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Archiv "Dokumentation in der Medizin: Es ist ein Wahnsinn!" (20.03.2009)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 12⏐⏐20. März 2009 A577

S T A T U S

B

ei jedem Patienten tragen Ärzte ICD- und OPS-Num- mern ein, die alle Diagnosen und Maßnahmen einzeln kennzeichnen, damit sie akkurat abgerechnet wer- den. Außerdem wird eine Eingrup- pierung in die richtige DRG-Gruppe vorgenommen, die dann von einer Mitarbeiterin aus der Verwaltung kontrolliert wird, die wiederum eine Rückfrage an den dokumentieren- den Arzt startet, wenn zu viel, zu wenig oder zu ungenau vermerkt worden ist. Wenn der Arzt schon vor dem PC sitzt, kann er gleich die Qualitätssicherung für die BQS (Bundesgeschäftsstelle Qualitätssi- cherung) dokumentieren und den Arztbrief diktieren, wobei er aus dem Intranet schriftliche Befunde (Radiologie, Pathologie, Labor) in den Brief übernimmt. Der Brief wird von einer Sekretärin geschrie- ben und geht an den Assistenzarzt zurück. Dieser korrigiert, unter- schreibt und schickt ihn zum Ober- arzt. Auch dieser korrigiert, unter- zeichnet und leitet den Brief an den Chefarzt, der nochmals korrigiert und unterzeichnet und den Brief schließlich an die Sekretärin zum Eintüten und Verschicken weiter- reicht. In etlichen Kliniken gibt es zu wenige Sekretärinnen, sodass Ärzte die ganze Arbeit verrichten.

Etwas später kommt ein Schrei- ben vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), in dem nach Begründungen zur sta- tionären, ambulanten Behandlung oder nach der Länge des Aufenthalts oder was auch immer gefragt wird.

Diese Schreiben gehen über mehrere Tische und verlangen Aktenvorlagen, Überlegungen, Antworten – Arzt, Se- kretärin, Arzt, Oberarzt, Chef . . .

Doch damit nicht genug: Da wir ein Qualitätsmanagement an der Klinik haben, werden wir jährlich mit Audits oder Rezertifizierungen konfrontiert. Um uns darauf vorzu- bereiten, müssen wir regelmäßig Sitzungen abhalten und Protokolle abfassen. In jedem Krankenhaus gibt es mindestens ein Zentrum be- ziehungsweise eine Beteiligung an einem „zertifizierten Organzen- trum“, welches andere Sitzungen und Protokolle sowie zusätzliche Dokumentationen nach sich zieht.

Nochmals „zum Mitschreiben“: Dokumentiert wer- den ICD-, OPS-, DRG-, BQS-Ziffern, Qualitätsma- nagement- und Zentrumsvorgaben, beantwortet werden MDK-Rückfragen und Briefe, verfasst werden Befund- berichte, und ambulant erbrachte Leistungen müssen se- parat abgerechnet werden: nach GOÄ (Amtliche Ge- bührenordnung für Ärzte) oder nach EBM (Einheitli- cher Bewertungsmaßstab). Habe ich etwas vergessen?

Mit Sicherheit.

Als ich vor einigen Jahren meinen Kollegen in großer Runde zwei Fragen stellte, bekam ich sehr interessante Antworten:

DOKUMENTATION IN DER MEDIZIN

ES IST EIN WAHNSINN!

In der jetzigen Form zeichnet sich die ärztliche Dokumentation durch eine kaum mehr durchschaubare Redun-

danz aus. Vor allem aber stiehlt sie den Ärzten Zeit, die sie nicht ihren

Patienten widmen können.

1. Frage:„Wie heißt die ICD-10- Ziffer für ein Mammakarzinom oben/außen?“ Alle im Raum Ver- sammelten sagten fast mit einer Stimme: „C 50.4.“

2. Frage:„Wann darf man eine Patientin nicht brusterhaltend ope- rieren?“ Von den 30 Ärztinnen und Ärzten kannten nur fünf die Ant- wort, obwohl wir fast täglich Patien- tinnen mit Mammakarzinom sehen und operieren.

Natürlich ist es unbedeutend, vor allem therapeutisch, ob ein Mamma- karzinom oben/außen oder unten/

außen oder wo auch immer liegt – es sei denn, jemand will eine eigene Statistik durchführen, um Bekanntes zu bestätigen. Trotzdem gibt es hier je eine Ziffer für jede Lokalisation.

Wer braucht derartige Daten und wofür? Keiner. Aber derart sinnlose Informationen müssen einzeln und mehrfach codiert werden und führen zu Rückfragen der BQS, die beant- wortet werden müssen: Anfrage an Archiv, Archivarin, Station, Ärztin, Diktat, Sekretärin, Korrektur, Unter- schrift, Oberärztin, Unterschrift, Chef, Unterschrift . . .

Das Beispiel „Lokalisation des Mammakarzinoms“ ist nur eines von vielen. Wir produzieren Daten- friedhöfe, deren Auswertung immer schwieriger wird und zu Ergebnis- sen führt, die man nur mit ökonomi- schen Begriffen fassen kann. Ein solcher Begriff ist die „Versor- gungsqualität“, deren Definition bei jeder Erkrankung oder diagnosti- schen Maßnahme anders und zu- meist nicht wissenschaftlich unter- mauert ist, weil eine entsprechende gute Literatur fehlt. Ein Beispiel aus der Gynäkologie: Die „Versor- gungsqualität“ gilt als besser, wenn man die Brusterhaltungsrate beim Mammakarzinom von 60 Prozent nach einem Jahr auf 65 Prozent an- hebt. Das Merkmal „Rate an brust- erhaltenden Operationen“ taugt überhaupt nicht dazu, von einer besseren Behandlung zu sprechen.

Schließlich geht es vor allem den Patientinnen bei einer Krebserkran- kung um Heilung und Überleben.

Vor einigen Jahren haben wir alle gefordert, dass die EDV endlich Ein- zug in unsere Kliniken nimmt, weil wir hofften, dass wir leichter, schnel-

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ler und weniger dokumentieren müss- ten. Nun müssen wir feststellen, dass die EDV genau das Gegenteil bewirkt hat – und zwar wesentlich mehr Do- kumentation, aber keineswegs mehr auswertbare, nützliche Information (und damit zusammenhängend weni- ger Zeit für unsere Patienten).

Unsere Vorstellung war es, durch eine einheitliche Software und Inter- netnutzung neue Kommunikations- möglichkeiten nutzbar zu machen und uns selbst, aber auch andere Kol- legen besser informieren können.

Falsch gedacht! Denn eine „einheitli- che Software“ darf in der Marktwirt-

schaft nicht sein, sonst würden wir Monopolisten Vorschub leisten. Es wäre doch eine entsetzliche Vorstel- lung, in jeder Klinik und in jeder Pra- xis die gleiche, einfache Software und sekundenschnellen Datenaustausch zur Verfügung zu haben. Oder?

Die Einführung der EDV in Klini- ken und Praxen hat nicht dazu geführt, dass Daten besser archiviert, Informa- tionen schneller zugänglich sind und der Informationsaustausch sekunden- schnell erfolgt. Nach wie vor haben wir keine elektronische Patientenakte, arbeiten mit PC und Papier parallel und sind zu „Datensklaven“ anstatt zu

„Datenmeistern“ geworden.

Im Mittelpunkt unserer Denkwei- se steht nicht die Reduktion der In- formation auf Wesentliches, sondern die Entwicklung von Maschinen, die noch mehr Informationen schneller speichern und verarbeiten können.

Wir freuen uns, von Mega- auf Giga- byte wechseln zu können, ohne zu überlegen, dass die Gigabytes (zu- mindest in der Medizin) von uns selbst eingegeben werden müssen.

Das Erschreckende ist, dass es keine Anzeichen für Strategien gegen die Dokumentationsmenge beziehungs- weise für eine kritische Analyse des Inhalts der Dokumentation gibt.

Vielmehr scheinen fast täglich Men- schen Ideen zu entwickeln, was man alles zusätzlich dokumentieren könnte und sollte.

Zwar gibt es ausgebildete Doku- mentationsassistenten, die weniger kosten und mit hoher Wahrschein- lichkeit die gleiche Datenmenge in mindestens gleicher Zeit „liefern“

könnten, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Daten, die wir sammeln eher einem Datenchaos als einer zielgerichteten, sinnvollen Da- tensammlung, gleichkommen. Durch Delegieren dieser Tätigkeit würden wir das Wesentliche des Problems, nämlich die Sinnhaftigkeit der Daten und die Parallelität der Datensamm- lung, nicht lösen. Außerdem sind Da- teneingaben als „ärztliche Aufgabe“

deklariert, und bei jeder kritischen Hinterfragung erhalten wir die er-

presserische Antwort: „Ohne Doku- mentation keine Abrechnung, ohne Abrechnung kein Geld.“

Ich weiß nicht, wie wir aus dieser Misere herauskommen können. Es steht jedoch fest, dass wir uns mitten in einer hausgemachten Katastrophe befinden, Ressourcen verschleudern, die Patientenversorgung gefährden und unseren Nachwuchs vergraulen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass wir handeln müssen, und zwar sofort.

Ob wir in jeder Disziplin einzeln oder alle Disziplinen gemeinsam, mit oder ohne Beteiligung von Kassen oder Politik anfangen, eines muss uns klar sein: Wir müssen die Dokumentati- onsflut eindämmen und alles daran- setzen, weniger Zeit für arztfremde Tätigkeiten zu verwenden. Ich glau- be, dass allein dieser Wunsch, der uns alle beseelt, ausreichen müsste, um Ideen und Energien freizusetzen, die zum Erfolg führten.

Wenn es uns gelingen würde, in unseren Krankenhäusern und Praxen nur noch einmal hinzuschreiben, dass Frau XY am 23. August 1945 gebo- ren ist und an einem Mammakarzi- nom oben/außen erkrankt ist, wobei diese Daten automatisch eine ICD-, OPS-, DRG-, BQS-, DMP-, QM- oder welche Ziffer auch immer be- kommt, und außerdem die Abrech- nung der Leistungen mit den Kassen automatisch erfolgt, wären wir einen gewaltigen Schritt weiter. I Prof. Dr. med. Serban-Dan Costa

RECHTSREPORT

Mitgliedschaft und Beitragspflicht in der Indus- trie- und Handelskammer (IHK) sind auch für Gesellschaften bindend, die in einem Mitglied- staat der Europäischen Union (hier: Großbritan- nien) gegründet wurden und sich anschließend im Bundesgebiet niedergelassen haben. Das hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg für die Gesellschaftsform Limited entschieden.

Zwar erschöpft sich die Niederlassungs- freiheit nach der Rechtsprechung des Eu- ropäischen Gerichtshofs nicht in einem Ge- bot der Gleichbehandlung mit Inländern. Sie verbietet darüber hinaus Behinderungen an- derer Art, die die Niederlassungsfreiheit un- terbinden, behindern oder weniger attraktiv

machen. Nach überwiegender Ansicht liegt ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit aber nur dann vor, wenn die betreffende Maßnah- me den Marktzugang effektiv behindert oder weniger attraktiv macht, nicht wenn sie le- diglich eine bloße Modalität der Berufsaus- übung darstellt.

Im entschiedenen Fall ging es um die Erhe- bung eines jährlichen Mitgliedsbeitrags in Höhe von 140 Euro. Das Oberverwaltungsgericht hat darauf verwiesen, dass die Pflichtmitglied- schaft in der IHK den Zielen dient, Verwaltungs- aufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet im Wege der Selbstverwaltung durch Kammern wahr- nehmen zu lassen sowie die Belange der ge-

werblichen Wirtschaft gegenüber dem Staat zu vertreten. Bei dieser Vertretung des Gesamt- interesses handelt es sich auch nicht um eine reine Interessenvertretung, wie sie Fach- verbände wahrnehmen.

Dass es in anderen europäischen Mitglied- staaten keine IHK mit entsprechenden Zusam- menschlüssen von Pflichtmitgliedern gibt, be- legt noch keine Unverhältnismäßigkeit dieser Maßnahme. Die auf § 2 IHK-Gesetz beruhende Pflichtmitgliedschaft von gewerbesteuerpflich- tigen juristischen Personen, die eine Betriebs- stätte im Kammerbezirk unterhalten, und die damit in der Regel verbundene Beitragspflicht sind zudem mit dem Grundgesetz vereinbar.

(Beschluss vom 16. Januar 2009, Az.: 8 ME

123/08) RAin Barbara Berner

Beitragspflicht in der Handelskammer ist kein Niederlassungsnachteil

Wir sind zu „Datensklaven“ anstatt

zu „Datenmeistern“ geworden.

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