[104] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 26|
2. Juli 2010VON SCHRÄG UNTEN
Erste Hilfe
Dr. med. Thomas Böhmeke
E
s ist 20 Uhr; Zeit, sich über alles Neue in der Welt zu informie- ren. Nachdem der Nachrichtenspre- cher die Komplikationen in Afgha- nistan und die Abgründe der Wirt- schaftskrise dargelegt hat, berichtet er über einen Unfall auf einer stark frequentierten Autobahn. Traurige Bilder, wie ich sie aus meiner Zeit als Notarzt leider kenne; schreiende Menschen, leblose Körper, brennen- de Autos, überall Chaos. Auf der Ge- genfahrbahn staut sich der Verkehr.„Das ist unglaublich“, meint meine bes- sere Hälfte, „die stehen da und glotzen und lamentieren! Kommt denn keiner von diesen Gaffern auf die Idee, Erste Hilfe zu leisten?“
Nun, ich fürchte, da urteilt sie ein wenig zu schnell, die Gescholtenen sehen das völlig anders.
Hilfe wird von den nicht in den Unfall verwickelten Autofahrern, auch von denen auf der Gegenfahrbahn, durchaus geleistet. Es ist halt nur eine andere Form der Hilfestellung. So ist zu beobachten, dass Fahrzeuge ganz, ganz langsam vorbeifahren. Aus der Tatsache, dass sie nicht stehenbleiben, kann man schließen, dass sie den hinter sich befindlichen Fahrern gern Hilfe dabei leisten, einen besonders aussichtsreichen Blick auf die Unfallstelle zu erhaschen. Anders ist das Ver- halten von Autofahrern zu kommentieren, die stehen- bleiben und aussteigen, um gestikulierend im sicheren Abstand von der Unfallstelle zu verharren. Diese Men- schen informieren andere darüber, dass ein allzu beherztes Eingreifen von Laien juristische Komplika - tionen nach sich ziehen könne, man solle lieber das Eintreffen der Rettungskräfte abwarten. Diese Form der moralischen Hilfestellung wird immer gern in An- spruch genommen, entbindet es doch die Schaulus - tigen scheinbar von der Pflicht, Erste Hilfe für die Unfallopfer zu leisten. Auch sonst wird rege Hilfe ge-
leistet. Bei derartigen Unfällen haben viele Menschen das Bedürfnis, Kontakt mit ihren daheim weilenden Liebsten aufzunehmen, um über das unfassbare Ge- schehen live zu berichten. In ihrer Hilfsbedürftigkeit wenden sie sich dann an andere, die gern ihr Mobil- funktelefon hilfreich zur Verfügung stellen. In der Hektik wird einzelnen Schaulustigen gelegentlich auch das Bedienen der Digitalkameras zum Problem, auch hier finden sich hilfsbereite Mitmenschen, die mit Rat und Tat zur Seite stehen.
„Hör auf, das ist nicht zu ertragen, was hast du nur für ein schlechtes Bild von den Menschen!“ Wieso schlechtes Bild? Ich bin sechs Jahre als Notarzt gefah- ren, da hat man keine Illusionen mehr. Das ist die pure Realität, die man gerade im Fernsehen sieht.
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.