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Archiv "Was wurde aus den Reformideen?" (13.09.1990)

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Reinhard Pabst Was wurde

aus den Reformideen?

Kritik am Medizinstudium ist offensichtlich ein dankbares Thema, denn seit Jahren erscheinen aus berufenem und häufiger aus unbe- rufenem Mund meist vernichtende, pauschal urteilende Ausführun- gen über die Qualität der Lehre und über den Ausbildungsstand jun- ger Ärztinnen und Ärzte beim Studiumabschluß. Aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Medizinischen Hochschule Hannover soll im nachfolgenden dargestellt werden, daß sich eine ganze Reihe von Hochschullehrern durchaus für die Reform der Lehre einsetzt, neue Wege der Ausbildung sucht, und daß auf der anderen Seite äu- ßere Zwänge, die nicht die Fakultäten zu verantworten haben, viele Initiativen gebremst oder gar unmöglich gemacht haben.

THEMEN DER ZEIT

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

25 Jahre Ausbildung von Medizinstudenten an der Medizinischen Hochschule Hannover

N

ach nur kurzer Vorarbeit durch den Gründungsaus- schuß waren an der Medi- zinischen Hochschule Hannover bereits zum Sommerseme- ster 1965 die ersten 41 Medizinstu- denten immatrikuliert worden, ob- wohl die neue Hochschule damals noch keine eigenen Gebäude besaß.

Die Tierärztliche Hochschule Han- nover und die damalige Technische Hochschule halfen selbstlos aus.

An Stelle der geplanten 150 bis 200 Studenten pro Jahrgang mußten ab 1977 mehr als 400 Studenten jähr- lich aufgenommen werden. Das Ver- hältnis von Hochschullehrern zu Stu- denten verschlechterte sich von 1:3,4 im Jahr 1965 auf 1:18,2 im Jahr 1985 (1)*).

Es war früh ein Konzept entwik- kelt worden, in der Lehre neue Wege zu gehen, die sich deutlich von der damals gültigen Bestallungsordnung unterschieden und in vieler Hinsicht die Handschrift von Fritz Hartmann trugen, dem ersten gewählten Rek- tor der Medizinischen Hochschule.

Dieses Reformkonzept kann in vier Punkten zusammengefaßt werden:

Verzicht auf die starre Trennung zwischen Vorklinik und Klinik, fä- cherübergreifender Blockunterricht, praxisbezogener Kleingruppenunter- richt am Patienten und Betonung des selbständigen Studiums für Stu- denten in höheren Semestern. Die

Ähnlichkeit zu den viel später vorge- stellten Forderungen des Wissen- schaftsrates von 1988 (2) oder zu an- deren Reformkonzepten ist offen- sichtlich.

Eine wirklichkeitsferne Kapazi- tätsverordnung aber bedingte Ver- waltungsgerichtsprozesse. Es stieg nicht nur die Zahl der zugelassenen Studenten, sondern die Experimen- tierfreude engagierter Hochschul- lehrer wurde dadurch erstickt, daß höchstrichterlich festgelegt wurde, welche Lehrveranstaltungen medizi- nische Fakultäten als notwendiges Minimum anbieten müßten. Die Me- dizinische Hochschule hatte sich da- gegen als Ziel gesetzt, möglichst eine optimale Ausbildung der angehen- den Ärztinnen und Ärzte anzustre- ben. Sinnvolle, ergänzende Lehrver- anstaltungen wurden jedoch als „un- erlaubte Niveaupflege" disqualifi- ziert.

• Ist es in dieser Situation be- rechtigt, den Hochschullehrern pau- schal den Vorwurf zu machen, sie engagieren sich nicht in der Reform der Lehre, und alle medizinischen Fakultäten hätten die Entwicklun- gen verschlafen?

Trotz der widrigen äußeren Be- dingungen blieben einige Ideen am

*) Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf das Literaturverzeichnis beim Sonder- druck.

Leben. Es sollen nur wenige Beispie- le erwähnt werden, die vielleicht auch als Anregungen für andere Fa- kultäten dienen können.

Klinische Bezüge in der Vorklinik

Die starre Kapazitätsverord- nung kann jede Einbeziehung eines Klinikers in die vorklinische Pflicht- lehre mit einer Erhöhung der Stu- dentenzahl bestrafen. Deshalb sind die hier angeführten Lehrveranstal- tungen, die die Kluft zwischen Vor- klinik und Klinik schließen sollen, bisher als freiwillige Ergänzungen angeboten und auch im Lehrdeputat der Lehrenden nicht berücksichtigt worden.

Bereits im ersten Semester stel- len Hochschullehrer ihre jeweiligen klinischen und klinisch-theoreti- schen Fächer in einer einstündigen Vorlesungsreihe vor. Damit werden die Studenten früh auf die Breite der Medizin und auf unterschiedliche Einstellungen und Verhaltensweise hingewiesen.

Im dritten Semester bieten In- ternisten eine Vorlesung „Klinik für Vorkliniker mit Patientenvorstellun- gen" an. Dabei wird auf allgemeine Aspekte von Krankheit, Kranksein und dem Kenntnisstand der Studen- ten angepaßte Symptome und psy- chologische Fragestellungen beson- derer Wert gelegt. Im Kurs „Medizi- nische Soziologie" nimmt das Haus- besuchsprogramm eine zentrale Stel- lung ein. Der einzelne Student be- gleitet einen Arzt bei Hausbesuchen, geht später nochmals alleine zu ei- nem chronisch kranken Patienten und beschreibt in einem Bericht, welche sozialen und psychischen Probleme sich durch die Krankheit für den Patienten ergeben haben so- wie welche Rolle der Arzt bei der Bewältigung dieser Situation spielt.

Dieses Unterrichtsangebot wird ge- meinsam von den Abteilungen Medi- zinische Soziologie und Psychologie und der Abteilung Allgemeinmedi- zin betreut.

Dt. Ärztebl. 87, Heft 37, 13. September 1990 (23) A-2691

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Anatomie am Lebenden

An der Medizinischen Hoch- schule beginnen die Vorlesung Mak- roskopische Anatomie und der Prä- parierkurs bereits im 1. Semester und erstrecken sich bis zum Ende des 2. Semesters. Damit soll neben den naturwissenschaftlichen Fä- chern möglichst früh auf die für die ärztliche Tätigkeit wichtige Anato- mie hingewiesen werden. In Koordi- nation mit dem Stoff der Vorlesung und des Kurses an der Leiche versu- chen die Studenten im Kurs Anato- mie am Lebenden, die gerade ge- lernten Strukturen und Funktionen am Körper des Kommilitonen zu identifizieren (3).

Der Student zeichnet die Pro- jektion innerer Organe auf die Kör- peroberfläche, mißt den Bewegungs- umfang der Gelenke, prüft Reflexe und den Status von peripheren Arte- rien und Venen. Außerdem kann der Student durch Palpation, Perkussion und Auskultation Schlüsse auf die Lage und Funktion innerer Organe ziehen. Damit lernt der Student, sei- ne Kenntnisse am Lebenden anzu- wenden.

Der Kurs wird in kleinen Grup- pen mit stets wechselnden Rollen zwischen „Patient" und „Arzt"

durchgeführt. So wird ein weiteres wesentliches Ziel erreicht: der Stu- dent erlebt in seiner Rolle als „Pa- tient", wie wesentlich eine rück- sichtsvolle Untersuchung ist. Damit übt der Student humane ärztliche Verhaltensweisen früh ein, was be- sonders in der Vorklinik wesentlich ist, weil die Übungen an der Leiche eher dehumanisierend wirken kön- nen, wie Lippert ausgeführt hat (4).

Patientenvorstellung, Filme und

Röntgenanatomie

Parallel zur Vorlesung und dem Kurs der Makroskopischen Anato- mie werden den Studenten zweimal wöchentlich Filme aus der Klinik ge- zeigt, zum Beispiel Operation eines künstlichen Hüftgelenks, wenn die

Regio glutaea präpariert wurde. Ein Kollege aus der Röntgendiagnostik erläutert an Beispielen, wie mit bild- gebenden Verfahren anatomische Strukturen in der Klinik dargestellt werden können. Außerdem stellen Kollegen aus der Klinik den Studen- ten Patienten mit Krankheiten vor, die den gerade gelernten Themen entsprechen und ohne zusätzliche diagnostische Maßnahmen von den jungen Studenten verstanden wer- den können; beispielsweise Patien- ten mit arterieller Verschlußkrank- heit der Beinarterien oder Krampf- aderleiden, wenn die Studenten die Beine präpariert haben. Weitere Themen sind periphere Nervenschä- den, orthopädische Probleme des Rückens und der Extremitäten sowie Möglichkeiten der Ultraschalldia- gnostik am Herzen und im Ober- bauch. Damit erleben die Studenten die Relevanz ihrer ersten medizini- schen Kenntnisse (5). Neben diesem

Wahlmöglichkeiten neben

Pflichtveranstaltungen

Das klinische Curriculum ist an der Medizinischen Hochschule so gestaltet, daß das 9. Semester teil- weise und das 10. Semester völlig von Pflichtlehrveranstaltungen freigehal- ten sind. Es wird vom „wahlfreien Jahr" gesprochen. Dem fortgeschrit- tenen Medizinstudenten soll die Möglichkeit gegeben sein, selbst Schwerpunkte zu setzen und eigen- verantwortlich zu entscheiden, mit welchem Thema er sich intensiver beschäftigen möchte. Neben den Veranstaltungen für „Hörer aller Se- mester" gibt es für dieses Jahr spe- zielle „Electives". Neben themenbe- zogenen, fächerübergreifenden Elec- tives von mehreren Dozenten gibt es Electives in auswärtigen Kranken- häusern, die von extern tätigen Hochschullehrern angeboten wer- den. An der Medizinischen Hoch- schule habilitierte Ober- und Che- färzte kommen nicht mehr zu Spe- zialvorlesungen nach Hannover ge- reist, sondern die Studenten fahren in die Krankenhäuser, wo spezielle

Unterrichtsangebot für die Studen- ten im 1. und 2. Semester gibt es pa- rallel zum Block Neuroanatomie ei- ne themenbezogene Patientenvor- stellung im 3. Semester durch einen Neurologen gemeinsam mit dem Neuroanatomen (6).

Das Konzept zur Verzahnung vorklinischer und klinischer Lehrin- halte besteht demnach in folgenden wichtigen Punkten:

D Klinische Bezüge müssen über alle vorklinischen Semester ver- teilt und damit wiederholt herausge- arbeitet werden.

D Klinische Bezüge müssen im Zusammenhang mit verschiedenen Fächern dargestellt werden.

1> Vertreter unterschiedlicher Spezialgebiete sollen sich an der Heranführung der Studenten an eine am Patienten orientierte Lehre be- teiligen.

Themen an Patienten gelehrt wer- den, die in Hochschulkliniken selten zu finden sind.

• Mehr als 100 derartige Elec- tives wurden im Wintersemester 1989/90 den Studenten angeboten.

Die Studenten sind bereit, von Han- nover bis Bad Lippspringe, Fulda oder sogar Karlsruhe zu fahren. Ist das nicht ein Hinweis auf die Rich- tigkeit dieses Konzepts? Im „wahl- freien Jahr" können die Studenten aber auch die Zeit für anspruchsvolle Dissertationsarbeiten nutzen oder ins Ausland gehen.

Förderung von

Auslandsaufenthalten

Durch großes persönliches En- gagement einzelner Hochschullehrer sind Kontakte zu Medizinischen Fa- kultäten und Krankenhäusern im Ausland aufgebaut worden. Vor zehn Jahren wurde das „Biomedical Science Exchange Program" von Hannover aus gegründet, das Medi- zinstudenten einen einjährigen Stu- dienaufenthalt in den Vereinigten Staaten ermöglicht, wie E. Pflanz A-2692 (24) Dt. Ärztebl. 87, Heft 37, 13. September 1990

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Blick aus der Vogelperspektive auf die Medizinische Hochschule Hannover kürzlich im DEUTSCHEN ÄRZTE-

BLATT erläuterte (7). Besonders in- tensive Kontakte für Famulaturen bestehen nach Großbritannien. Ne- ben offiziellen Programmen haben Studenten zudem durch Eigeninitia- tive Famulaturplätze in fast allen Ländern der Erde gefunden und sind voller medizinischer und mensch- licher Erfahrungen zurückgekehrt.

• In den vergangenen Jahren sind jeweils mehr als 300 Studenten der Hochschule für mindestens ei- nen Monat im Ausland gewesen. Bei 420 Studenten pro Jahrgang ist das eine erfreulich hohe Anzahl. Kann man dann von einer mangelnden Mobilität der heutigen Studentenge- neration sprechen, wie sie immer wieder beklagt wird?

Abbau der Anonymität zwischen Studenten und Hochschullehrern

Zu Recht ist oft hervorgehoben worden, daß ein Medizinstudent sei- ne gesamte Ausbildung durchlaufen kann, ohne persönlichen Kontakt zu auch nur einem einzigen Hochschul- lehrer zu finden. Unter den Studen- ten der einzelnen Jahrgänge ist der Kontakt miteinander ebenfalls oft unbefriedigend.

Eine Einrichtung der Grün- dungsjahre der Medizinischen Hoch- schule Hannover wurde in modifi- zierter Form wiederbelebt: Mehr als 70 Hochschullehrer erklärten sich bereit, als „Tutor" für eine Studen- tengruppe zur Verfügung zu stehen.

Aus jedem Studentenjahrgang kön- nen sich jeweils zwei Studenten solch einer Gruppe anschließen, so daß stets pro Jahr zwei Studenten nach dem Examen ausscheiden und zwei Erstsemester hinzukommen.

Dieser Tutor soll ein Ansprech- partner nicht nur für Probleme im Studium sondern auch für solche pri- vater Art sein. Die Gruppen treffen sich in unterschiedlicher Häufigkeit und Form. Es ist ein Versuch, trotz großer Studentenzahlen der Anony- mität entgegenzuwirken.

Neben diesen Beispielen von Reformbemühungen in der Lehre an der Medizinischen Hochschule Han-

nover gibt es weitere erwähnenswer- te Punkte. Seit 1976 besteht eine Ab- teilung Allgemeinmedizin. Es war die erste planmäßige Professur für dieses Fach an einer medizinischen Fakultät.

Mit dem Schritt sollte eine Mög- lichkeit erprobt werden, die bedeu- tende Rolle der Allgemeinmedizin in der Ausbildung der zukünftigen Ärz- te zu stärken. Dieses Fach mit seiner Integration schon in die Vor- klinik sowie der Vorlesung und dem Kurs der Allgemeinmedizin ist zudem von großer Bedeutung für fächerübergreifende Lehrangebote wie die arzneitherapeutische und geriatrische Konferenz.

Zu wenig gewürdigt wird oft auch das Engagement vieler Ärzte in den ungezählten akademischen Krankenhäusern. Hier wird das Aus- bildungsdefizit in praktischen Fertig- keiten in großem Umfang ausgegli- chen.

An der Medizinischen Hoch- schule Hannover saßen Studenten- vertreter seit der Gründungszeit in akademischen Gremien, Berufungs- und Habilitationsausschüssen, und ihre Argumente gingen in die Ent- scheidungen ein. Es waren keine starren „Prozentsätze", sondern an den Fragestellungen orientierte Be- teiligungen der Studenten.

Wiederholt sind von Studenten Anstöße zur Verbesserung der Leh- re ausgegangen, wie jüngst die Vor- bereitungen, entsprechend dem

„Münsteraner Modell" auch in Han- nover die praktische Ausbildung zu verbessern.

Die Medizinischen Fakultäten brauchen einen Freiraum für Reformmodelle

• Diskussionen um die Lehre in den Medizinischen Fakultäten sind notwendig und sinnvoll. Beim Abwägen zwischen Forschung, Leh- re und Krankenversorgung sollte das Engagement in der Lehre sicher hö- her bewertet werden als bisher. Aber sind pauschale oft überzogene und unsachliche Kritiken hilfreich? Ist es nicht wesentlicher, auf Reformansät- ze an einzelnen Fakultäten und auf den großen Einsatz einzelner Hoch- schullehrer hinzuweisen? Die Lehre an der Medizinischen Hochschule hat nur durch das Engagement vieler Hochschullehrer neue Wege gehen können.

Die Medizinische Hochschule Hannover hat nie den Anspruch er- hoben, die Lösung oder das Konzept für die Lehre erarbeitet zu haben.

Vieles wurde erprobt, modifiziert oder verworfen, weil nicht nur ge- setzliche Hürden die Reformen ein- engten oder verhinderten, sondern auch weil in manchen Fragen der Einsatz von ausreichend vielen Hochschullehrern fehlte oder — das Dt. Ärztebl. 87, Heft 37, 13. September 1990 (27) A-2695

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AUSSPRACHE

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

muß ebenfalls erwähnt werden — die Studenten Angebote nicht aufnah- men. Neue Wege müssen erprobt und auf ihre Durchführbarkeit und den Erfolg überprüft werden. Dazu müssen die medizinischen Fakultä- ten mehr Freiräume erhalten.

• Der Ruf nach mehr Freiräu- men in der Approbationsordnung für Reformmodelle in der Lehre wird erfreulicherweise in den letzten Jah- ren lauter. Warum können die Ge- sellschaft und ihre Politiker den Fa- kultäten nicht diesen Freiraum ge- ben und darauf vertrauen, daß er verantwortungsbewußt und sinnvoll genutzt wird? Bei der rechtlichen Si- tuation in der Bundesrepublik Deutschland und den allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingun- gen sind völlig neue Reformstudien- gänge wie im Ausland — es sei an Ha- milton, Maastricht, Calgary und Har- vard erinnert (8, 9) — in absehbarer Zeit kaum zu verwirklichen.

Der Murrhardter Kreis hat eine Fülle von lesenswerten Anregungen für eine Reform des Medizinstudi- ums erarbeitet (9). Es sollten alle Aktivitäten einzelner Fakultäten zur Reform der Lehre nicht behindert, sondern gefördert werden. Neue An- sätze müssen dann kritisch überprüft werden, bevor sie in Gesetze aufge- nommen und für alle Fakultäten zur Pflicht werden.

Von Uexküll hat kürzlich wieder den Vergleich mit der Einführung ei- nes neuen Medikaments verwendet (10). Kein Medikament darf ohne vorangegangene Überprüfung der Wirksamkeit und der Nebenwirkun- gen in kritisch kontrollierten Testan- wendungen zugelassen werden.

Müßten nicht die gleichen Kriterien für Änderungen der Ausbildungsvor- schriften wie der Approbationsord- nung gelten?

Literatur beim Sonderdruck

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med.

Reinhard Pabst Prorektor

für Studium und Lehre Medizinische Hochschule Hannover

Postfach 61 01 80 3000 Hannover 61

Ethik ist unteilbar

Ich frage mich, warum Men- schen, die sich Philosophen nennen, also persönlich besonders wenig mit menschlichen Grenzsituationen zwi- schen Leben und Tod konfrontiert sind, mit so viel Begeisterung, Mit- leid oder eben Selbstmitleid fordern, daß nicht nur unheilbar Kranke, die für sich sprechen können, das Recht haben sollen, sich von ihrem Arzt tö- ten zu lassen, sondern auch unheil- bar Kranke, die nicht für sich spre- chen können, in ihrem wohlverstan- denen eigenen Interesse getötet wer- den dürfen. Eine Antwort auf meine Frage mag darin zu finden sein, daß diese Philosophen sich Bio-Ethiker nennen. Diese merkwürdige und gänzlich unphilosophische Wortbil- dung verweist darauf, daß sie gar nicht im Namen der allgemeinen Ethik sprechen wollen, wie sie zum Beispiel Hans Jonas uns gerade in seinem „Prinzip Verantwortung"

vorgestellt hat. Sie beanspruchen al- so eigentlich nur Ethik unter dem Aspekt von Bios. Ethik aber ist un- teilbar, oder sie ist keine Ethik. Hier- in besteht der erste Denkfehler von Frau Kuhse und ihren Freunden.

Der zweite Denkfehler liegt dar- in, daß sie sich auf eine utilitaristi- sche Denkweise beschränkt, der es um das größte Glück der größten Zahl geht. Sie interessiert sich also gar nicht für den oder die Menschen in allen denkbaren Hinsichten. Etwa dafür, daß jeder Mensch auf alle an- deren Menschen verwiesen ist, daß alle Menschen sich wechselseitig Sinn und Bedeutung zuschreiben.

Der Utilitarismus ist eine Denkwei- se, die sich in den Prinzipien der Marktwirtschaft hervorragend be- währt hat. Der bessere Betrieb darf den schlechteren Betrieb vernichten.

Von zwei Arbeitnehmern bekommt

der bessere einen Arbeitsplatz. Es ist aber verboten, dieses Denkmodell unbesehen auf alle anderen Situatio- nen der Menschen anzuwenden, schon gar auf Situationen des Ster- bens.

Dritter Denkfehler: Euthanasie bezieht sich auf die Zeit des Sterbens als eine Zeit des Lebens des Men- schen. Frau Kuhse weitet dies uner- laubterweise auf unheilbares Krank- sein und Behinderung aus.

Vierter Denkfehler: Frau Kuhse geht vom isolierten Individuum aus, als ob wir alle Robinsons seien. Phä- nomenologisch gibt es Menschen pri- mär nur im Plural. Erst durch einen Akt technischer Abstraktion kom- men wir zum Individuum.

Fünfter Denkfehler: Daher macht sie methodisch immer wieder denselben Fehler, daß sie sich die schrecklichsten Extremfälle der Welt zusammensucht, die für ihre Interes- sen nützlich sind, was nicht schwer ist, da es für alles Beispiele gibt. Die- se Einzelfälle verallgemeinert sie und fordert obendrein, daß ihre Ver- allgemeinerungen zu Gesetzen wer- den sollen, was eindrucksvoll, weil mitleiderregend, aber falsch ist.

Der sechste Denkfehler besteht darin, daß sie von dem Satz „das Le- ben gehört mir, aber ich gehöre auch dem Leben" den ersten Teil verabso- lutiert („freier Tod für freie Bür- ger"), dafür den zweiten Teil unter- schlägt.

Erst an siebter Stelle erwähne ich noch ihre unglaubliche histori- sche Ignoranz, die daher ebenfalls einem Denkfehler gleichkommt:

Wenn sie sich nur ein wenig mit der Geschichte unvoreingenommen be- schäftigt hätte, wüßte sie, daß die von ihr gewählte Denkfigur schon lange vor den Nazis angewandt wur- de und regelmäßig — logisch — zur Forderung nach Tötung aller Unheil-

Warum Diskussion

der aktiven und der passiven Euthanasie auch in Deutschland unvermeidlich ist

Zu dem Beitrag von Dr. phil. Helga Kuhse in Heft 16/1990

A-2696 (28) Dt. Ärztebl. 87, Heft 37, 13. September 1990

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