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28. Januar 2011MEDIZINISCHE REHABILITATION
Berufliche Teilhabe als Leitziel
Die Deutsche Rentenversicherung will ihre medizinische Rehabilitation neu ausrichten: Die Angebote sollen stärker arbeitsbezogen sein als bisher.
In einem Modellprojekt erproben derzeit sieben Kliniken ein Rahmenkonzept.
R
eha vor Rente: Um diese sozi- algesetzliche Maßgabe in der Versorgungswirklichkeit noch nach- haltiger umzusetzen, strebt die Deut- sche Rentenversicherung (DRV) Bund mit ihren Regionalträgern ei- ne „konzeptionelle Neuorientierung von Diagnostik und Therapie in der medizinischen Rehabilitation“ an.Die medizinische Rehabilitation soll durchgängig einen starken Arbeits- bezug erhalten. Die Rentenversiche- rung weist dabei auch auf die Inter- nationale Klassifikation der Funk - tionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit hin. Alltagsbewältigung, berufliche Teilhabe und soziale Ein- bindung auch mit dauerhaften ge- sundheitlichen Einschränkungen sind danach anstelle einer zumeist nicht erreichbaren Heilung für das thera- peutische Handeln zielführend.
In einem von 2009 bis 2010 ent- wickelten Anforderungsprofil hat die DRV Zielgruppen, Maßnahmen, personelle und strukturelle Voraus- setzungen und weitere Kriterien ei- ner Medizinisch-beruflich orientier- ten Rehabilitation (MBOR) für so- matische Indikationen umrissen.
Für die Kliniklandschaft wurde ein abgestuftes Angebot entworfen:
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Stufe A: Flächendeckend sol- len die Rehakliniken „beruflich orientierte Basisangebote“ für alle Erwerbsfähigen vorhalten. Sie um- fassen etwa eine berufsbezogene Diagnostik, Beratung und nieder- schwellige Gruppenangebote.●
Stufe B: Ebenfalls flächende- ckend sollen „MBOR-Kernmaß- nahmen“ für Rehabilitanden mit be- sonderen beruflichen Problemlagen in Schwerpunktkliniken angeboten werden. Beispiele sind entspre- chende Assessments, berufsbezoge- ne psychoedukative Gruppen und Arbeitsplatztrainings.●
Stufe C: Patienten mit beson- ders hohem Bedarf sollen in MBOR-Schwerpunktkliniken auch aufwendige „spezifische MBOR- Maßnahmen“ finden, zum Beispiel externe Belastungserprobungen (sie- he Tabelle).Im Mittelpunkt der MBOR stehen Patienten mit „besonderen beruf - lichen Problemlagen“. Etwa jeder dritte Patient, der über die Renten- versicherung in eine Rehabiliations- klinik kommt, ist in dieser Weise be- troffen, haben Forscher der Charité – Universitätsmedizin Berlin vor fünf Jahren im bundesweiten Forschungs- projekt „PORTAL“ festgestellt. Die Anteile liegen zwischen 17 Prozent in der Dermatologie und 64 Prozent in der Onkologie. Mit „besonderen beruflichen Problemlagen“ sind problematische sozialmedizinische Verläufe gemeint – wie häufige Ar- beitsunfähigkeit, unterbrochene Er- werbsbiografien – oder starke Zwei- fel, die geforderten Leistungen noch erbringen zu können. Als Indikator gelten neben erhöhten Arbeitsun - fähigkeitszeiten und der Negativ- prognose des Patienten auch hohe psychosoziale Belastungen am Ar- beitsplatz. Dazu zählen Konflikte im Beruf, Über- und Unterforde-
rung, Arbeitsunzufriedenheit, erhöh- tes Stresserleben, Ängste oder Burn- out-Risiken.
Durch geeignete Interventionen sollen die arbeitsplatzbezogenen personalen Ressourcen der Betrof- fenen gestärkt und Letztere befähigt werden, „trotz besonderer berufli- cher Problemlagen eine nachhaltige berufliche Integration zu erreichen“.
Rehabilitationsexperten der DRV Bund weisen darauf hin, dass Stu - dien günstige Auswirkungen von bedarfsorientierten, intensiven und multimodalen beruflichen Thera- pieprogrammen auf den allgemei- nen Gesundheitszustand, das Ver- meiden von Fehlzeiten und die Teil- habe am Arbeitsleben belegen konnten. Zugleich hat eine Be- standsaufnahme zur Situation in 763 Rehaeinrichtungen aufgezeigt, dass der Berufsaspekt in der Praxis noch nicht ausreichend mit dia - gnostisch-therapeutischer Systema- tik behandelt wird und Interventio- nen vielfach vom vorhandenen Angebot gesteuert werden.
Um MBOR-Patienten möglichst frühzeitig zu identifizieren, wurden verschiedene kurze Fragebogen zur Selbstauskunft der Patienten entwi- ckelt, darunter das „Würzburger Screening“ und das „Screening-In- strument zur Einschätzung des Be- darfs an Medizinisch-Beruflich Ori- entierten Maßnahmen in der medizi- nischen Rehabilitation“ (SIMBO) (siehe Kasten). Daran sollen sich vertiefende Diagnoseverfahren bis hin zu Profilverfahren anschließen.
Mit ihnen lassen sich berufsrele- vante funktionale, kognitive und behaviorale Beeinträchtigungen dif- ferenziert ermitteln und Therapie- ziele und -maßnahmen planen.
Für welche Diagnoseverfahren sich die Kliniken entscheiden, liegt in ihrem Ermessen. Vielfach ist auch Die Rehabilitanden mit einer besonderen beruflichen
Problemlage müssen zunächst einmal identifiziert werden.
Ein Screening zur beruflichen Situation sollte folgende Punkte abdecken:
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Wie stark sind Sie durch Schmerzen in Ihrer Arbeit beeinträchtigt? (Belastung)●
Wie stellen Sie sich Ihre berufliche Zukunft vor?(subjektive Erwerbsprognose)
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Was erhoffen Sie sich von Ihrem Rehaaufenthalt?(Therapiemotivation)
Angelehnt an: SIMBO-Fragebogen
SCREENING
T H E M E N D E R Z E I T
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28. Januar 2011 die Arbeitsteilung zwischen Leis-tungsträger und Klinik unterschied- lich. So erfolgt in Westfalen eine Markierung potenzieller MBOR-Pa- tienten bereits durch den Regional- träger, so dass die Klinik die Dia - gnostik mit weiteren Fragebogen schon vor der Aufnahme fortführen kann. Bei der DRV Bund wird bei der Antragstellung mit dem SIMBO gescreent, um dann in der sozial - medizinischen Begutachtung eine geeignete Klinik auszuwählen. An- sonsten werden die Patienten häufig erst nach der Aufnahme untersucht.
Im Oktober 2010 begann eine fünfzehnmonatige Modellphase in sieben Kliniken, wobei sich das Projekt auf die Orthopädie kon - zentriert. Die unterschiedlichen Schwerpunkte und Angebote der Kliniken spiegeln die nahezu 20-jäh rige heterogene Entwicklung wider. Sie reicht von der punktuel- len Beratung bis hin zu komplexen Kooperationsmodellen mit Berufs- förderungswerken und Betrieben.
Häufig steht eine sozialrechtliche Information am Anfang: Dabei er- fahren die Patienten, welche Vor - aussetzungen und sozialmedizini- schen Folgen mit einer Frühverren- tung verbunden sind, und spielen Beispielfälle durch. Ergänzend wer- den sie über Förderungsmöglich- keiten beraten, um den Blick für berufliche Alternativen zu weiten.
So soll das Seminar „Berufliche Zukunft“ im Rehazentrum Bad Eil- sen in fünf interaktiven Sitzungen ei- ne realistische Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsbilds und ei- ne Revision von Rentenwünschen anregen. Darüber hinaus hat die niedersächsische Klinik eine breite Palette berufsorientierter Gruppen bis hin zu poststationärer Betreu- ung (Fall management, telefoni- sche Nach sorge) eingerichtet.
Eine ähnliche Intervention wird in der pfälzischen Dreiburgenklinik mit dem Fokus auf eine berufs - bezogene Zielorientierung für die Rehabilitation durchgeführt. Die Klinik kooperiert systematisch mit Be rufsförderungswerken (berufli- che Orientierung, Belastungserpro- bung) und Unternehmen (stufen- weise Wiedereingliederung). Des Weiteren hat sie ein auf Schicht -
arbeit ausgerichtetes Präventions- programm entwickelt.
Das Rehazentrum Bad Pyrmont bietet spezielle Therapiegruppen für Pflegekräfte, Verwaltungsangestellte und andere Berufe an. Übergreifend ist dagegen ein kognitiv-behaviorales Seminar zur berufsbezogenen Stress- bewältigung angelegt, das Stress - reaktionen bewusst macht, mentale Strategien vermittelt und dabei auch mit Rollenspielen arbeitet.
Die Klinik Münsterland hat ihr multimodales „Rückenfit“-Pro- gramm für psychosozial belastete Schmerzpatienten um ein hoch - frequentes Arbeitsplatztraining er- weitert. Die Rehabilitanden sollen berufsspezifische Leistungsanfor- derungen in einem täglichen Zirkel-
training anhand der Belastungstests (Evaluation der funktionellen Leis- tungsfähigkeit nach Susan Isernha- gen) ergotherapeutisch bearbeiten.
Ebenso wendet sich die Paracel- sus-Klinik in Bad Gandersheim an Patienten mit berufsbezogener psy- chosozialer Problemlage. Im Vor- dergrund steht das Verbessern der berufsbezogenen Kompetenzen: In einer geschlossenen Gruppe durch- laufen die Patienten ein multimoda- les Therapieprogramm, dessen we- sentliche Bausteine ein Sozialtrai- ning, ein funktionelles Arbeitsplatz- training und eine Bewegungskom- petenzschulung bilden.
In der Rehaklinik Am Kurpark in Bad Kissingen wendet man sich vor allem an Rehabilitanden, die zwar Probleme am Arbeitsplatz haben, aber grundsätzlich dorthin zurück-
kehren könnten. Nach erfolgrei- cher dreiwöchiger Rehabilitation absolvieren sie eine MBO®-Kom - pakt woche mit funktioneller Leis- tungsdiagnostik, Leistungstraining, psychosozialem Gesundheitstraining sowie Ergonomie- und Arbeits- platztraining (Modell- und Simula- tionsarbeitsplätze).
Das Konzept dafür wurde in der Bavaria-Klinik in Kreischa entwi- ckelt, die sich auf dem Gebiet be- rufsbezogener medizinischer Reha- bilitation schon frühzeitig engagier- te. Sie ließ sich den Begriff der Medizinisch-beruflichen Orientie- rung (MBO) für ihre umfassenden bis zur Spezialisierungsstufe C rei- chenden Maßnahmenkonzepte (viel- fältige Vernetzung, Fallmanagement)
als eingetragenes Warenzeichen MBO® schützen, so dass anderwei- tig seitdem auf die Bezeichnung MBOR ausgewichen wird.
In der wissenschaftlichen Evalua- tion wird ein Forscherteam von der Klinik für Rehabilitationsmedizin an der Medizinischen Hochschule Han- nover und von der Universität Würz- burg vor allem untersuchen,
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inwieweit die Zuweisung zur MBOR zielgenau erfolgt●
wie differenziert berufliche Problemlagen identifiziert werden●
welche Qualität die durchge- führten Maßnahmen haben und●
wie Patienten die Ergebnisse einschätzen.Auch den Aufwand und sich daraus ergebende Vergütungsfragen soll die Begleitforschung prüfen. ■ Leonie von Manteuffel TABELLE
MBOR-Stufenmodell
100 % = alle DRV-Rehabilitanden Stufe
A
Beruflich orientierte Basisangebote B Stufe A + MBOR- Kernmaßnahmen
C Stufe B+
Spezifische MBOR- Maßnahmen
Angebote
– berufsbezogene Motivation – Berufs- und Sozialberatung
– zum Teil auch berufsbezogene Gruppen – berufsbezogene Gruppen
– interne Belastungserprobung – Arbeitsplatztraining
– zum Teil auch Zusammenarbeit mit externen Institutionen
– Belastungserprobung extern
– Zusammenarbeit mit externen Institutionen
Anteil 100 %
bis zu 30 %
5 %