Die chirurgische Behandlung der Colitis ulcerosa
Wilhelm Hartel und Jürgen Lenz
Aus der Abteilung Chirurgie
(Leiter: Oberfeldarzt Privatdozent Dr. med. Wilhelm Hartel) des Zentralkrankenhauses der Bundeswehr Koblenz (Chefarzt: Generalarzt Dr. med. Leo Nonn)
und der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Nordwest Frankfurt am Main (Direktor: Professor Dr. med. Edgar Ungeheuer)
Durch konservative Therapie ist eine sichere Heilung der Colitis ul- cerosa nicht möglich. 20 bis 30 Prozent der Patienten müssen ope- riert werden. Dazu zwingen besonders die therapieresistenten aku- ten und akut exazerbierten Verlaufsformen mit schweren Eiweiß-, Elektrolyt- und Flüssigkeitsverlusten. Auch Kranke. deren Colitis ul- cerosa länger als zehn Jahre besteht, sollten wegen Malignitätsge- fahr operiert werden. über 60 Jahre alte Patienten sind bei einer Exazerbation besonders bedroht. Da das Rektum fast immer miter- griffen ist, gilt heute die Proktokolekfomie mit lleostomie als Metho- de der Wahl. Operationen mit Erhaltung des rektoanalen Kontinenz- organs sind auf die Dauer zum Scheitern verurteilt.
Die Morbiditätsrelation, an Colitis ulcerosa zu erkranken, beträgt pro Jahr 6,5 zu 100 000 Einwohnern. Eine Heilung ist durch konservative Therapie nicht möglich. Dazu trägt die ungeklärte Ätiologie bei. Re- missionen können gelegentlich den Eindruck einer Heilung erwecken.
Auch an den Überlebenschancen hat die moderne konservative Be- handlung nichts geändert: Die Sterberate beträgt im Laufe von zwanzig Jahren weiterhin 50 Pro- zent.
Pathologisch-anatomisch ist die Colitis ulcerosa durch Ulkus- und Pseudopolypenbildung in Mukosa und Submukosa des Dickdarms gekennzeichnet; es werden drei Verlaufsformen unterschieden:
..,.. die chronisch-rezidivierende C'olitis ulcerosa (64 Prozent),
..,.. die chronisch-kontinuierliche Colitis ulcerosa (31 Prozent), ..,.. die akut fulminante Colitis ulce- rosa (fünf Prozent).
20 bis 30 Prozent der Betroffenen müssen chirurgisch behandelt wer- den. Dazu zwingen meist die thera- pieresistenten akuten oder akut exazerbierten Verlaufsformen mit schweren Eiweiß-, Elektrolyt- und Flüssigkeitsverlusten sowie die ma- ligne Entartung. Die Malignomquo- te steigt nach 25jähriger Krank- heitsdauer auf 40 Prozent (Darstel- lung 1)! Die Fünfjahresheilung des Dickdarmkarzinoms bei Colitis ul- cerosa beträgt auch nicht wie üb- lich 60, sondern nur etwa 18 Pro- zent.
Die Ausdehnung des chirurgischen Eingriffs hängt vom Ausbreitungs-
Wilhelm Harte!
Jürgen Lenz
KOMPENDIUM
Foto: privat
Foto: privat
modus der Colitis ulcerosa ab.
Nach einer Statistik der Maya-Kli- nik befällt sie den Dickdarm in 39 Prozent total (Proktokolitis). Seg- mentär sind folgende Darmab- schnitte in absteigender Reihenfol- ge betroffen: Rektum und Sigma 23,4 Prozent, Rektum, Sigma und Kolon bis zur linken Flexur 10,8 Prozent, Rektum allein 7,75 Pro- zent, Rektum, Sigma und Kolon bis zur rechten Flexur 6,5 Prozent. ln etwa zehn Prozent sind auch die
10 15 20 25 Jahre Dauer der kolitischen Symptome
Darstellung 1:
Abhängigkeit der Karzinom- entstehung von der Dauer der Colitis ulcerosa (modifiziert nach Goligher und Devroede) 50
40
c (t.
E 0 c '(-1-1 30 0 0 0
20
a.)
in 10 (1)
:re _c nach GOLIGHER
Tabelle 2: Nach Operation abklingende Begleitkrankheiten der Colitis ulcerosa
Primär monartikuläre Arthritiden Spondylarthritis ankylopoetika Leberveränderungen
Entzündliche Augenveränderungen Trommelschlegelfinger
Erythema nodosum und Pyoderma gangraenosum
25 Prozent 10 Prozent 9,3 Prozent 9 Prozent 4,5 Prozent 2,8— 3,5 Prozent III. Elektive Operation a) Invalidität
b) Drohende Karzinomentwicklung c) Lokale Komplikationen
d) Extraabdominale Begleiterkrankungen e) Verzögertes Wachstum
Tabelle 1: Indikationen und Zeitwahl der Operation bei chirurgi- scher Behandlung der Colitis ulcerosa (modifiziert nach Watkinson und de Dombal)
I. Notoperation a) Perforation
b) Unstillbare Blutung c) Toxisches Megakolon d) Verschlechterung über
60jähriger Patienten
II. Dringliche Operation a) Therapieresistenter Kolitisschub b) Karzinom
Colitis ulcerosa
untersten zehn bis 30 Zentimeter des Ileums ergriffen. In rund 93 Prozent der Fälle ist also das rek- toanale Kontinenzorgan beteiligt, was für die chirurgische Verfah-
renswahl von großer praktischer Bedeutung ist.
Indikationen
zur chirurgischen Behandlung Die Indikationen zur chirurgischen Behandlung der Colitis ulcerosa sind in der nebenstehenden Tabel- le 1 zusammengefaßt.
Notoperation
Eine Perforation des Dickdarms und eine unstillbare Blutung ver- laufen im Kolitisschub ohne chirur- gische Behandlung ausnahmslos letal. Die Perforation, deren Fre- quenz mit zwei bis drei Prozent an- gegeben wird, kann schwer er- kennbar sein, denn bei gleichzeiti- ger Steroidtherapie sind die Sym- ptome des akuten Abdomens de- zenter. Vier Fünftel der Patienten mit Dickdarmperforation überleben die sofortige Notoperation.
Bei zehn bis 15 Prozent der betrof- fenen Patienten nimmt die Colitis ulcerosa einen fulminanten Verlauf:
Rasche Nekrose der Mukosa, Thrombose der submukösen Gefä- ße sowie Schädigung von Muskel- schicht und Ganglienzellen tragen dazu bei, daß sich der Dickdarm durch Tonusverlust zum toxischen Megakolon erweitert. Klinisch ste- hen Schock, Azidose sowie Ka- lium- und Natrium-Verluste im Vor- dergrund. Das Risiko einer Perfo- ration ist bei fulminantem Verlauf hoch.
Bei über 60jährigen Patienten be- trägt die Letalitätsquote im akuten Schub ungefähr 21 Prozent; aus diesem Grund sollten sie nach kur- zer Vorbehandlung operiert wer- den.
Die Letalitätsrate beim Noteingriff ist mit 15 Prozent günstiger als bei konservativer Therapie.
878 Heft 13 vom 27. März 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Darstellung 2: Die chirurgischen Mog11cilke:ten bei der Co11tis ulcerosa - A. Proktokolektomie mit lleostomie - 8. Kai- ektomie mit lleostomie und erhaltenem Rektumstumpf - C. Kaiektomie und ileorektale Anastomose
Dringliche Operation
Bleibt eine Kolitis im Schub thera- pieresistent, ist dringlich zu operie- ren. Während man früher erst nach 14tägigen konservativen Maß- nahmen einen Eingriff erwog, wird heute nach vier- bis fünftägigem vergeblichem Versuch operiert.
Dadurch ließ sich die Gesamtmor- talität von 11,4 Prozent auf 4,5 Pro- zent senken.
Das oft erst spät diagnostizierte Dickdarmkarzinom stellt bei Kolitis eine dringende Operationsindika- tion dar. Charakteristisch ist die in 40 Prozent der Fälle multiple Loka- lisation und die primäre lnoperabi- lität. Die fünfjährige Überlebensra- te liegt nur bei 18,6 Prozent.
Elektive Operation
Die ulzeröse Kolitis hat als chroni- sche Erkrankung, die zur Invalidität führen kann, auch einen sozialen Aspekt: ln kurzen Abständen auf- tretende Rezidive mit häufigen und schweren Durchfällen quälen den Patienten Tag und Nacht; er wird isoliert. Daher sollte bei Invalidität von mehr als drei Jahren chirur-
gisch behandelt werden. Nur vier Prozent der Kranken können bei konservativer Therapie mit mehr- jähriger Rezidivfreiheit rechnen.
Auch bei drohender Karzinoment- wicklung ist es ratsam zu operie- ren. Dieses Risiko besteht bei
~ einem zehn Jahre überschrei- tenden Krankheitsverlauf; die Kar- zinommanifestation beträgt dann etwa zwölf Prozent, das Risiko stei- gert sich pro Dekade um 20 Pro- zent!
~ Krankheitsbeginn in der Jugend,
~ totalem oder subtotalem Dick- darmbefall,
~ Pseudopolypenbildung.
Jährliche Darmspiegelungen mit Probeexzisionen sind bei diesen Patienten zu empfehlen.
Unter den lokalen Komplikationen können auch Strikturen auf ein Karzinom hinweisen. Da gut- und bösartige Strikturen präoperativ nicht zu trennen sind, sollte auch in diesen Fällen operiert werden.
Rektovaginale, rektovesikale sowie innere Fisteln sind ohne definitive Operation nicht zu beseitigen. Ana-
le Abszesse, Fisteln und Fissuren allein sind dagegen nicht für einen chirurgischen Eingriff ausschlag- gebend.
Begleitkrankheiten, die auf eine autoimmunologische Ätiologie der Colitis ulcerosa hinweisen und durch konservative Maßnahmen nicht zu beheben sind, klingen nach radikaler chirurgischer Be- handlung ab (Tabelle 2). Nicht rückbildungsfähig sind Spondylar- thritis ankylopoetica und Leberzir- rhose.
Die bei Kindern häufig besonders schwer verlaufende Kolitis mit chronischem Eiweißmangel, ver- minderter Resorption von Vitamin B12 und hypochromer Anämie ver- zögert Wachstum und Entwicklung.
Eine ausgeprägte Entwicklungs- hemmung kann oft nur durch die Operation vermieden werden.
Chirurgische Möglichkeiten Die wichtigste Vorbedingung für ei- nen chirurgischen Eingriff ist der Ausgleich von Anämie und Eiweiß- defizit. Im akuten Fall bleibt dazu oft nur wenig Zeit. Als Standardein-
ee
Darstellung 4: Das elektiv entleerbare Ileostoma (nach Kock)
Darstellung 3:
Das eingenähte lleostoma
Colitis ulcerosa
griff bei der chirurgischen Behand- lung der Colitis ulcerosa gilt die Proktokolektomie mit Ileostomie.
Proktokolektomie mit Ileostomie Bei diesem Eingriff muß fast immer das befallene rektoanale Konti-
nenzorgan geopfert werden. Das Ileostoma sollte etwa drei Zentime- ter über dem Hautniveau angelegt werden (Darstellung 2 A). Auf die- ser Strecke kann das Ileum vom Mesenterium befreit sein, ohne daß seine Ernährung gefährdet ist. Die Benetzung der Haut mit ätzenden
Darmsekreten kann so verringert werden (Darstellung 3).
Ein Klebebeutel wird unmittelbar nach der Operation auf die trocke- ne, mit Methyläther gesäuberte Haut geklebt. Eine andere Ver- schlußmöglichkeit besteht in einem Beutel mit Flansch, entweder ein- oder zweiteilig, wenn Flansch und Beutel voneinander getrennt wer- den können. Wird die Haut wund, ist es ratsam, Karaya-Gummi (Traganth-Puder) aufzutragen.
Oft spielt sich die Entleerung des Bauchafters erst nach etwa sechs Monaten ein. Anfangs können star- ke Flüssigkeits- und Natrium-Verlu- ste im Stuhl bis zu 700 mval pro Tag (normal 5 mval), zu einem Vo- lumendefizit führen. Regulierend wirken regelmäßige Mahlzeiten und die Beschränkung der oralen Flüssigkeitsmenge auf einen Liter pro Tag.
In den letzten Jahren hat Kock ein Reservoir-lleostoma angegeben, das elektiv entleert werden kann.
Ein abschließendes Urteil über die- se Methode ist noch nicht möglich (Darstellung 4).
Kolektomie mit Ileostoma unter Belassung
des Rektumstumpfs
Bei diesem kleineren Eingriff, der mit einer geringeren Letalitätsrate verbunden ist, besteht die Möglich- keit, die Darmkontinuität später wiederherzustellen (Darstellung 2 B). Das Rektum muß allerdings oft wegen einer fortbestehenden oder exazerbierten Entzündung mit persiStierenden Begleiterkran- kungen in einem zweiten großen Eingriff entfernt werden.
Ileorektale Anastomose
Die Kolonresektion mit ileorektaler Anastomose wird von einigen Auto- ren für vertretbar gehalten. Ihr gro- ßer Vorteil ist die Erhaltung der Kontinenz (Darstellung 2 C). Auch Hegemann räumt ihr in zehn bis 15
880 Heft 13 vom 27. März 1975
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
AUSSPRACHE
Prozent eine Berechtigung ein.
Voraussetzung für diesen Eingriff ist ein histologisch entzündungs- freies Rektum. Gegen diese Metho- de sprechen die gleichen Argu- mente wie gegen die Belassung des Rektumstumpfs. Die meisten Chirurgen geben eine Versager- quote von 50 Prozent an. Dieses Verfahren muß daher als nicht ak- zeptabel bezeichnet werden, be- sonders auch im Hinblick auf die Gefahr eines späteren Rektumkar- zinoms.
Postoperative Komplikationen Von postoperativen Komplikatio- nen können betroffen sein:
• das Ileostoma,
• das Abdomen und die sakrale Wunde,
• die neurale Steuerung von Mik- tion und Sexualfunktion.
Ileostoma
Am Ileostoma kommt es durch Un- dichtigkeiten des Klebebeutels oder durch Dekubital- und Fadenfi- steln in 20 bis 25 Prozent der Fälle zu Hautreaktionen. Zu dieser Kom- plikation kann auch das zu wenig prominente Ileostoma beitragen.
Bei Anlage des Neostomas im Hautniveau kommt es in ein bis zwei Prozent zum Prolaps und in zehn Prozent zur Retraktion. Das Ileostoma ist dann neu einzunähen, besonders auch, wenn es sich nar- big verengt.
Abdomen und sakrale Wunde Torsionen und Verklebungen des Dünndarms mit lleussymptomen treten in etwa 15 Prozent der Ope- rierten auf. In 24,7 Prozent sind pe- rineale Wunden nach sechs 'Mona- ten noch nicht geschlossen; das ist besonders dann der Fall, wenn eine Kortikosteroidtherapie voraus- gegangen ist.
Miktion und Sexualfunktion Hält sich der Chirurg bei der Mobi- lisation des Rektums zur Schonung der Nervenbahnen nicht dicht ge- nug an der Darmwand, können bei männlichen Patienten postoperativ Erektion und noch häufiger Ejaku- lationen fehlen. Von Miktionsstö- rungen sind in diesen Fällen beide Geschlechter betroffen.
Ergebnisse der
chirurgischen Behandlung
Nach Goligher beträgt die postope- rative Letalitätsrate bei der chroni- schen Form drei Prozent. Im eige- nen Krankengut (Chirurgische Kli- nik des Krankenhauses Nordwest Frankfurt am Main) waren inner- halb von zehn Jahren (1963 bis 1973) unter 34 Patienten zwei postoperative Todesfälle zu ver- zeichnen.
Bei der akut fulminanten Kolitis kann die Operationsletalität auf 30 bis 40 Prozent ansteigen. Auch die Langzeitergebnisse der chirurgi- schen Behandlung schneiden im Vergleich zur konservativen Thera- pie günstiger ab: Nach einer Stu- die der Mayo-Klinik über 396 Pa- tienten, die während der Kindheit an Kolitis erkrankten, lebten ohne Operation nach 20 Jahren noch 50 Prozent, nach Proktokolektomie aber noch 75 Prozent.
Literatur bei den Verfassern
Anschrift der Verfasser:
Oberfeldarzt Privatdozent Dr. med. W. Hartei
Oberstabsarzt Dr. med. J. Lenz Bundeswehrzentralkrankenhaus 54 Koblenz
Rübenacherstraße 170
Die psychiatrisch- neurologische Begutachtung
der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen
Zu einem Beitrag von
Prof. Dr. med. Herbert Lewrenz in Heft 44/1974, Seite 3169
Auch uns erscheint die Praxis der Fahreignungsbegutachtung nach abgelaufenen endogenen Psycho- sen problematisch, ganz besonders dann, wenn aus einer einmal ge- stellten Diagnose die künftige Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen mehr oder weniger schematisch abgeleitet wird. Den genannten grundsätzlichen Überle- gungen des Gutachtens „Krankheit und Kraftverkehr" des Gemeinsa- men Beirats für Verkehrsmedizin ist daher aus unserer Sicht zuzu- stimmen, nicht aber den „Leitsät- zen" im einzelnen.
Die hierin vorgeschlagene „Fri- stenregelung" (Karenzzeit von sechs Monaten nach einmaliger Er- krankung an einer endogenen Psy- ch9se; Nachweis einer drei- bis fünfjährigen krankheitsfreien Zeit bei mehrfacher Erkrankung inner- halb von zehn Jahren, wobei eine Wiedererkrankung nach mehr als zehn Jahren als Neuerkrankung gelten soll) ist unserer Meinung nach willkürlich und medizinisch- wissenschaftlich nicht begründbar, darüber hinaus auch juristisch pro- blematisch. Mit der Mehrzahl der wissenschaftlichen Arbeiten der letzten 20 Jahre, besonders der empirischen Untersuchungen, ist vielmehr davon auszugehen, daß allgemein nach abgelaufenen en- dogenen Psychosen die Fahrtaug- lichkeit wiederhergestellt ist, es sei denn, daß spezielle, nach Art und Ausmaß beziehungsweise nach Wahrscheinlichkeit des (Wieder-) Auftretens genau beschreibbare Störungen gegeben sind. Solche Faktoren sind zum Beispiel psy- chotische Restsymptome, die zu