DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Die Kritik an den Krankenkassen spitzt sich zu
lnuner~ederZusagen,
aber keine Fortscluitte
Dr. Ulrich Oesingmann:
Die Geduld der Kassenärzte ist am Ende
Die Zeichen mehren sich: Die Kassenärzteschaft ist die anhaltende finanzielle Knebelung und bürokra- tische Gängelei durch Politik und Krankenkassen offensichtlich gründ- lich leid. Schon im Dezember letzten Jahres stellte Dr. Ulrich Oesing- mann, der Erste Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung, vor der Vertreterversammlung fest: "Die Belastungsgrenze ist über- schritten!" Die ungewöhnlich schar- fen Töne in seiner Rede ließen da bereits aufhorchen.
Sollten die Kassen indes die Stimmung in der Kassenärzteschaft weiterhin falsch eingeschätzt haben, so hat ihnen spätestens im März die- ses Jahres eine scharfe Warnung des KBV-Vorstandes den Ernst der La- ge drastisch vor Augen geführt. Das Vorpreschen der Betriebskranken- kassen, die sich mit Hilfe von Richt- größen 5,5 Milliarden DM Arznei- mitteleinsparungen bei den Kassen- ärzten holen wollten, war der Auslö- ser. Die Reaktion: Die KBV stellte den ernsthaften Willen der Kranken- kassen zur konstruktiven und ausge- wogenen Vertragspartnerschaft mit den Ärzten öffentlich in Frage!
Eine Überreaktion? Aus Sicht der Kassenärzte wohl kaum. Für sie waren die letzten Jahre ein frustrie- rendes Tauziehen um die Durchset- zung berechtigter Forderungen:
..,.. Zu oft kollidierten die Zusa- gen der Kassen auf Spitzenebene mit Hinhaltemanövern ihrer Unter,händ- ler, vor allem in Verhandlungen über die Einführung neuer, medizinisch notwendiger Leistungen und über die Weiterentwicklung des Einheitli- chen Bewertungsmaßstabes.
..,.. Zu lange schon halten die Kassen den Deckel auf dem Hono- rartopf der ambulanten kassenärztli- chen Versorgung - und "sparen" da- mit am falschen Ende.
..,.. Zu lange warten die Kassen- ärzte schon auf spürbare Fortschritte bei der versprochenen Rückkehr zur Einzelleistungsvergütung.
Auf der anderen Seite kann die Kassenärzteschaft für sich reklamie- ren, über viele Jahre hinweg maß- geblich zur finanziellen Stabilisie- rung der gesetzlichen Krankenversi- cherung beigetragen zu haben. Bei- tragsanhebungen waren in dieser Zeit nicht durch die ambulante Ver- sorgung bedingt.
Das Versprechen:
Rückkehr zur
Einzelleistungsvergütung Vertragspartnerschaft zwischen Ärzten und Kassen im Jahre 1986 hieß noch: Vertrauen gegen Ver- trauen. Bei der EBM-Reform stimm- ten die Kassenärzte einer auf zwei Jahre befristeten Pauschalierung der Gesamtvergütung zu, um - so das Versprechen der Kassen - nach Ab- schluß der Reform ab 1. Juli 1988 wieder zur Einzelleistungsvergütung zurückzukehren.
Es gab auch Versprechungen von der Politik. Weil die EBM-Re- form zugleich ein aktiver Beitrag im Vorfeld der angekündigten Struktur- reform im Gesundheitswesen war, gab der Bundesarbeitsminister zwei elementare Zusagen - Erstens: es werde keine Reform gegen die Kas- senärzte geben; zweitens: die drän-
gende Qualifikationsfrage werde im Sinne der Kassenärzteschaft gesetz- lich geregelt.
Der große Vertrauensvorschuß jedoch, den unter der Führung des damaligen KBV-Vorsitzenden, Pro- fessor Dr. Siegtried Häußler, die Kassenärzte dem zu dieser Zeit noch zuständigen Minister Dr. Norbert Blüm leisteten, ist bis heute nicht ho- noriert worden. Und die Kranken- kassen? Nach wie vor verweigern sie die angemessene Vergütungsform und ignorieren den wachsenden me- dizinischen Leistungsbedarf.
Mehr noch: Die steigenden Ko- sten für qualifiziertes Praxispersonal, hochwertiges Gerät, für Qualitätssi- cherung und für den medizinischen Fortschritt müssen die Kassenärzte aus dem gedeckelten Honorartopf tragen. Qualität und Innovation ha- ben ihren Preis. Doch diesen müssen die Kassenärzte heute aus der eige- nen Tasche zahlen. Die Folge: Das Realeinkommen ist in den letzten Jahren ständig gesunken.
Und die Politik? Die versproche- ne Verbesserung der Strukturquali- tät steht bis heute aus, das Gesund- heits-Reformgesetz brachte statt dessen mehr Bürokratie und mehr Reglementierung in die Arztpraxen.
Zu all dem -und das kann nun wirk- lich kein Kassenarzt mehr verstehen - glauben die Regierungsparteien noch an weitere Einsparpotentiale in der kassenärztlichen Versorgung. So jedenfalls steht es in der Koalitions- vereinbarung.
Das alles ist kassenärztliche Realität im Frühjahr 1991. Aber kann dies auch die Perspektive sein?
Ende April tritt die Vertreterver- sammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigu!.lg im Vorfeld des 94. Deutschen Arztetages in Harn- burg zusammen. Nach der zusehends schärfer gewordenen Kritik am Ver- halten der Kassen erwarten Beob- achter eine Kursänderung im Hin- blick auf die bevorstehenden Hono- rar- und Vertragsverhandlungen. pazu befragte das DEUTSCHE ARZTEBLATT den KBV-Vorsit- zenden Dr. Ulrich Oesingmann (sie- he dazu die folgende Seite). JM/Stü Dt. Ärztebl. 88, Heft 16, 18. April 1991 (19) A-1327