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Archiv "Krise und Zukunft der Medizin" (06.10.1977)

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Briefe an die Redaktion

schossen sie mit ihren alten Vorder- laderpistolen in die Luft. Ob zur Be- grüßung oder Abschreckung war uns nicht klar. Wir ließen unser Ge- päck zurück und machten uns auf zum Anstieg auf den Gipfel, der sich vor uns etwa 600 m hoch als riesiger Buckel erhob. In praller Mittagsson- ne quälten wir uns aufwärts. Kein Mensch und kein Tier begegnete uns. Über große Steinplatten turnten wir aufwärts. Spuren früherer Gene- rationen in Form von riesigen be- hauenen Steinblöcken ließen uns wundern. Später erfuhren wir, daß auf allen Bergen des Olymp (des Sit- zes der Götter) solche Altäre gesetzt waren. Es war Mittag geworden, als wir den Gipfel erreichten. Der Aus- blick war gewaltig. Berg reihte sich an Berg, Gipfel an Gipfel. Nach Osten zu ahnte man die Weite

Die Münchner Jungen-Gruppe (ganz rechts der Autor) auf dem Gipfel des Ulu- dag am 28. Juli 1928

Asiens, nach Norden im Dunst des Mittags war das 200 km entfernte Konstantinopel als kleine Silhouette zu erkennen. Der Abstieg war schnell bewältigt. Von der Hütte ab benützten wir den Saumpfad der Treiber. Es war bereits dunkel, als wir Bursa, die Stadt der Bäder, hei- ßen Quellen und Moscheen erreich- ten. Welch ein Unterschied zwi- schen damals und heute. Die größte Konstantinopler Tageszeitung „al Gumhuriet" brachte eine halbe Seite unserer Bergbesteigung (23. Juli 1928). Damals stieg, wenn es nicht sein mußte, kein Türke auf einen Berg.

Dr. med. A. Jüngling Jos.-Aberger-Straße 9 8211 Unterwössen Spektrum der Woche

Aufsätze • Notizen

FORUM

Wenn es zwar der Patient kaum während einer Behandlung bei sei- nem Arzt bemerkt haben dürfte, so hat er es doch längst aus Zeitun- gen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen erfahren: Die Medizin befindet sich in einer Krise, und alle an ihr auch nur entfernt Betei- ligten schieben einander gegensei- tig die Schuld dafür in die Schuhe:

die Krankenkassen, die Kranken- hausverwaltungen, die Ärzte, die Apotheker, die pharmazeutische und medizintechnische Industrie, die Baufirmen, die Sozialämter und natürlich die Politiker aller Schat- tierungen, welche gar wohl wissen, wie sich im schrankenlosen Ge- währen sozialer Hilfen die Gunst der Wähler am leichtesten und si- chersten gewinnen läßt.

Zum krisenumfassenden Schwur- wort wurde der Ausdruck „Kosten- explosion" erkoren und die Lö- sung der Krise in die überraschen- de Formel gegossen: „Alles billi- ger, aber trotzdem immer noch mehr und besser."

Damit sollte man einmal einkaufen gehen.

Tiefschürfende Arbeiten mit gewal- tigen statistischen Unterlagen ha- ben noch vor wenigen Jahren die Bettennot bewiesen und die Errich- tung neuer Krankenhäuser stür- misch verlangt, während sie heute ebenso unanfechtbar den Betten- berg nachweisen und die Schlie- ßung von Krankenhäusern katego- risch fordern. Der einfache Mann,

also wir, stehen diesem zwar schwankenden, aber immer redli- chen Bemühen um unser Wohl be- glückt und dankbar gegenüber, denn so viel krank, wie wir Steuern zahlen, dürften wir kaum jemals werden, und wenn wir dereinst ein- mal rasch gesund sterben, haben wir alles getan, was wir zur Sanie- rung der Medizin beitragen kön- nen.

Hat es in der Medizin schon frü- her einmal Krisen gegeben, aus welchen wir für heute lernen könn- ten? Ein Vorteil unseres Zeitalters liegt darin, daß wir wie kein ver- gangenes die Geschichte alles Werdens überblicken, auch jene der Medizin. Lassen wir sie als Kurzfilm schnell an uns vorüber- flimmern.

Kurzfilm der Medizingeschichte Von der Magie, der Kräutermedizin und den Steinmessern des Urmen- schen, die immerhin zur Trepana- tion und zur Beseitigung aller psy- chosomatischen Leiden reichten, also eine Heilquote von wenigstens 50 bis 60 Prozent aufwiesen, und sich nicht um Gerontologie und Säuglingssterblichkeit zu kümmern brauchten (ein Auslesefilter am Eintritt in das Leben und ein siechfreier Abgang aus ihm waren gewiß nötig und ohne Krankheits- wert), gelangen wir zu den ersten uns bekannten Hochkulturen, für die hier vor allem — einander oft ähnlich — Ägypten erwähnt sei. Es

Krise und Zukunft der Medizin

August Vogl

Ein Arzt macht sich Gedanken über die Zukunft der Medizin, die er zum erstenmal in ihrer Geschichte in einer wirklichen Krise sieht:

einer Krise, entstanden aus ihrer Überdosierung und daraus, daß sie sich aus ihrer Einbindung in das Menschliche, in das Psychische, in die Religion gelöst hat. — Der Autor war Chefarzt der chirurgischen Abteilung eines städtischen Krankenhauses und befindet sich seit kurzem im Ruhestand.

2400 Heft 40 vom 6. Oktober 1977 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen Krise und Zukunft der Medizin

treten Priesterärzte auf, die Psy- chotherapie verfeinert sich im Tem- pelschlaf (Traumanalyse), magische Formeln und Amulette werden ge- braucht, doch beginnt auch eine Erfahrungsheilkunde mit Diagno- sen, Prognosen und therapeuti- schen Indikationen. Zahlreiche pflanzliche Medizinen, Salben und Physiotherapie werden angewen- det. Schienung von Frakturen wird geübt. Die sich in Städten ballen- den Menschenmassen und das warme Klima verlangen hygieni- sche Einrichtungen und Vorschrif- ten, Kanalisation, Klosetts und reli- giös verpackte Gebote wie etwa den täglichen Hemd- oder Schurz- wechsel. Das klinische Niveau wächst, eine zunehmende Speziali- sierung nach Organen und Heilme- thoden tritt hinzu. Sämtliche Heil- maßnahmen verlassen aber auch in der Empirie niemals den religiösen Rahmen. Trotz Einbalsamierung entwickelt sich keine Anatomie. In Mesopotamien galt jede Erkrankung als Bestrafung für eine Sünde. Un- willkürlich denkt man hier an das Bronchialkarzinom der heutigen Raucher.

Ähnliche Verhältnisse finden sich auch in den großen fernöstlichen Kulturen. In China folgt die Heil- kunde naturphilosophisch dem uni- versalen Prinzipiendenken des Yang-Yin, entwickelt eine umfang- reiche Arzneipflanzenkunde und eine wirkungsvolle Physio- und Neuraltherapie in Akupunktur und Moxa. In Indien zeigt sich die Heil- kunde in einer Mischung von reli- giösen Vorstellungen und einer bald recht schematisierten einfa- chen Wissenschaft. Krankheitsbil- der werden beschrieben. Hygiene und Vorbeugung (Ansätze einer Impfung) spielen eine bemerkens- werte Rolle. Im Zentrum der Thera- pie steht die Diätetik, Anweisungen nicht nur für eine bekömmliche Nahrung, sondern für eine allge- meine gesunde Lebensführung.

Glüheisen, Blutegel, Hautplastiken, Anästhesie mit Wein und Hypnose sind bekannt. Sehr wichtig bleibt stets die Prognosestellung. Unheil- bare dürfen nicht behandelt wer-

den, aus welchen Motiven immer, ob nun die Autorität der Götter, das Ansehen des Arztes oder den Geldbeutel des Patienten zu scho- nen. Ein ähnlicher Passus findet sich auch in älteren Fassungen des hippokratischen Eides, dessen Ur- sprung nach Indien weist. Bei uns hat man ihn später weggelassen, seit je die eleganteste Art, um Un- bequemlichkeiten auszuweichen.

Damit wären wir bereits bei den Griechen. Ihnen gelang zuerst die Trennung der medizinischen Praxis von religiösen Vorstellungen. Sie bemühten sich, wie auf allen Ge- bieten auch in der Medizin die Welt auf natürlichen Grundlagen zu ver- stehen. Sie machten sich frei von magischem Denken. Man erfand die wissenschaftliche Kausalität, Die Ärzte wurden unabhängige Handwerker, gingen bei einem Meister in die Lehre, doch befaß- ten sich auch mit Philosophie und Rhetorik. Der Ärztestand legte noch Wert auf Allgemeinbildung.

Hier, jetzt, an diesem Wendepunkt wäre die erste Krise der Medizin zu erwarten gewesen. Sie blieb — wunderbarerweise — aus. Die grie- chischen Ärzte waren offenbar zu klug, um der Magie öffentlich abzu- sagen. Sie behielten den Tempel- schlaf und andere magische Prakti- ken bei. Ein wissender Therapeut verwendet alles, wenn es nur hilft.

Auch Magie wird so kühle Empirie.

Die griechische Heilkunde trachte- te nach der Behandlung des gan- zen Menschen, nicht einer Krank- heit oder eines Organes. Die Diät in umfassendem Sinne beherrscht ihre Rezeptur. In den späteren alexandrinischen Schulen wurden Anatomie und Physiologie gelehrt.

Die Chirurgie nahm einen bemer- kenswerten Aufschwung: Blutstil- lung durch Ligatur (später für Jahr- hunderte wieder vergessen), Kropf-, Bruch- und Staroperationen, Ader- laß. Purgieren. Arzneimittelkun- de, hauptsächlich Pflanzen. Abge- wogene Ethik. Herophilos: „Der be- ste Arzt ist derjenige, der das Mög- liche vom Unmöglichen unterschei- den kann." In Rom staatlich ange-

stellte Ärzte, Krankenversiche- rungsgesellschaften, Anfänge einer Sozialmedizin. Bewundernswerte Hygiene: Wasserleitungen, Kanali- sation und Bäder, Bäder. Zuletzt Galen in breiter Polypragmasie für lange Zeit. Humoralpathologie.

Dann sinkt die Heilkunde in unse- rem Kulturkreis jedoch in die mit- telalterliche Mönchsmedizin zu- rück. Klosterschulen. Wieder Prie- sterärzte. Dennoch eine gewisse Kontinuität abendländischer Heil- kunde, auf Umwegen gespeist aus Übersetzungen früher griechisch- arabischer Kompendien mit neue- ren Zutaten. Avicenna. Diese mo- nastische Medizin endet mit dem Konzil von Clermont 1130: Den Mönchen wurde jede ärztliche Tä- tigkeit verboten. Vielleicht waren sie bereits konkurrenzunfähig gewor- den. Kirchengebundene Laien be- handeln weiter. Steriles Haften an klassischen Autoritäten. Astrologie.

Schon aber strahlt Salerno auf. Die ersten Universitäten werden ge- gründet. Paris 1110, Bologna 1113, Oxford 1167, Montpellier 1181, Pa- dua 1222. Alle Gebildeten sprechen Latein. Europa im Reich der Wis- senschaften und Künste eine Ein- heit. (Könnten wir es noch, und wäre es nur Küchenlatein: Pes ad anum, iam elevatum. Wo stünde Europa. Der Numerus clausus wür- de sich dann vielleicht auch erübri- gen.) Der „Doktor"-Titel wird ge- schaffen. Dafür fällt die Chirurgie für lange wieder an Bader, Barbie- re, Henker, Kastrierer und Quack- salber jeder Art.

Während dieser Zeit entstehen in Europa die ersten Krankenhäuser, christliche Hospitäler, zuerst für Alte, Krüppel und Heimatlose, spä- ter mehr und mehr für Kranke und Sieche. Der Buddhismus kannte ähnliche Einrichtungen schon frü- her.

Und jetzt die Renaissance. Wäh- rend noch Hexen in Massen gefol- tert und verbrannt werden, wird das Tor zur modernen Heilkunst aufgestoßen, die Heilkunde wird zur Kunst.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 40 vom 6. Oktober 1977 2401

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Krise und Zukunft der Medizin

Bevor wir uns jedoch damit befas- sen, noch ein kurzer Blick nach Südamerika. Unseren modernen Heilaposteln ganz entgangen (Scheuklappenbildung), war dort im totalitären Staat der Inka wahrscheinlich überhaupt zum er- sten Mal eine staatliche Medizin voll entwickelt worden. Natürlich wurde sie von den spanischen Kapitalisten gleich mit dem ganzen Staatswesen zusammen zerknüp- pelt. Im Inkastaat war auch die Chirurgie beträchtlich entwickelt, wie es die zahlreichen Funde der Tonkeramik bezeugen. Heilpflan- zen spielten eine große Rolle. Ko- kain, Chinin und Perubalsam wur- den von uns übernommen. Zauber, Beichte, Beschwörungen und Sug- gestion gehörten zum Heilschatz.

Der totalitäre Staat überließ nichts dem Zufall. Jährlich mußten alle Häuser gereinigt werden. Alte und Verkrüppelte wurden beschäftigt und versorgt. Verkrüppelte durften allerdings nicht heiraten. Alkoholis- mus und andere Süchte wurden energisch bekämpft. Ganze Bevöl- kerungsgruppen wurden umgesie- delt, dabei aber klimatische Adap- tionen berücksichtigt. Hochland, tropisches Tiefland. Auf Bäder und Kanalisation wurde größter Wert gelegt. Die Ärzte wurden allgemein ausgebildet, sowohl in Chirurgie wie innerer Medizin (Botanik), standen im Staatsdienst und be- handelten kostenlos. Das sollte ge- nügen.

Trotz erstaunlicher Leistungen in der Behandlung einzelner Krank- heiten, mancher Entdeckungen in Anatomie und Physiologie und überzeugender Erfolge aus hygie- nischen Maßnahmen war die Heil- kunde bis zu diesem Zeitpunkt zwar nicht archaisch-primitiv, aber doch im Vergleich zur Gegenwart dürftig geblieben. Echte Erkennt- nisse waren Zufallstreffer. Sie hatte vor allem — worauf es schließlich allein ankommt — nur wenig Ein- fluß auf das Leben des Einzelmen- schen und keinen auf die Art Mensch selbst. Das Durchschnitts- alter blieb gering. Große Säug- lings- und Kindersterblichkeit. Kei-

ne Überalterung. Drastische Re- duktion wachsender Bevölkerun- gen durch regelmäßige Seuchen- züge. Das biologische Gleichge- wicht zwischen Mensch und Um- welt (Tieren, Pflanzen und Minera- lien) blieb im großen und ganzen gewahrt.

Für die Medizin, jetzt zur Heilkunst aufgerückt, beginnt die Neuzeit mit folgenden Namen, wobei wenige erste für viele zweite und dritte leuchten müssen: Anatomie (Vesa- lius), Pharmakopöe (Cordus), In- fektionskrankheiten (Fracastoro), Psychiatrie-Psychologie (Weye r, Hexen sind Fälle von Geisteskrank- heiten), Stoffwechselkrankheiten, Chemie (Paracelsus), Chirurgie (Parö), Blutkreislauf (Harvey), Ge- burtshilfe (van Deventer, Mauri- ceau), Physiologie (von Haller), Em- bryologie (Wolff), Gesundheitswe- sen (Frank), Impfung (Jenner).

Sie münden in die uns vertrauten klinischen Schulen des 19. und 20.

Jahrhunderts. Zunehmendes Spe- zialistentum, zahlreiche Forscher und Lehrer. Viele große Namen, auch Charcot, Freud. Die Medizin wird wissenschaftlich, systematisch betrieben. Alle europäischen Natio- nen, später auch Nordamerika und Japan, wirken mit. Es entwickelt sich die Krankenhaus- und Labor- medizin. Der an Wunder grenzende Aufschwung der Chirurgie setzt ein, ihre Vertreter jetzt schon lange wieder anerkannte Kollegen und gesalbte Doktoren. Desinfektion, Sterilität (Semmelweis, Lister, Schimmelbusch), Anästhesie (Wells, Halstedt, Schleich), Bakte- riologie (Pasteur, Koch). Die Infek- tionskrankheiten, die großen Seu- chen verlieren ihren Schrecken.

Napoleon I. hatte mehr als alle Gegner die Seuchen gefürchtet.

Vor dem Feinde verlor er Zehntau- sende, Seuchen kosteten ihm Hun- derttausende von Toten. Seit dem Krieg 1870/71 haben Seuchen in Feldzügen keine wesentliche Rolle mehr gespielt. Früher hatten sie solche oft allein entschieden.

Hygiene, seit je massenwirksamer als Kurativmedizin, wird Allgemein-

gut (Villermö, Chadwick, Pettenko- fer). Passive und aktive Schutzimp- fungen (Behring). Milchpasteuri- sierung. Sauberes Trinkwasser, Kanalisierung überall. Virchow ent- deckt die Medizin als eine soziale Wissenschaft und verbindet sie be- wußt mit der Politik. Schon 1848 muß er dafür büßen. Die Bevölke- rungszahlen schnellen in die Höhe.

Das Durchschnittsalter wächst. Der Massenbetrieb und das Ringen nach Übersicht beginnen.

Der Weg in die Krise?

Und damit, jetzt, kündigt sich er- neut eine Krise der Medizin an, ihre erste echte Krise. Wo sind die klugen Ärzte, welche sie vielleicht doch noch einmal abfangen kön- nen? Nimmt sie denn überhaupt je- mand wahr? Taumeln alle in un- gebrochenem Fortschrittsglauben dahin? Doch, einer erkennt sie, ei- ner wenigstens hält seine Überle- gungen schriftlich fest, freilich nur ganz privat in einem Brief an sei- nen Freund Brahms. Der große Billroth formuliert sie am 25. 2.

1892 so: „Ich habe übrigens schon seit vielen Jahren das Paradoxon aufgestellt, daß die steigende Ver- vollkommnung der ärztlichen Kunst und die Verhütung von Epidemien durch die vervollkommneten sani- tären Maßregeln wohl dem Indivi- duum zugute kommt, die menschli- che Gesellschaft aber ruinieren muß, weil die Vermehrung und Er- haltung der Menschen auf der Erde schließlich zu einem Grade von Übervölkerung führen muß, wel- cher allen verderblich werden wird.

Nun, wir werden das zum Glück für uns nicht mehr erleben." Er starb am 6. 2. 1894. Nach diesen Worten dürfte er sich mit dem Problem doch längere Zeit beschäftigt ha- ben. Weitere Ausführungen sind aber nicht überliefert. Vielleicht ist ihm die Unmöglichkeit einer Ein- flußnahme zu damaliger Zeit bald klargeworden und er hat resi- gniert. Die Zeit drängte damals auch noch nicht. Heute tut sie es.

Der Wildwuchs der Medizin rankt also ungebrochen und in immer

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 2402 Heft 40 vom 6. Oktober 1977

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Schwindelnderem Tempo weiter.

Ihr Können steigert sich ständig.

Ihr Arzneienschatz wächst ins un- gemessene: Hormone, Vitamine, Fermente, Sulfonamide, Antibioti- ka, Antiallergika. Ein Pflichtkran- kenversicherungssystem (bei uns seit 1884) erfaßt nach und nach alle. Die Ansprüche werden von al- len immer höher geschraubt. Das Unwahrscheinlichste wird als selbstverständlich und dazu noch mißgelaunt verkonsumiert. Immer mehr Leistungen werden für alle Versicherten in den Katalog der Vergütung einbezogen. Der Krank- heitsbegriff wird auf rein physiolo- gische Veränderungen oder Bela- stungen ausgedehnt. Normen? (Kli- makterium, Alter, Lebensschwierig- keiten, Versagenszustände, die um- gekehrt proportional zum Schwin- den religiösen Glaubens auftreten.) Chronische, an sich unheilbare Leiden werden über Jahre und Jahrzehnte betreut. Die Medizin verwandelt Mortalität in Morbidität, durchdrungen von ihrer Heilsmis- sion, die nur mehr Lebenslänge, aber nicht mehr Lebensinhalt aner- kennt. Intensivpflege Todgeweih- ter. Auch entsetzlichste Defekt- heilungen werden als Sieg über den Tod gefeiert, den einmal ganz zu überwinden geschäftstüchtige Publizisten einem diesseitsgierigen Publikum nicht müde werden vor- zuraunen. Akrobatik der Organver- pflanzungen (sie bedeuten für die Volksgesundheit so viel wie Kaviar für die Volksernährung). Gesportel- te Medizin mit Hochleistungssport- lern, Profis. Zunehmende Verwirkli- chung des Wohlfahrtsstaates mit einseitiger Betonung der Rechte des einzelnen unter weitgehender Streichung seiner Pflichten. Be- triebsärzte. Beginn einer Vorsorge- medizin (Früherkennung, nicht Vor- beugung). Immer mehr Vermas- sung. Beherrschung der Seuchen auf der ganzen Erde. Bevölke- rungsexplosion. Zunehmende Un- regierbarkeit vieler Staaten, wo nur mehr die organisierte Hilflosigkeit herrscht. Verlust jeglichen Glau- bens, Sinnentleerung des Lebens.

Alles immer noch mehr versach- licht, technisiert, computert, ent-

Krise und Zukunft der Medizin

menscht. Trotzdem an allen Hebeln der Macht ungebrochener Fort- schrittswahn, ohne Zweifel zum Berufsgesicht erforderlich. Entmy- thologisierung des Arztes. Vollstän- dige Säkularisierung des Arztberu- fes. Berufsorganisationen wachen über eine Basisethik. British Medi- cal Association (1832), American Medical Association (1847}, Deut- scher Ärztevereinsbund, später Bundesärztekammer (1872).

Seit Paracelsus, Avicenna, Galen, Hippokrates, Susruta und gewiß noch viel weiter zurück wurde und wird gepredigt, daß es allein die Dosis macht, ob etwas als Heilmit- tel oder Gift wirkt. Dieser allge- mein anerkannte Lehrsatz scheint so banal, daß offenbar noch nie- mand überlegt hat, ob er nicht wie für jede einzelne Medizin ebenso auch für die gesamte Heilkunde selbst, die Gesamtmedizin zutrifft?

Und da erkennen wir in der Tat, daß diese "Heilkunst" in die Zone der Giftwirkung geraten ist:

.,... Diese Überdosierung der gan- zen Medizin selbst, das ist ihre Kri- se!

e

Wird fortgesetzt Anschrift des Verfassers:

Dr. med. habil. August Vogl Grillchaussee 100

2208 Glückstadt ,.-ZITAT

Lesefreuden

"Stillen bedeutet, fünf- oder sechsmal am Tage jeweils 20 bis 30 Minuten ruhig sitzen.

Eine großartige Zeit zum Zeitschriftenlesen im Durchschnitt drei Aufsätze pro Brust, sechs pro Mahl- zeit, anders . ausgedrückt:

Die drei wichtigsten Ärzte- blätter sind innerhalb von drei Tagen gelesen."

Eine ungenannte englische Ärztin mit einem sechs Wo- chen alten Säugling, die wei- terhin im Krankenhaus tätig ist (nach "The Lancet")

Spektrum der Woche Aufsatze · Notizen FORUM

Pflichtpraktikum in Krankenpflege als medizinisches Vorstudium

Plädoyer für eine

berufsbezogene Reduzierung des Numerus clausus

Otto P. Hornstein

Der Beitrag, der auf einem Re- ferat vor dem Westdeutschen Medizinischen Fakultätentag am 10./11. Juni 1977 basiert, schließt u. a. an zwei Artikel des DEUTSCHEN ÄRZTEBLAT- TES: Prof. Dr. med. Wolfgang Jacob, "Neuordnung der Zu- gangswege zum Medizinstu-

dium" (Heft 19/1977} und Prof.

Dr. med. HansJ. Bochnik, Prof.

Dr. med. Wolfgang Pittrich, Dipi.-Psych. Werner Richt- berg, "Herausgetestet!" (Heft 20/1977).

Wer die nachdrückliche Ablehnung von Studierfähigkeitstests durch maßgebliche Psychologenverbände kennt oder die ebenso kompetente wie vernichtende Kritik gelesen hat, die Bochnik und Mitarbeiter un- längst im DEUTSCHEN ÄRZTE- BLATT (Heft 20/1977) an dem ge- planten Testverfahren geübt haben, muß den fatalen Eindruck gewinnen, daß es sich um wissenschaftlich zweifelhafte, praktisch untaugliche und sogar sozial schädliche Versu- che zur scheinbaren Lösung des Nu- merus-clausus-Problems in der Me- dizin handelt. Es läßt sich daher vor- aussagen, daß die herausgetesteten Bewerber und bald auch die Öffent- lichkeit das ganze Verfahren als eine wissenschaftlich verbrämte Farce empfinden werden, die ebenso wie

DEUTSCHES ARZTEBLATT

Heft 40 vom 6. Oktober 1977 2403

Referenzen

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