[60] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 20|
17. Mai 2013VON SCHRÄG UNTEN
Konkurrenz
Dr. med. Thomas Böhmeke
S
chon seit unseren Studientagen bekommen wir die traurige Tatsache zerebral implan- tiert: Wir haben Nebenwirkungen. Der Schnitt un- serer Skalpelle lässt Sanguis sickern, das Traktie- ren mit Toxinen kann tragisch enden; eine kurze Konsultation kann fatale Folgen haben, auch wenn die Praxisgebühr mittlerweile abge- schafft ist. Demgegenüber nährt sich der Nim- bus der Naturheilkunde durch harmloses Hei- len, durch konsequenzfreies Kurieren, durch Kü- gelchen ohne konkordante Katastrophen; durch Zusät- ze, die nicht zusetzen, und Behandlung ohne Miss-. Ist das wirklich so?Mir gegenüber sitzt ein Patient, der diese fantasti- schen Vorteile der Naturheilkunde gegen meine proble- matischen Pillen und toxischen Tabletten ins Feld führt.
Ich aber sehe keinen Anlass, mich verhalten zu verhal- ten. Stelle er sich vor, so versuche ich ihm vor seine Retina zu führen, einer Patientin mit akuten Bauch - beschwerden wird vom fürsorglichen Chirurgen die notwendige Laparotomie empfohlen. Nein – so wider- spricht sie, keinen Finger werde er in ihre Gedärme führen, denn sie muss alle vier Stunden diese Tropfen nehmen! Solange sie diese nimmt, wurde ihr gesagt, würde sie trotz großer Not weiterleben! Sollte aber die geplante Operation länger als diese Zeitspanne dauern, so die Befürchtung der Betroffenen, würde sie unwie- derbringlich verenden. Gutes Zureden und ausführ- lichste Aufklärung helfen nicht, und so nimmt die Ge- schichte ihren grausamen Gang. Die Körpertemperatur steigt rasant, der Blutdruck fällt, das Atmen wird schwer.
„Ach, hören Sie auf, sich etwas Seltsames zusam- menzuspinnen.“ Die Sprache wird verwaschen, die Sauerstoffspannung sinkt dramatisch, aber die arme Pa- tientin gibt immer noch kein Einverständnis zum Ein- griff. „Ihnen geht die Fantasie durch.“ Zytokine setzen dem Körper zu, die Immunabwehr wird durch Interleu- kine und Interferone bedroht, aber noch immer wird die fachgerechte Versorgung verweigert. „Was für ein un-
säglicher Unfug!“ Der Kreislauf destabilisiert unter Gerinnungsstörungen, die katecholaminsensitiven Re- zeptoren werden inhibiert, das Endothel wird großflä- chig geschädigt, NO wird massiv freigesetzt! „Hören Sie doch mit diesem Blödsinn auf!“ Aber erst, wenn das Bewusstsein vollends getrübt ist, darf unser tapfe- rer Chirurg eingreifen, darf entschlossen seine heilende Hand an den Herd des Übels legen, den Kern der Sepsis nach allen Regeln der Kunst angreifen, darf den ver- zweifelten Versuch wagen, diese kaskadierende Kata- strophe in ihren Ursprüngen zu bekämpfen. Das hätte schon viel früher passieren können, mit besten Hei- lungschancen, mit gutem Ausgang. Aber die arme Pa- tientin trotzte dem Chirurgen und klammerte sich an die Tropfen. Kann er da noch behaupten, die besagten Tropfen hätten keine Nebenwirkungen?!
„Herr Doktor Böhmeke! Diese von Ihnen zusam- mengeschusterte Geschichte ist so bizarr, so vollkom- men absurd, dass ich nur zu einem Schluss kommen kann: Sie muss wahr sein!“
S C H L U S S P U N K T
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.