Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
Ich stimme mit Herrn Professor Un- geheuer darin überein, daß ein Ab- weichen von bisher als gesichert geltenden Operationsindikationen zunächst nur dort verantwortet wer- den kann, wo eine optimale wissen- schaftliche Verlaufskontrolle eine Urteilsbildung ermöglicht. Trotzdem besteht sicher schon jetzt auch für den praktizierenden Chirurgen ein etwas vergrößerter Spielraum bei der Wahl des auf den Einzelfall ab- gestimmten Operationsverfahrens.
Was ich jedoch als unerträglich empfinde, sind die widersprechen- den Angaben über das Entartungsri- siko bei proliferierenden Mastopa- thien des Stadiums III. Professor Un- geheuer geht hier von einem 30pro- zentigen Malignitätsrisiko aus. Dem- gegenüber entnahm ich einem Schriftwechsel, den ich aus gegebe- nem Anlaß mit Herrn Professor Frischbier, Chefarzt der Abteilung für gynäkologische Radiologie der Universitätsklinik Eppendorf, führte, daß nach neueren Untersuchungen von Stegner die Malignitätsrate in diesen Fällen mit 2 Prozent anzuset- zen sei.
Dazwischen liegen zahlreiche ande- re Prozentsätze. So wurde in einer zusammenfassenden Arbeit in der
„Chirurgischen Praxis 1974" eine Malignitätsrate bis zu 20 Prozent an- gegeben. Diese Diskrepanzen liegen ja weit über denen, die man sonst bei statistischen Angaben in ver- schiedenen Arbeiten gleichen The- mas gewohnt ist hinzunehmen. Dem praktisch tätigen Chirurgen ist es naturgemäß nicht möglich zu ent- scheiden, ob der Maximal- oder Mi- nimalwert mehr Vertrauen verdient.
Auch die sonst naheliegende Ver- mutung, daß „die Wahrheit in der
Mitte liegt", kann eben bei diesem Problem keine Entscheidungshilfe geben.
Da es einleuchtend ist, daß die the- rapeutische Konsequenz entschei- dend von der Frage abhängt, ob ein Malignitätsrisiko von 2 oder von 30 Prozent besteht, halte ich die Zeit für gekommen, daß wenigstens der Ver- such gemacht wird (vielleicht durch eine Umfrage bei allen Universitäts- kliniken), hier zu einem Konsensus zu kommen, der für die praktisch tätigen Chirurgen eine halbwegs fundierte Entscheidungshilfe abge- ben kann.
Ich halte die Frage, ob bei einer Pa- tientin, die ein gesichertes Karzinom hat, ein Muskel mehr oder weniger entfernt wird, für vergleichsweise belanglos gegenüber der Frage, ob wir einer Frau, die (noch) kein Karzi- nom hat, zu einem verstümmelnden Eingriff raten müssen oder nicht.
Dr. med. Roland Saniter Chirurg
Lüner Damm 8 3140 Lüneburg
Schlußwort
Die zustimmenden Worte zu unse- rem Beitrag über die chirurgische Behandlung des Mammakarzinoms haben uns aus chirurgischer Feder nicht überrascht. Verwundert sind wir allerdings, daß Herr Saniter das Entartungsrisiko bei proliferieren- den Mastopathien des Stadiums III, das ihm in einem Briefwechsel mit einem gynäkologischen Radiologen mit 2 Prozent angegeben wurde, zum Anlaß nimmt, um die Höhe der
Entartungsquote bei der fibro-zy- stisch chronischen Mastopathie in Frage zu stellen. Es besteht kein Zweifel, daß diese Erkrankung eine Präkanzerose darstellt und die mei- sten Autoren halten für erwiesen, daß die Brustdrüsenkarzinome bei dieser Form der Mastopathie häufi- ger auftreten.
Wir verweisen auf den Beitrag von Prechtel, Fortschritte der Medizin 90 (1972) 43-45, der im Stadium III der proliferierenden Mastopathien mit Kernatypien in einem Krankengut von 1088 Probeexzisionen ein signi- fikant höheres Karzinomrisiko von 31 Prozent für diese Fälle feststellte.
Unsere Angabe von bis zu 30 Pro- zent Malignitätsrisiko bezieht sich auf das Stadium III mit ungeordne- ten Epithelproliferationen und Kern- atypien bei der fibrös-zystischen chronischen Mastopathie.
Da sich unsere Ausführungen vor- wiegend auf die Behandlung des nachgewiesenen Mammakarzinoms bezogen haben, konnten wir bei den sogenannten Präkanzerosen auch nicht in Details gehen und es ist da- her nicht richtig, wenn Herr Kollege Saniter die Behandlung eines gesi- cherten Karzinoms sozusagen als belanglos hinstellt gegenüber der Frage, ob bei einer Mastopathie eine erweiterte Operation durchgeführt werden soll oder nicht.
Für diese Fälle ist der von Herrn Kol- legen Saniter erwähnte vergrößerte Spielraum bei der Wahl des auf den Einzelfall abgestimmten Operations- verfahrens durchaus anwendbar.
Professor
Dr. med. Edgar Ungeheuer Privatdozent Dr. Kristian Lüders Oberarzt
Chirurgische Klinik des Krankenhauses Nordwest Steinbacher Hohl 2-26 6000 Frankfurt (Main) 90
Chirurgische Behandlung des Mammakarzinoms
Zum Beitrag von Professor Dr. med. Edgar Ungeheuer und Dr. med. Kristian Lüders in Heft 4/1978, Seite 161 ff.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 20 vom 18. Mai 1978 1195