerten. Es ist ein Mosaikstein, der wie jeder andere Sachverhalt ins kli- nische Bild eines speziellen Patienten eingepasst werden muss, was von den Initiatoren seinerzeit auch so gesehen wurde. Inzwischen ist aber vergessen worden, dass es keinen prinzipiellen Un- terschied zwischen „Medizin“ und „evi- denzbasierter Medizin“ gibt , denn auch die „normale“ Medizin berücksichtigt, beurteilt und bewertet die vorhandenen Untersuchungen zu einem klinischen Problem. Die Reduktion der Medizin auf die statistische Mathematik wird ih- rer Humanität abträglich sein und zum Versagen von Leistungen (5), nicht aber zu mehr Wissenschaftlichkeit führen.

Dieser Sachverhalt wird besonders bei den „Metaanalysen“ deutlich, auf de- ren Problematik auch Bock (1) hinge- wiesen hat. Verschiedene Untersuchun- gen, gelegentlich auch ausgewählt, wer- den zu einem Thema zusammengewor- fen, um die daraus berechneten statisti- schen Mittel als besonders aussagekräf- tig herauszustellen, unabhängig davon, ob es unter Umständen sinnvoll oder mit der biologischen Grundlage der Medizin

vereinbar erscheint. Es wird auch das er- wähnte Problem des Analogieschlusses nicht beseitigt, sondern dieser allenfalls statistisch zementiert, denn die unter- schiedlichen Populationen, die in der Metaanalyse zusammengefasst werden, dürften sich in der biologischen Aussage ebenso stören wie unterstützen. Der Be- griff „Evidenzgrad“ verschleiert ideolo- gisch, dass es in der Medizin nicht nur auf statistische Aussagen

ankommt, sondern auf die Notwendigkeit einer biologisch-wissenschaftli- chen Wahrhaftigkeit und die Notwendigkeit, ei- nem individuellen Pati- enten eine begründete

Therapie zukommen zu lassen. Er spie- gelt eine abschließende medizinische Sicherheit vor, die es in der Biologie so nicht gibt und die es auch wegen der Unterschiede zwischen den Menschen nicht geben kann.

Daten meist veraltet

Eine so genannte evidenzbasierte Medi- zin ist eine unkritische Medizin, weil der pathophysiologische Hintergrund ärzt- licher Maßnahmen und das Individuum nicht mehr im Vordergrund stehen, son- dern der Blick auf Untersuchungsergeb- nisse gerichtet ist, die von zum Teil an- onymen Bewertungsorganisationen be- züglich der Relevanz der Daten „gesi- chert“ wurden (3). Nicht zuletzt deswe- gen ist dieses Vorgehen unwissenschaft- lich, weil die Daten der Studien zum Zeitpunkt solcher Bewertungen zu- meist veraltet sind. Alle diagnostischen und therapeutischen Relationen müss- ten ständig und zeitnah nachgearbeitet werden. Dies ist unmöglich, sodass oh- nehin ständig Analogieschlüsse erfor- derlich sind, die auf begründeten Daten aus Untersuchungen oder Kenntnissen von Pathologie und Pharmakologie be- ruhen müssen. Damit ergibt sich kein Bedarf für die Pseudoqualität des so ge- nannten Evidenzbegriffes.

Der Aspekt „interne Evidenz“, den die Inauguratoren dieser Begriffe auch benutzten und der zum Beispiel die ärzt- liche Erfahrung zusammenfasst, ist ver- ständlicherweise nicht standardisiert, aber ein wesentlicher Bereich ärztlichen

Handelns (8). „Evidenzbasierte Medi- zin“, wenn sie richtig verstanden wird, beschreibt also etwas Selbstverständli- ches, nämlich die Berücksichtigung wis- senschaftlicher Grundsätze in Diagno- stik und Therapie. Der Begriff wird ge- genwärtig nicht so gebraucht, sondern ihm wird eine unbegründete Sonderstel- lung gegeben. Begründungen für ärzt- liche Maßnahmen können auf jeweils geeignete Weise gewon- nen werden, durch Beob- achtung, durch Vergleich (Studien), durch mor- phologische Befunde et cetera. Zumindest in Deutschland ist die Me- dizin schon lange so vor- gegangen. Die Methodik klinisch ver- gleichender Studien wurde vor mehr als 50 Jahren in Deutschland entwickelt (Paul Martini). Durch die kritiklose Übernahme einer angelsächsischen No- menklatur durch nicht in der Problema- tik ärztlich-medizinischer Meinungsbil- dung erfahrene Personen ist der Ein- druck entstanden, dass es sich um einen neuen Ansatz und um ein besonderes Qualitätsmerkmal handelt. Beides ist falsch, und die Medizin in Deutschland wäre gut beraten, den „Evidenzbegriff“

zu entideologisieren.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2005; 102: A 1569–1570 [Heft 22]

Literatur

1. Bock KD: Die Evidenz (in) der Evidence based Medi- cine. Med Klinik 2001; 96: 300–304.

2. Charlton BG, Miles A: The rise and fall of EbM. Q J Med 1998; 91: 371–374.

3. Feinstein AR, Horwitz RI: Problems in the „Evidence“

of „Evidence based medicine“.Amer J Med 1997; 103:

529–535.

4. Grell L: Gibt es einen Bewertungsspielraum jenseits randomisierter Studien? Z ärztl Fortb Qual Ges Wes 2004; 98: 481–487.

5. Maynard A: Evidence based medicine: an incomplete method for informing treatment choices. Lancet 1997;

349: 126–128.

6. Reinauer H: Evidenzbasierte Medizin. Journ Dtsch Ges Plast Wiederherstlgschir 2003; 10: 11.

7. Rogler G, Schölmerich J: „Evidence based Medicine“–

oder: Die trügerische Sicherheit der Evidence. Dtsch Med Wschr 2000; 125: 1122–1128.

8. Sackett DL, Rosenberg WC, Gray JAM, Haynes RB, Richardson WS: Evidence based medicine: What it is and what it isn’t. Brit med J 1996; 312: 71–72.

9. Selbmann HK: persönliche Mitteilung.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Peter von Wichert Eppendorfer Landstraße 14 20249 Hamburg T H E M E N D E R Z E I T

A

A1570 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 22⏐⏐3. Juni 2005

Es ergibt sich kein Bedarf für die Pseudoqualität

des so genannten

Evidenzbegriffes.

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