Dichtgedrängt: die Teilnehmer am Internationalen Fortbildungskongreß in Badga- stein bei der Eröffnungsveranstaltung Fotos: Gastuna, Gahlke/Selecta (2)
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Bericht und Meinung
Auf dem Weg in die Planokratie
Prof. J. F. Volrad Deneke beim Berufspolitischen Kolloquium in Davos
HC — Aktuelle Bonner Sozial- und Gesundheitspolitik, insbesondere die als „Strukturverbesserungen"
und „Kostendämpfung" in der Krankenversicherung etikettierten Ehrenbergschen Gesetze, boten den Zündstoff für das berufspoliti- sche Forum beim XXVI. Internatio- nalen Fortbildungskongreß der Bundesärztekammer am 8. März in Davos: Die relativ hohe und per- manente Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, das Rentendesaster, die verfehlte Bil- dungspolitik und die Einzwängung der Ärzteschaft in ein egalisiertes System planwirtschaftlicher Ver- sorgung markieren den seit lan- gem anhaltenden Trend zu einer leistungslähmenden, durch immer mehr Dirigismen durchsetzten So- zial- und Gesellschaftspolitik. Mit welchen Widrigkeiten sich die Ärz- teschaft und deren Organisatio- nen derzeit konfrontiert sehen, legte Prof. J. F. Volrad Deneke, der
Hauptgeschäftsführer der Bun- desärztekammer (Köln), in seinem mit großem Beifall aufgenomme- nen Referat aus dem Blickwinkel des Soziologen und Berufspoliti- kers im einzelnen dar.
Was der Referent noch vor zwei Jahren an gleicher Stelle progno- stizierte, ist inzwischen — aus der Sicht der Ärzteschaft: leider — ein- getreten. Die seit zwei Jahren auch durch die Massenmedien ange- heizte Kostendiskussion hat sich auf der Bonner Bühne mittlerweile zu einer „Konkursverhandlung der Sozialpolitik" ausgeweitet. Die ge- sunde Krankenversicherung muß:
te dafür herhalten, um versiche- rungsfremde Leistungen der kran- ken Rentenversicherung zu über- nehmen — ohne freilich, daß die Rentenfinanzen im entferntesten saniert worden wären. Trotz man- cher Ablenkungsmanöver und der ratlosen Verschleierungspolitik der Bundesregierung, so konsta- tierte Deneke, seien Rentendesa- ster und Arbeitslosigkeit vom Ge- setzgeber der sechziger und sieb- ziger Jahre in ganz erheblichem Umfang selbst verschuldet wor- den. Statt in der Zeit des Auf- schwunges und der vollen Kassen
Reserven anzuhäufen oder statt doch zumindest die Beitragssätze zurückzunehmen, seien ständig neue Zahlungsverpflichtungen eingegangen worden. Der „Sün- denfall sozialpolitischen Fehlver- haltens" falle jetzt wie ein Bume- rang auf jene zurück, die stets vor einem überzogenen Soziallei- stungssystem gewarnt hätten.
Durch Appelle an den Neidkom- plex wurde systematisch der Bo- den dafür bereitet, um mit dem
„Krankenversicherungs-Weiter- entwicklungsgesetz" (KVWG) und dem „Kostendämpfungsgesetz"
(KVKG) das bewährte und bis da- hin intakte System der gemeinsa- men Selbstverwaltung in der so- zialen Krankenversicherung völlig aus den Angeln zu heben.
Unheilvoller Trend seit 1971 Der unheilvolle Trend für die Ärz- teschaft begann bereits 1971 mit der vielzitierten Studie des Wirt- schafts- und Sozialwissenschaftli- chen Instituts des DGB (WSI) über die „Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland". Die vorläufig letzte Etappe „flankie- render" gesundheitspolitischer Programmatik wird durch den SPD-Parteitag vom November 1977 markiert, der ein umfassen- des gesundheitspolitisches Pro- gramm mit der „atemberaubenden Geschwindigkeit von 40 Sekun- den" (Deneke) verabschiedete. Die im September beziehungsweise November 1977 veröffentlichten
„Gesundheitsprogramme" der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) so- wie der IG Metall beinhalten zwar nichts grundsätzlich Neues, doch sind die gewerkschaftlichen Posi- tionen jetzt so unverhohlen klar formuliert, daß trotz gegenteiliger Beteuerungen die Programmatik sozialistischer Systemverände- rung und die Praxis machtpoliti- scher Dezimierung der sozialen Selbstverwaltung nicht mehr ge- leugnet werden kann. Die Eineb- nung der Ärzteschaft in eine nivel- lierte Arbeitnehmergesellschaft
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Berufspolitisches Kolloquium
sei längst im Gange, und das Fata- le dabei sei, daß die Weichen für systemüberwindende "Reform"- Maßnahmen mit wesentlicher Un- terstützung tragender gesell- schaftlicher Gruppen, insbeson- dere der Gewerkschaften und Ar- beitgeberverbände sowie der Selbstverwaltungsorgane der RVO-Krankenkassen gelungen sei. Auffällig sei auch, daß Arbeit- nehmer- und Arbeitgeberfunktio- näre auf gesundheitspolitischem Terrain in einer noch nie dagewe- senen Eintracht agierten, obgleich in anderen gesellschaftspoliti- schen Grundsatzfragen (insbeson- dere in der Lohn- und Tarifpolitik sowie in der Mitbestimmungsfra- ge) die Sozialpartner ihre alte Rol- le der Interessenantipoden unver- ändert weiterspielten.
Gefährlich für die Ärzteschaft sei die Tatsache, daß die Umwand- lung der gegliederten Krankenver- sicherung in eine zentrale Versor- gungsanstalt von den Versicher- ten um so geduldiger hingenom- men werde, je sukzessiver und un- merklicher diese Umstülpung er- folge. Die Gesundheitspolitik in Großbritannien und Skandinavien sei dafür "beispielhaft".
Seine Thesen untermauerte Dene- ke mit folgenden Aussagen: ..,.. Die in ihrer Bedeutung von der Öffentlichkeit noch nicht erkannte
"legale" Revolution in der Sozial-
politik wird durch eine ebenso
"lautlose" Revolution in der Bil- dungspolitik begleitet. Die Über- produktion von Akademikern züchtet heute die sozial Unzufrie- denen, die Systemveränderer und Revoluzzer von morgen. Dadurch wird es für die Politiker ein leich- tes, Akademiker und Facharbeiter gleichzuschalten.
..,.. Die ärztliche Gesundheits- und Berufspolitik ist nach Überzeu- gung Denekes im Kräftespiel mar- xistischer Proletarisierung zuneh- mend in die Objektrolle gedrängt, als sie echte Chancen habe, sich dem fatalen Trend aktiv entgegen- zustemmen. Dies gelte um so
mehr, als sich die Ärzte und ande- re Akademiker an der politischen Basis kaum noch engagierten.
..,.. Erst die Gefährdung von au- ßen, die Bedrohung elementarer Grundlagen freier ärztlicher Be- rufsausübung habe den berufspo- litischen Ehrgeiz und den manch- mal ehe.r hinderlichen Gruppen- egoismus zurückgedrängt, gleich- zeitig die Prinzipien der Solidarität und Geschlossenheit nach außen reaktiviert, wie die kürzlich ge- gründete Bundesvereinigung deutscher Ärzteverbände bewie- sen habe. Jetzt komme es darauf an, den Partikularismus abzubau- en und jeden Akt Illoyalität und bewußten Täuschungsmanövers seitens der Regierung zu entlarven und sich mit Sachargumenten zu widersetzen.
Der Bedarf wird geplant
Die Gesundheitspolitik unserer Tage sei durch Elemente soziali- stischer Bedarfsplanung und bei-
ZITAT
Prioritätsentscheidungen
"Auch der Gesundheitssek- tor unterliegt gesamtgesell- schaftlichen Prioritätsent- scheidungen. Es kann nicht hingenommen werden, daß ein gesellschaftlicher Be- reich - unabhängig davon, ob er, wie beispielsweise der Gesundheitsbereich, einen hohen ethischen Anspruch vertritt - quasi autonom, als Folge eines eigengesetzli- chen Wachstums immer grö- ßere Anteile des Bruttoso- zialprodukts beansprucht."
Dr. Herbert Ehrenberg, Bun- desminister für Arbeit und Sozialordnung, bei der zwei- ten Sitzung der Konzertier- ten Aktion im Gesundheits- wesen am 17. März 1978 in Bonn.
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tragsorientierter Ausgabenpolitik der Krankenkassen gekennzeich- net.
..,.. Ein utopischer Gesundheitsbe- griff und das heute viel stärker ausgeprägte Gesundheitsbe- wußtsein der Bevölkerung, aber auch hochgeschraubte Erwartun- gen setzen den "Bedarf" an Ge- sundheitsgütern praktisch fest.
Dadurch wird das Versicherungs- prinzip der Krankenversicherung in ein plangesteuertes Versor- gungssystem umfunktioniert.
Konzertierte Aktion - kritisch betrachtet
Betont kritisch setzte sich Deneke auch mit der jetzt gesetzlich instal- lierten "Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen" auseinander, der die Teilnehmer der Podiums- diskussion eine eher ausgleichen- de Rolle zubilligten. Keinesfalls dürfe der erforderliche Gruppen- konsens die gemeinsame Selbst- verwaltung von Kassenärzten und Krankenkassen schwächen. Da die
"Konzertierte Aktion" nicht nur Empfehlungen über Honorarstei- gerungssätze, Arzneimittelhöchst- baträge und andere Orientie- rungsdaten im Gesundheitswesen abgeben soll, sondern im Herbst 1978 auch wichtige Strukturfragen erörtern will, besteht die Gefahr, daß Minderheitsrechte der Ärzte mißachtet und jene Kräfte mehr- heitlich die Oberhand behalten, die bereits die systemverändernde Richtung in der jüngsten Gesetz- gebung vorgeprägt hatten. Man dürfe sich nicht darüber hinweg- täuschen, betonte Professor De- neke, daß mit der "Konzertierten Aktion" ein "räterepublikanisches Element" neben den gesetzgeben- den Körperschaften etabliert wor- den ist. Da dadurch die Souveräni- tät der Parlamente fundamental betroffen werde- was der Opposi- tion noch nicht einmal bewußt ge- worden zu sein scheint-, müßten alle demokratischen Kräfte dar- über wachen, um einen weiteren
"legalen" Einbruch in die Verfas- sungsordnung zu verhindern.
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Auch von einem anderen Gesetz, dem Bundesmeldegesetz, schwa- ne dem Bundesbürger nicht allzu- viel Gutes. Unter dem Stichwort
„Mehr Transparenz" setzten die Politiker alles daran, um den Pa- tienten zum „gläsernen", versi- cherten Objekt von Staats- und Sozialfunktionären zu entwürdi- gen. Obwohl die Personenkennzif- fer wegen eklatanter Verstöße ge- gen das Grundgesetz von allen Bundestagsfraktionen abgelehnt worden sei, ließen sich weder Bundesinnenministerium noch Bundesarbeitsministerium davon abhalten, die Visionen Orwells in Gesetzesform umzugießen. Erklär- tes Ziel sei es, den Versicherten absolut „durchsichtig" zu ma- chen. Selbst der befristete Aufent- halt in einer psychiatrischen An- stalt werde nach dem Meldegesetz möglicherweise ein Leben lang und für einen nicht mehr zu über- schauenden Personenkreis regi- striert. Allein der nicht mehr aus- zuschließende Verbund der Daten des Meldegesetzes mit den über Versichertenausweis und Versi- chertennummer gespeicherten und erreichbaren Sozialdaten pro- grammierten den „gläsernen Men- schen" vor.
Düstere Perspektiven
Die von Professor Deneke aufge- zeigten Perspektiven einer ver- planten, nivellierten Arbeitneh- mergesellschaft muten aufs Ganze gesehen wenig hoffnungsvoll an:
Durch eine verfehlte Bildungspoli- tik wird sich die Zahl der Studien- absolventen im Fach Medizin auf jährlich 11 500 einpendeln. Die Zahl der berufstätigen Ärzte wird sich von derzeit 120 000 auf über 216 000 im Jahr 2000 erhöhen. Da- durch verschlechtern sich die Be- rufschancen zunehmend. Nicht je- der der ärztlichen Berufsanfänger wird in Zukunft damit rechnen können, den erlernten Beruf tat- sächlich auch ganztägig sinnvoll ausüben zu können. Bereits für 1979 sagte der BÄK-Geschäftsfüh- rer voraus, daß vor allem viele der älteren niedergelassenen Ärzte ei-
ne reale Einkommenseinbuße hin- nehmen müßten. Die im KVKG ein- gebauten globalen Plafondie- rungsmaßnahmen werden mit Si- cherheit den Verteilungskampf der Leistungsanbieter verschärfen, gleichzeitig aber das Einkom- mensgefüge innerhalb der einzel- nen Arztgruppen noch weiter aus- einanderdriften lassen.
Die Politik, durch kostspielige Ausbildung sozial unbefriedigte und enttäuschte Akademiker her- anzubilden, sei schlichtweg ver- antwortungslos. „Sie ist bewußte und gewollte Provokation soziali- stischer Revolutionierung der ge- sellschaftlichen Ordnung." Die Überproduktion von Akademikern habe im Ergebnis „Lebensqual"
statt „Lebensqualität" beschert.
Aber dies werde offenbar von vie- len Polit-Technokraten bewußt provoziert, um eigene machtpoliti- sche Interessen durchzusetzen und unliebsame gesellschaftliche Gruppen existentiell in die Knie zu zwingen.
Deneke zitierte eine aktuelle Un- tersuchung von Professor Dr.
Günter Sieben, Universität Köln, der detailliert nachwies, daß die Steigerung der Nettoeinkommen der Ärzte gegenüber dem Anstieg der Einkommen der Unselbständi- gen in den vergangenen zehn Jah- ren relativ zurückblieb. Das Jahr 1967 gleich 100 gesetzt, stieg das Einkommen der Ärzte auf 143,4 Prozent, das der Arbeitnehmer auf 211,7 Prozent. Berücksichtigt man die im Durchschnitt gestiegene Ar- beitszeit der freipraktizierenden Ärzte, so liegt das leistungsneutra- le Einkommen des Kassenarztes heute nur noch rund tausend DM über dem eines Beamten der Be- soldungsstufe A 16 (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 12/1978, Seite 675).
Noch kein Grund zur Resignation Trotz des schlechter gewordenen gesundheitspolitischen Klimas gibt es keinen Grund zur Resigna-
tion, resümierte Deneke unter Zu- stimmung des Auditoriums. Politi- ker aller Parteien müßten endlich einsehen, daß unvernünftige und überzogene Sozialleistungen die mitmenschliche Opferbereitschaft systematisch überforderten. Nur die Rückbesinnung auf das öko- nomisch Machbare, die Wiederbe- lebung der Kräfte der Privatinitiati- ve sowie des Leistungswillens je- des einzelnen könnten bereits in naher Zukunft eine Wende herbei- führen.
Durch das Vorleben altruistischer Grundsätze könne auch die junge Generation gewonnen • werden.
Der Individualmedizin bleibe auch heute noch eine realistische Chan- ce, wenn sich die Ärzteschaft ihrer Sozialfunktion durch persönlichen Einsatz Tag für Tag bewußt bleibe.
• Die Berichterstattung über die Berufspolitischen Kolloquien in Badgastein und in Davos wird im nächsten Heft fortgesetzt.
Programmatik sozialistischer Systemveränderung
J.F. Volrad Deneke
Ende September 1977 veröffent- lichte die Gewerkschaft ÖTV ihr gesundheitspolitisches Pro- gramm. Gegenüber den seit mehr als fünf Jahren bekannten Plänen des Deutschen Gewerkschafts- bundes enthält es in Inhalt und Zielsetzung nichts grundsätzlich Neues, nur Präzisionen und Bestä- tigungen des bisher in gewerk- schaftlichen Publikationen bereits bekanntgemachten Willens zu ei- ner totalen Veränderung unseres Systems der sozialen Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland.
Wenige Wochen später verab- schiedete der Parteitag der SPD in Hamburg in der atemberaubenden
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