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Archiv "Immer mehr Ärzte: Qualifikation und Freiberuflichkeit stehen auf dem Spiel" (01.03.1990)

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Eine zunehmende „Arztdichte"

kommt zunächst den Wünschen der Bürger entgegen, immer rascher und

I

Versorgungsqualität und

„Arztdichte"

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Immer mehr Ärzte:

Qualifikation und Freiberuflichkeit

THEMEN DER ZEIT

Von 1979 bis 1989 hat sich die Zahl der Ärzte in der Bundesrepu- blik Deutschland von 150 544 auf 232 664 erhöht. Im betrachteten Zehnjahreszeitraum lag die Zu- wachsrate bei den berufstätigen Ärz- ten bei durchschnittlich 3,2 Prozent pro Jahr.

Ohne ärztliche Tätigkeit waren am 31. Dezember 1988 46 663 Ärzte;

von ihnen waren 24 358 über 65 Jah- re alt, 8115 waren arbeitslos gemel- det. Der Marburger Bund schätzt die Zahl der arbeitslosen Ärztinnen und Ärzte auf 15 000.

Seit 1979 hat sich die Zahl der niedergelassenen Ärzte von 57 566 auf 71 800 (davon 68 500 Kassenärz- te) vermehrt. Die Zahl der Kranken- hausärzte stieg im gleichen Zeitraum von 62 776 auf 85 115.

Von den bereits seit mehreren Jahren steigenden Zahlen neu Ap- probierter sind in den Jahren von 1980 bis 1989 über 12 000 Ärzte zu- sätzlich in freier Praxis tätig gewor- den und 18 000 zusätzlich in den Krankenhäusern. Die Zahl der Ärzte in Behörden, Körperschaften und sonstigen ärztlichen Tätigkeitsberei- chen hat sich mit einer Steigerung um 9000 Ärzte nahezu verdoppelt.

Etwa 20 000 Ärztinnen und Ärz- te sind innerhalb des letzten Jahr- zehnts für die ausscheidenden nach-

gerückt, insgesamt rund 40 000 Ärzte konnten darüber hinaus in ihrem Be- ruf tätig werden. Ihr Studium abge- schlossen und ihre Approbation er- halten haben in dieser Zeit aber 80 000 Ärzte.

Die Altersstruktur der Kassen- ärzte hat sich von 1980 bis 1989 er- heblich verändert. Im Jahr 1980 wa- ren noch 29 Prozent der Ärzte in der kassenärztlichen Versorgung 60 Jah- re alt und älter. Ihr Anteil betrug 1987 nur noch 19 Prozent.

Die Zahl der deutschen Medi- zinstudenten an deutschen und aus- ländischen Hochschulen betrug 1988 rund 85 000. In den folgenden sieben Jahren wird sich deshalb an der ho- hen Zahl der Neuapprobationen praktisch nichts ändern.

• Selbst wenn weitere 40 000 Ärzte in den nächsten acht Jahren eine Berufstätigkeit in der ambulan- ten und in der stationären Kranken- versorgung finden sollten, werden dann 40 000 Ärzte dort nicht unter- gekommen sein.

intensiver versorgt zu werden. Dabei setzen sie eine durch Aus-, Weiter- und Fortbildung der Ärzte, an wis- senschaftlichem und technischem Fortschritt orientierte und durch Be- rufserfahrung gesicherte Qualität des ärztlichen Handelns voraus. Sie verbinden mit ihrem Vertrauen zu einem Arzt auch das Vertrauen in die Wirksamkeit der ethischen Nor- men des Arztberufes, die das Wohl des Patienten stets an die erste Stelle setzen.

Die Qualität der Ausbildung zum Arzt und der Weiterbildung wird maßgeblich durch die persön- liche Begegnung mit Krankheitsver- läufen und kranken Menschen mit- bestimmt.

Bei ständig steigenden Arztzah- len ist es schon deshalb nicht mög- lich, allen Ärzten in gleicher Weise die Gelegenheit zu geben, die für ih- re verantwortliche Tätigkeit notwen- dige Berufserfahrung zu erwerben.

Praktische Fertigkeiten verfestigen medizinische Kenntnisse. Die Erfah- rungen im Umgang mit medizinisch- technischen Verfahren sind abhän- gig von Untersuchungs- und Behand- lungsfrequenzen, die dann nur noch für einenTeil der Ärzte gegeben sind oder die, wenn sie auf eine ständig steigende Zahl von Ärzten gleichmä- ßig verteilt werde könnten, für kei- nen mehr ausreichen.

Es besteht von daher eine, wenn auch nicht als festes Zahlenverhält- nis definierte Beziehung zwischen der Zahl der ärztlich zu versorgen- den Personen und der Zahl von Ärzten, die sich im Rahmen der not- wendigen ärztlichen Versorgung durch Studium, Weiterbildung und Berufserfahrung qualifizieren kön- nen.

• Ständig steigende Arztzahlen bei stagnierenden oder rückläufigen Bevölkerungszahlen müssen die Qualifikationsmöglichkeiten der Ärzte beeinträchtigen und damit die Versorgungsqualitäten mittelfristig und langfristig in Frage stellen.

Zu den medizinischen Auswir- kungen zählen weiterhin die Risiken für die Stabilität der ethischen Nor- men

im Arztberuf. Zunehmender

Wettbewerb kann den Arzt zu Kom- promissen im Einzelfall über die medizinisch sinnvollen Grenzen hin-

stehen auf dem Spiel

Mit der Arztzahlentwicklung beschäftigt sich der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Jahresgut- achten 1990 erneut. Prognosen sind mit Unsicherheiten wegen der Ent- wicklung der medizinischen Wissenschaft, der Organisationsformen und der Finanzierungsmechanismen behaftet. Deshalb sind sie auch nicht ohne weiteres konsensfähig; bei der Beurteilung der Interventions- möglichkeiten bei den Empfehlungen ist der Konsens wieder leichter. — Der folgende Beitrag gibt eine Datenübersicht und eine Problemdarstel- lung. Ausführlicher befaßt er sich jedoch mit den Auswirkungen und Nebenwirkungen einer sehr hohen „Arztdichte", insbesondere unter dem Aspekt, daß die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den kommenden acht bis zehn Jahren weiter ansteigen wird. Auch die kürzlich beschlos- sene Herabsetzung der Zulassungszahlen wird daran nichts ändern.

Dt. Ärztebl. 87, Heft 9, 1. März 1990 (27) A-655

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aus verführen. Abstriche von der Versorgungsqualität sind auch hier die Folge.

Eine steigende „Arztdichte" er- öffnet zwar die Chance einer ver- stärkten Zuwendung durch den Arzt, der sich darum bemühen wird, seine Patienten nicht zu verlieren. Die Grenze dieser Bindung muß aber dort gesehen werden, wo medizi- nisch notwendige Überweisungen unterlassen werden Eine zu hohe

„Arztdichte" kann die Bereitschaft zur Zusammenarbeit der Ärzte ge- fährden, wenn anstelle der notwen- digen Kollegialität Konkurrenzver- halten gefördert wird. Vorhandene Kooperationsmöglichkeiten werden dann zurückhaltender genutzt.

Die Patienten ihrerseits unter- stützen solche Tendenzen zum ver- meintlichen eigenen Vorteil; sie un- terschätzen dabei den Verlust der Patient-Arzt-Beziehung als wesent- lichen Faktor in der individuellen Krankenbehandlung.

Arztwechsel muß möglich sein, sonst wäre das Vertrauen wenig wert; Arztwechsel aus Gewohnheit infolge irritierender Konkurrenzen schafft aber Unsicherheit beim Pa- tienten, distanziertes Engagement beim Arzt und deshalb geringere Heilungschancen.

Fehlinvestition?

Die Ausbildung zum Arzt ist im Vergleich zu anderen akademischen Studiengängen besonders teuer, und die Kosten für einen Ausbildungs- platz werden zwischen 160 000 und 300 000 DM geschätzt.

Für die zur Zeit 20 000 Ärzte, die nicht in ihrem Beruf tätig gewor- den sind, können also Ausbildungs- kosten von ungefähr 3,2 Milliarden DM bis 6 Milliarden DM geschätzt werden. Dieser hohen gesellschaft- lichen Investition sollte ein entspre- chender Nutzen gegenüberstehen.

Auch nach der Ausschöpfung al- ler Beschäftigungsmöglichkeiten im Arztberuf wird in Zukunft die Zahl derjenigen Ärzte erheblich zuneh- men, die andere Tätigkeiten suchen müssen. Die Finanzierung von über den Bedarf hinausgehenden Ausbil- dungskapazitäten ist auch deshalb

eine Fehlinvestition, weil dann weni- ger Mittel für andere Ausbildungs- bereiche zur Verfügung stehen. Dar- über hinaus entstehen durch die Wahl des Medizinstudiums Opportu- nitätskosten, weil eine große Zahl gut benoteter Schulabgänger das Medi- zinstudium wählt und nicht Fächer mit einem besonders hohen volks- wirtschaftlichen Nutzen wie zum Beispiel Biotechnologie, EDV, Grundlagenforschung usw.

Unter dem Teilaspekt der So- zialökonomie kumulieren die Pro- bleme ständig steigender Arztzahlen auf allen Ebenen. Die Angebotsdich- te stimuliert die Inanspruchnahme von Leistungen, gleichzeitig forciert sie den Wettbewerb mit technisch gestützter Hochleistungsmedizin.

Die Kosten dafür steigen um so mehr, je präziser und deshalb für den einzelnen Kranken überzeugen- der die Aussagefähigkeit in der Dia- gnostik und je faszinierender die the- rapeutischen Verfahren werden. Je- der Patient wird alles für sich bean- spruchen, und der in den Wettbe- werb getriebene Arzt wird diesen Ansprüchen auch dann entsprechen müssen, wenn er den Zeitpunkt oder die Indikation dafür nicht oder noch nicht gekommen sieht. Den Rest des Widerstandes bricht das Risiko der Unterlassung (Haftungsrisiko) in der gegebenen unsicheren Prognose in- dividueller Krankheitsverläufe.

In die sozialökonomische Dis- kussion über eine immer größer wer- dende „Arztdichte" gehören auch die mittelbaren Veränderungen, die sich aus dem nahezu unbegrenzten subjektiven Bedarf des einzelnen Bürgers an ärztlicher Beratung bei allen Störungen des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefin- dens (WHO) ergeben.

Ließe man immer mehr Ärzte mit ihrem Leistungsangebot frei mit allen anderen Dienstleistungs- und Produktangeboten an die Kaufkraft der Bürger in Wettbewerb treten, könnte sich die Priorität der Sorge um die Gesundheit in den Entschei- dungen der Bürger niederschlagen.

Die Bereitschaft in der Bevölkerung zu privaten Ausgaben für Leistungen und Produkte, die als gesundheits- fördernd beworben werden, spricht für solche Prioritäten.

Wahrscheinlich fließen bei einer totalen Freizügkeit der persönlichen Entscheidung über die Verwendung der Beiträge und Abgaben dem ge- sundheitlichen Wirtschaftsbereich mehr Ressourcen zu, als dieses durch eine gesetzliche und vertrag- liche Begrenzung der Gesundheits- ausgaben in der Sozialversicherung geschieht.

So hat sich das System im inter- nationalen Vergleich auch keines- wegs als besonders auffällig in sei- nem Wachstum im Rahmen der Ge- samtwirtschaft erwiesen; aber es ist durch zahlreiche staatliche Interven- tionen zugunsten der öffentlichen Haushalte in zunehmende finanziel- le Bedrängnis geraten.

Vor allem die Verlagerung von Beitragsleistungen der Rentenversi- cherung auf die aktiven Beitragszah- ler der Krankenversicherung hat die- se finanzielle Enge bewirkt, und zwar, um dadurch den Staat von sei- ner Zuschußpflicht zur Rentenversi- cherung zu entlasten.

Eine Art leitender Budgetierung in Anbindung an die prozentualen Beitragssätze wurde als Grundsatz gesetzlich vorgeschrieben. In der

„Gesundheitswirtschaft" müssen sich immer mehr Beschäftigte in ei- nem verhältnismäßig knappen Fi- nanzrahmen arrangieren. Da auch dort Tarifverträge und Besoldungs- gesetze gelten, trifft der Finanzman- gel in erster Linie die Selbständigen und die verfügbaren Mittel für Inve- stitionen.

Ob die gesetzliche Bestimmung im SGB V § 72 Abs. 2, daß die ärzt- lichen Leistungen angemessen zu vergüten sind, beim Grundsatz der Beitragssatzstabilität in den Verträ- gen noch zum Tragen kommen kann, ist zu bezweifeln. Geschieht dies nicht, ist eine ständig steigende Zahl von Ärzten in der kassenärztlichen Versorgung, in der die Ärzte freibe- ruflich tätig sind, gezwungen, im glei- chen Finanzrahmen die Arbeit un- tereinander zu teilen.

Legt man die Gebührenordnung für Ärzte, eine Rechtsverordnung

I Grenzen der

Anpassungsfähigkeit

A-656 (28) Dt. Ärztebl. 87, Heft 9, 1. März 1990

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der Bundesregierung, zugrunde, die Multiplikatoren für den Zeitaufwand und die Schwierigkeit und Kosten ei- ner Leistung enthält, und nimmt sie als Maßstab für eine angemessene Vergütung, ergeben sich daraus für die Verteilungspunktwerte in der kassenärztlichen Versorgung bereits heute erhebliche „Sozialrabatte".

Der in der GOA verankerte Min- destpunktwert (zur Zeit 0,11 DM) müßte für eine Durchschnittsberech- nung in den Verträgen mit den Krankenkassen um den Faktor er- höht werden, der den durchschnitt- lichen Frequenzen der Leistungsva- riationen (Zeitaufwand, Schwierig- keit, Kosten) entspricht.

• Wegen der verhältnismäßig hohen fixen Praxiskosten wird bei steigender Arztzahl die freiberuf- liche Existenz immer schwieriger.

Die Gefährdung einer leistungsfähi- gen freiberuflichen Versorgungs- struktur ist abzusehen. Ob dies in fünf oder acht Jahren erreicht ist, bleibt hinsichtlich der Folgen uner- heblich.

Wenn die Arztzahlen immer weiter steigen, ist die Existenzmög- lichkeit für den freien Arztberuf im Dienste der Versicherten der GKV nicht mehr gegeben.

Eine nebenberufliche ärztliche Tätigkeit mit gelegentlichen Patien- tenkontakten (wie aus Island be- schrieben) würde die Anpassung an die moderne Medizin erschweren und Defizite an Berufserfahrung auslösen. Eine solche Entwicklung würde Versorgungsstrukturen mit fest bezahlten Ärzten in vergesell- schafteten Versorgungseinrichtun- gen erzwingen. Investitionen, Inno- vation und Personalkosten müßten dann gesondert aufgebracht werden mit allen Eigenheiten öffentlicher Finanzierung.

In einer freiheitlichen demokra- tischen Gesellschaft werden die Chancen zur Entfaltung der Persönlichkeit und der Gestaltung von Freiräumen in Existenzen auch an den Möglichkeiten zur Ausübung eines freien Berufes gemessen. Die

Ärzte stellen die größte Gruppe un- ter den freien Berufen dar.

Die Bundesärzteordnung be- schreibt den Beruf des Arztes als

„seiner Natur nach frei". Damit trägt der Gesetzgeber der humanen Bin- dungsfähigkeit und der hohen per- sönlichen Verantwortung der Ange- hörigen dieses Berufsstandes Rech- nung. Dies sichert auch allen Ärzten in Anstellungsverhältnissen die be- rufliche Unabhängigkeit: Jeder Arzt kann, wenn sein ärztliches Gewissen in einer unselbständigen Tätigkeit in Konflikt gerät, sich im freien Beruf niederlassen.

Mut zur Selbständigkeit und Be- reitschaft zur Verantwortung sind Persönlichkeitsmerkmale, deren sich die Gesellschaft in diesem Beruf be- dient. Sie werden auch in der Rolle des Arztes erwartet, der im Rahmen der gesetzlichen Krankenversiche- rung tätig wird, die 92 Prozent der Bürger dieses Landes erfaßt (99,8 Prozent sind gesetzlich oder privat versichert).

Die Veränderungen zugunsten einer Vergesellschaftung oder zu ei- ner vergesellschafteten oder ver- staatlichten Ärzteschaft für die Ver- sorgung der Sozialversicherten wür- den einen einschneidenden gesell- schaftlichen Wandel bewirken.

Die berufliche Unabhängigkeit und die wirtschaftliche Selbständig- keit des Arztes in einem freien Beruf fördert die auf freie Arztwahl ge- stützte Vertrauensbildung zwischen Patient und Arzt. Ohne die Ver- trauensgrundlage sinken die Chan- cen für eine erfolgreiche individuelle Krankenbehandlung und gesund- heitliche Führung. Die partner- schaftliche Bindungsfähigkeit auf beiden Seiten würde durch Kontroll- systeme und Verwaltungsbürokra- tien in ihrer Qualität verändert. Wie weit diese Veränderungen gehen können, ist uns insbesondere in den letzten Wochen, in denen wir besse- re Einsichten in das Gesundheitswe- sen im anderen Teil Deutschlands erhalten konnten, klar geworden.

Den Interventionsmöglichkeiten bei der Zahl der Studienplätze und bei der Zulassung zur kassenärzt- lichen Tätigkeit hat das Bundesver- fassungsgericht enge Grenzen ge- setzt. Für Einschränkungen dieser

Art, die den Kernbereich des Grund- gesetzes betreffen, sind hohe Hür- den vorgesehen. Es muß dafür ein überwiegendes Allgemeininteresse bestehen, und dieses Allgemeinin- teresse muß mit den geringstmög- lichen Eingriffen in die Persönlich- keitsrechte gewahrt werden. Eine al- lein am Bedarf orientierte Beschrän- kung der Studentenzahlen oder der Arztzahlen, wie sie anderswo mög- lich ist, ist bei uns verfassungswidrig.

Die Qualität der Ausbildung zum Arzt erfordert bereits einen Nume- rus clausus; die Ziele der Approba- tionsordnung rechtfertigen die kürz- lich erfolgte Herabsetzung der Zu- lassungszahlen zum Medizinstu- dium.

Zwar stünde einer erneuten Überprüfung des Urteils vom 23.

März 1960, in dem das Bundesver- fassungsgericht die Verhältniszahlen Arzt/Versicherte für die Kassenzu- lassung für verfassungswidrig erklärt hat, angesichts der erheblich verän- derten Verhältnisse nichts im Wege (vgl. Gutachten Georg Wannagat/

Wolfgang Gitter und Dieter Blumen- witz, 1985). Aber vorerst müßten sich alle Maßnahmen mit geringerer Freiheitseinschränkung als untaug- lich erwiesen haben. Dazu gehören beispielsweise auch finanzielle Steuerungsmechanismen über das Kassenarzthonorar und andere Maß- nahmen mehr.

Außerdem würde ein erneutes Verfahren vor dem Bundesverfas- sungsgericht so lange dauern, daß es für den jetzigen Handlungsbedarf keine Perspektiven bietet. Dieser Handlungsbedarf wird bestimmt durch die acht bis zehn Jahrgänge mit je 11 000 bis 12 000 Studierenden der Medizin, die innerhalb des näch- sten Jahrzehnts als Ärzte zu uns sto- ßen werden. Sie werden eineinhalb Jahre nach dem bestandenen Staats- examen als Ärzte im Praktikum ihre Ausbildung abschließen und danach ihre Approbation erhalten.

Die Praxisphase ist mit Kompro- missen ausgestaltet worden, die eine systematische ärztliche Grundausbil- dung im Krankenhaus zum Zufall

macht. Die Sorge um Engpässe hat

alle vernünftigen Vorschläge zur Qualitätssicherung dieses Ausbil- dungsabschnittes beiseite geschoben.

I

Die

Freibernflichkeit ist schützenswert

Dt. Ärztebl. 87, Heft 9, 1. März 1990 (31) A-659

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Es kann also keine Rede davon sein, daß damit ein wesentlicher Teil der Anforderungen der EG-Richtlinie Allgemeinmedizin erfüllt wird. Es handelt sich bei der Praxisphase um eine durch die Überfüllung der me- dizinischen Fakultäten notwendige Ergänzung der praktischen Hoch- schulausbildung, aber nicht um eine spezifisch allgemeinmedizinische Weiterbildung.

Das Problem ist für den Gesetz- geber, die Verordnungsgeber und die ärztliche Selbstverwaltung: Was wird mit den 6000 bis 7000 Ärztinnen und Ärzten, die nach der Approba- tion keine Weiterbildungsmöglich- keit im Krankenhaus finden und für ihre Niederlassung im allgemeinme- dizinischen Tätigkeitsfeld noch zu wenig Kenntnisse und Berufserfah- rung haben? — Was können wir Ärzte tun, um sie in die Krankenversor- gung oder auch die gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung aufzu- nehmen, ihnen die Möglichkeit zum Erwerb von Kenntnissen und Berufs- erfahrung zu geben, und was sollten die Krankenkassen tun, um nicht neu approbierten Ärzen in eigener Praxis die fehlende Berufserfahrung durch aufwendige Verordnungen, Überweisungen und Einweisungen kompensieren zu müssen?

Die Arzthonorare werden unter mehr Ärzten geteilt werden müssen;

aber dann müßten erst einmal die Preise für die ärztlichen Leistungen in Ordnung gebracht werden. Die Nutznießer von mehr Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit sollten sich die Weiterbildung von Ärzten in der freien Kassenpraxis etwas kosten las- sen, nicht weniger jedenfalls als in Krankenhäusern; denn in der Kas- senpraxis reicht das Honorar nur sel- ten für mehr als einen Arzt. Die 0,25 Prozent des Beitragsvolumens der Krankenkassen sollten es wert sein, eine allgemeinmedizinische Qualifi- kation für den Einstieg in die Kas- senpraxis zu sichern.

• Die Praxisphase sollte der Klinik vorbehalten bleiben. Für die neu approbierten Ärzte, die danach nicht im Krankenhaus bleiben kön- nen, muß eine bezahlte Assistenten- stelle bei einem zur Weiterbildung ermächtigten niedergelassenen Arzt für die weiterhin notwendigen 18

Monate erreichbar sein. Das muß ge- meinsam durchgestanden werden, von den Krankenkassen, den eta- blierten Kassenärzten und den jun- gen Ärztinnen und Ärzten, wenn ih- nen die Freiberuflichkeit der Kas- senärzte erhalten bleiben soll. Oder glaubt jemand an die Erhaltung die- ser Institution, wenn sich die Jugend von ihr abwendet und in feste An- stellungen in einem vergesellschaft- lichten Gesundheitswesen strömt?

Gesetzliche Bestimmungen sind schnell zu ändern, wenn die politi- sche Richtung überall stimmt.

Daß unsere Kollegen im ande- ren Teil Deutschlands nach vierzig Jahren gesundheitlicher Komman- dowirtschaft des FDGB uns das wah- re Gesicht ihrer „Errungenschaften"

gerade jetzt vor Augen führen, sollte uns hellhörig und sensibel machen gegenüber den aufgewärmten Kon- zepten unserer eigenen Sozialisten.

Verliebt in ihre eigenen Gedanken- kreise, werden sie das wohl selbst nicht merken. Wir werden sehen, ob Staat und Gesellschaft schützen, was sie haben. Nur an uns darf es nicht scheitern.

Folgende Vorschläge sind für die aus Sicht der Ärzteschaft mit der Zielrichtung einer besseren Qualifi- kation für den allgemeinmedizini- schen Tätigkeitsbereich erforderlich:

> Die Ärzte im Praktikum soll- ten ausschließlich im Krankenhaus ausgebildet werden.

> Weitere 18 Monate sollten als Vorbereitungszeit für die kassen- ärztliche Tätigkeit im allgemeinme- dizinischen Bereich bis 1992 vorge- schrieben werden.

> Ab 1992 sollte die EG-Richt- linie Allgemeinmedizin im nationa- len Bereich mit drei Jahren unter An- rechnung der Praxisphase umgesetzt werden.

I> Ein Krankenkassenfonds oder ein Zuschlag von 1,25 Prozent zur kassenärztlichen Vergütung soll- te für die Bezahlung der Weiterbil- dung von angehenden Allgemeinärz- ten in der Kassenpraxis bereitgestellt werden.

> Bis es gelungen ist, die Hoch- schulausbildung in der Humanmedi- zin so zu reformieren, daß fünf Jahre dafür ausreichen — und das wird ent- scheidend von den Studentenzahlen

abhängen —, ist die politisch vorgege- bene Gesamtzeit von acht Jahren von der Zulassung zum Studium bis zu Niederlassung als Kassenarzt aus fachlichen Gründen nicht einzuhal- ten.

Konsequenzen sind überfällig

Die Arztzahlen werden sich im Laufe der Jahrzehnte wieder verrin- gern; Arzt sein ist ein schwerer Be- ruf, der viel Verzichte verlangt, und wir konstatieren auch mehr Interesse als früher für andere „moderne Be- rufe". Der Arzt-Beruf war keines- wegs immer so beliebt wie jetzt. Die jetzige Anziehungskraft haben dazu auch die Affinität des Sozialen und der Verfall anderer Leitbilder in der Gesellschaft mit sich gebracht.

Wir sollten dafür sorgen, daß der zur Zeit große Zustrom in den Arztberuf nicht zur Vernichtung der freiheitlichen Strukturen des Ge- sundheitswesens führt und uns dafür Verbündete suchen. Allein werden wir damit nicht fertig werden. Aber wir müssen es wollen und unseren Teil dazu beitragen. Auf keinen Fall sind die wesentlichen Probleme und Konsequenzen einer ständig wach- senden Zahl an Ärzten damit gelöst, daß ihr Risiko für die Beitragssatz- stabilität ausgeschaltet wird.

Vorrangig sind die Qualitäts- und Strukturprobleme, die in der öf- fentlichen Diskussion stets vernach- lässigt werden.

Wenn es um die Qualität der Ärzte geht und deren Bereitschaft, sich um diejenigen zu kümmern, die den Gesunden in der Regel hinder- lich sind, nämlich die Kranken, wird kaum jemand von sinnloser Ver- schwendung reden können.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Ernst-Eberhard Weinhold Arzt für Allgemeinmedizin

Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion

im Gesundheitswesen, Bonn Dorfstraße 140

2859 Nordholz A-660 (32) Dt. Ärztebl. 87, Heft 9, 1. März 1990

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