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Archiv "Zwei Jahre „Reformparagraph 218“ — was ist, was wird?: Reform oder Versagen?" (08.03.1979)

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen

FORUM

Reform oder Versagen?

Der Verfasser, ein erfahrener Ge- burtshelfer mit sicherlich großer Übersicht, korrigiert und verdeut- licht zunächst die gesetzlichen Indi- kationsbezeichnungen und zeigt dann die Schwierigkeiten auf, die der Praktikabilität des Gesetzes hin- dernd im Wege stehen. Überwie- gend sind dies (übernommene) juri- stische und praktische Bedenken.

Dem Abruptio-Operateur bürdet er die Last der „Verantwortung im ethi- schen Bereich" auf. Sodann wird mit beeindruckender Selbstsicher- heit festgestellt, daß „es für die Fest- stellung medizinischer und kindli- cher Indikationen klar festgelegte und relativ einfach zu objektivieren- de Kriterien gibt." Im Folgenden soll auf diese und die weiteren Feststel- lungen näher eingegangen werden.

Zum Schluß werden Prognosen und Schlußfolgerungen einer kritischen Betrachtung unterzogen.

Verantwortung im ethischen Bereich

Die Aussage über die „Verantwor- tung im ethischen Bereich" ist ein ausgesprochener Allgemeinplatz und auch aufgrund der eigenen Aus- führungen des Verfassers unlo- gisch. Gerade für die neuen Indika- tionen (also außer der medizini- schen) führt der Verfasser selbst zahlreiche ethische Zusammenhän- ge auf, die an Unsicherheit nichts zu wünschen übrig lassen. Das wird im Folgenden noch erläutert.

Wem übrigens verantwortlich? Sich selbst, seinem Gewissen? Dann braucht ihm der Gesetzgeber nicht seine (zweifelhafte) Ethik-Interpreta- tion (Ethik-Indikation) vorzuschrei- ben, denn das Gewissen hat eine

Eigengesetzlichkeit höherer Priori- tät. Dem Gesetzgeber vielleicht, der durch die Neufassung der Paragra- phen 218, 219 und die Stellungnah- men und Kritiken der Bundesregie- rung an der Denk- und Handlungs- weise rechts- und verantwortungs- bewußter (nämlich auch ungebore- nem Leben gegenüber) Menschen bewiesen hat, daß er höherrangiges Recht (Bundesverfassungsgerichts- entscheidung) der Praktikabilität in primitiver und bequemer Denkweise opfert.

Die soziale Notlage

Die soziale Notlage z. B. ist in einem der reichsten Länder der Welt nur dann eine „Indikation", ungebore- nes Leben zu beseitigen, wenn man einerseits nicht bereit ist, eine wirk- same und praktizierbare soziale Ordnung und Gerechtigkeit zu schaffen (auch mit unpopulären Maßnahmen und sonst nicht übli- chen Anstrengungen) und anderer- seits ein sehr strapazierfähiges Ge- wissen und einen sehr dehnbaren Begriff von Ethik hat.

Auch auf juristischem Gebiet macht der Gesetzgeber es sich leicht und vollzieht direkt und indirekt Beugun- gen wichtiger Rechtsgrundsätze:

Zunächst (s. o. Bundesverfassungs- gericht), indem er höherrangiges Recht nachrangigem Recht unter- ordnet. Sodann nimmt er es bei der sogenannten sozialen Indikation (größter Prozentsatz der Abruptio- nes) billigend in Kauf, daß erstens Täuschungen des indizierenden Arztes in besonderem Umfange möglich sind (das ungeborene Le- ben wird dann aufgrund einer Täu- schung irreversibel beseitigt) und zweitens, daß die Motivation des in- dizierenden Arztes zur Indikations-

Ökonomie im Krankenhaus

richtungen des Gesundheitswesens als Betriebe im betriebswirtschaftli- chen Sinne anzusehen sind, ist nun unschwer zu beantworten. Für jede Einrichtung des Gesundheitswe- sens, auch für das Krankenhaus, sind die vier Grundelemente des Be- triebes und das spezifisch betriebs- wirtschaftliche Grundproblem fest- zustellen. Eine wesentliche Kompo- nente der Betriebsaufgabe ist der Aspekt der Humanität in der Lei- stungserbringung am Patienten. Er ist mitentscheidendes Kriterium bei der Ermittlung der optimalen Kom- bination der Produktionsfaktoren Personal und Sachmittel sowie ihres Zusammenwirkens im Rahmen der Betriebsorganisation eines Kran- kenhauses. Konkret bedeutet dies, daß beispielsweise bei der Bemes- sung des Personals und der Arbeits- zeiten, bei der Gestaltung der Ar- beitsabläufe und beim Einsatz der Technik die Zielsetzung einer pa- tientenbezogenen humanen Ausfüh- rung der ärztlichen und pflegeri- schen Leistungen mitbestimmend sein muß.

Im Einzelfall kann natürlich die Ge- wichtung, die diesem Aspekt bei den ökonomischen Überlegungen zur Wahl der optimalen Kombination zuzumessen ist, strittig sein. Aber im grundsätzlichen ist festzustellen:

Ökonomie und Humanität sind kein Gegensatzpaar — im Gegenteil. Hu- manität im Gesundheitswesen erfor- dert die Ökonomie im Einsatz der begrenzten Mittel, denn ein Zuviel in einzelnen Bereichen des Gesund- heitswesens führt zu unvertretbaren Engpässen in anderen Bereichen zum Nachteil der Patienten, die in den Engpaßbereichen betreut wer- den. Das aber bedeutet: Unwirt- schaftlichkeit kann in Inhumanität umschlagen.

Anschrift der Verfasser:

Staatssekretär

Prof. Dr. med. F. Beske Ministerialrat

Diplom-Volkswirt H.-J. Wilhelmy Institut für

Gesundheits-System-Forschung Dreiecksplatz 7

2300 Kiel

Zwei Jahre „Reformparagraph 218"

was ist, was wird?

Zum Artikel von Professor Dr. med. Hans Lau in Heft 40/1978, Seite 2283

654 Heft 10 vom 8. März 1979

DEUTSCHES

ARZ'I'EBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen

Zwei Jahre „Reformparagraph 218"

feststellung auch stark von persönli- chen, religiösen, ethischen und ideologischen Anschauungen ab- hängig sein kann, da es sachliche Kriterien nicht gibt. Die Folge kann auch ein Mißbrauch in mancher Richtung sein, dessen Folgen ja aus der jüngsten Vergangenheit bekannt sind.

Eugenische Indikation

Ferner geht er — der Gesetzgeber — kritiklos und im falschen Vertrauen auf fast ebenso unkritische Medizi- ner von der Auffassung aus (die auch der Verfasser des zitierten Re- ferates vertritt), daß es für die kindli- che oder eugenische Indikation

„klar festgelegte und relativ einfach zu objektivierende Kriterien" gibt.

Hinter der kindlichen Indikation also kein Fragezeichen? Ich kann die un- geheuren und unärztlichen Folgen nicht erschöpfend aufzeigen und möchte nur auf die Hauptprobleme hinweisen.

In einem sogenannten Indikations- katalog mit „klar festgelegten und objektivierbaren Kriterien" sind dann die Erkrankungen enthalten, denen man die Chance nimmt, an der weiteren Erforschung zu partizi- pieren und dann möglicherweise als Erkrankung eingestuft zu werden, die erfolgreich zu behandeln, für ih- re Träger keine unerträgliche Zumu- tung ist und ein durchaus annehm- bares Leben ermöglicht. Nur einige Beispiele:

Vor der Ära der Neurochirurgie mit der mechanischen Ableitungsmög- lichkeit wäre jede im ersten Trime- non der Schwangerschaft erkennba- re Krankheit mit eventuell später wachsendem Hydrozephalus auf der

„Indikationsliste" erschienen. Vor der Erforschung des Insulins hätte möglicherweise auch der Diabetes beste Aussichten gehabt, auf die In- dikationsliste gesetzt zu werden.

Die Hämophilie kann heute durch die Dauersubstitution mit den feh- lenden Faktoren zu einer Krank- heitsform werden, die durchaus le- bensfrohe Kinder heranwachsen

läßt; ein solches Leben kann lebens- werter sein als das eines schweren Asthmatikers, der niemals auf die Li- ste käme, lebenswerter als das eines Kindes mit schwerer Stoffwechsel- störung wie Mukopolysaccharidose oder anderer Systemerkrankungen, die nur deshalb nicht auf der Liste der „eugenischen" Indikationen ste- hen, weil sie in der Zeit der erlaubten Abruptio (der Fristenlösung!) noch nicht erkennbar sind.

Werden Erkrankungen der eugeni- schen Indikation in den ersten drei Monaten mal eben weggekratzt oder elegant abgesaugt, weil es ja erlaubt ist, wird sich der forschende Geist auch nicht mehr damit beschäftigen können, und gesellschaftlich Lästi- ges kann dann auch in Zukunft nicht mehr wertvoll für die menschliche Gesellschaft werden und wird nie- mals ein Recht auf eigenes Leben erlangen.

Wer kann z. B. als bestimmende Gruppe oder als Gesetzesgeber ver- antworten, ein zu erwartendes Down-Syndrom abzutreiben? Die Kinder selbst leiden nicht, sind aus- gesprochen fröhliche Kinder und werden nachweislich von ihrer Fa- milie voll akzeptiert und geschwi- sterlich geliebt. Wieviel menschliche Größe und Reife ein solches oder ähnlich behindertes Kind in einer Familie bewirken kann, sei nur am Rande erwähnt; das ist ja materiell und rentenproduktiv nicht faßbar!

Ich darf in dieser Hinsicht gar nicht an die großen Erfolge der Herzope- rateure bei schwersten kindlichen angeborenen und früh angelegten Herzfehlern denken.

Das Leben,

höchstes Rechtsgut der Menschheit

Welches Recht nimmt sich eigent- lich der Gesetzgeber als Beauftrag- ter einer bestimmten Gruppe der Gesellschaft oder diese Gruppe selbst oder ein ärztlicher oder juri- stischer oder sozialmedizinischer oder psychologischer Spezialist, das höchste Rechtsgut der Menschheit, das Leben (anderer!) anzutasten

und das Recht auf Leben zu relati- vieren, d. h. als mehr oder weniger groß festzulegen ausschließlich an Hand von Alterskriterien?

Denn nichts anderes bedeutet das neue Gesetz, das bei den mehrfa- chen und weiten unbestimmten Indi- kationen praktisch eine Fristenlö- sung ohne Indikation ist.

Oder wer will mir einen überzeugen- den Unterschied heraussophistizie- ren zwischen der Tötung von Leben in den ersten drei Lebensmonaten nach der Entstehung des Lebens und den Monaten kurz vor oder nach der Geburt?

Wieviel mehr oder weniger lebens- wert ist z. B. eine schwere Behinde- rung nach der Geburt als ein Down- Syndrom in den ersten drei Schwan- gerschaftsmonaten? Welches Leben hat mehr Recht auf Leben und wel- ches weniger?

Das ungeborene vielleicht deshalb weniger, weil es dem Auge der Ge- sellschaft noch nicht sichtbar ist und als kleines Stückchen Fleisch noch nicht anklagt? Oder weil wir klugerweise willkürlich — medizi- nisch auf diese rein physiologischen Entwicklungsstufen einen Rechts- wertmaßstab anlegen?

Pränataldiagnostik als Selektionsbasis?

Während dieser Niederschrift er- schien im Rheinischen Ärzteblatt 20/78 eine Arbeit über Pränataldia- gnostik aus dem Humangenetik-In- stitut und der Frauenklinik der Uni- versität Düsseldorf. Dort wird über die Indikationen zur Pränataldiagno- stik und über Ergebnisse berichtet.

Die Pränataldiagnostik ist ganz si- cher ein großer Fortschritt, wenn sie

— wie jeder echte Fortschritt — in dem ihr gebührenden Rahmen ein- gesetzt wird. In diesem Rahmen lie- gen zweifellos diagnostische und prognostische Aussagen von gro- ßem Wert und — soweit das möglich ist — therapeutische Perspektiven.

Darüber ist nicht zu diskutieren. Ich finde es aber erschreckend, mit wel-

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

Zwei Jahre „Reformparagraph 218"

cher Bedenkenlosigkeit in dieser Ar- beit in diesen Kompetenzrahmen auch Entscheidungen über die Beja- hung der Abruptio einbezogen wer- den. Als besonders bedenkenlos empfinde ich folgende typische Feststellung: ...

„Die eigentliche Diagnose (der Hä- mophilie A oder B) kann zur Zeit weder aus dem Fruchtwasser noch an Hand kultivierter Amnionzellen gestellt werden. Söhne von Frauen, die Konduktorinnen für eine der ge- nannten Erkrankungen sind, werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent erkrankt sein. Bei der Schwere der Erkrankung und bei diesem hohen Risiko für männliche Nachkommen ist ein Schwanger- schaftsabbruch beim Vorliegen ei- ner männlichen Frucht vertretbar, obwohl in der Hälfte der Fälle die männlichen Nachkommen gesund sein würden."

Die Geschlechtsfeststellung ist ja frühzeitig genug durchzuführen. Die Tötung der Frucht ist also schon vertretbar (I), wenn die Chancen für ein gesundes wie für ein krankes Kind je 50 Prozent betragen. Das heißt: Jede zweite Tötung würde in diesem Falle ein gesundes Kind tref- fen! Dies Beispiel zeigt in besonders auffallender Weise die Hybris, über Leben oder Tötung aus Gründen der Gesundheitshygiene zu entschei- den. Das bedeutet bedenkenlose Se- lektion, da man ja durchaus die Auf- fassung vertritt, daß die Hämophilie- Therapie heute ein wirklich lebens- wertes Leben ermöglicht.

Es drängen sich da leicht Erinnerun- gen auf an eine Zeit, in der auch

„lebensunwertes Leben" vernichtet wurde, weil man keine Ehrfurcht vor dem Leben hatte, sondern rassenhy- gienisch dachte und selektierte. Daß ethisch kein Unterschied zwischen dem Recht auf Leben in der Früh- schwangerschaft und dem nach der Geburt besteht, habe ich darge- legt.

Zweierlei kann die Pränataldiagno- stik bewirken:

1. Diagnostik, Therapie und Pro- gnose wesentlich verbessern, ohne

dies der Abruptio dienlich zu machen.

2. Im Sinne der Reform des Para- graphen 218 Hilfestellung leisten.

Dies würde allerdings den Selek- tionscharakter einer mißbrauchten Pränataldiagnostik beweisen.

Die Pränataldiagnostiker können wissenschaftlich Bedeutendes lei- sten und durch Beschränkung auf streng wissenschaftliche Aussagen den negativen Selektionscharakter ihrer Arbeit verhindern; sie können aber auch der Tötung wissenschaft- liche Hilfestellung leisten; diesen Mißbrauch haben sie dann aber auch ethisch voll zu verantworten.

Einwilligungsfähigkeit — Einwilligungsberechtigung

Eine weitere Beugung eines wichti- gen Rechtsgrundsatzes ist die Hal- tung des Gesetzgebers zu dem juri- stischen Problem der Einwilligungs- fähigkeit der Schwangeren und der Einwilligungsberechtigung bei Min- derjährigen. (Warum übrigens nur bei Minderjährigen? Dürfen sich Er- wachsene eher als Minderjährige das Recht nehmen, über das Leben anderer zu entscheiden? Juristische Überspitzung?)

Wenn hier juristisch so deutliche Zweifel bestehen und die Folge der Nichtbeachtung oder Klärung dieser Zweifel eine Tötung ist, dann sollte wohl „In dubio" laut Bundesverfas- sungsgericht für das höhere Rechts- gut, das „Recht auf das (ungebore- ne) Leben" entschieden werden und nicht für das „Recht der Frau auf freie Selbstentfaltung". Außerdem ist die eine böse Folge irreversibel, die andere Folge aber meist sehr wohl noch zu ändern.

Weigerungsrecht

Weiterhin kann ich nur schwer die Auffassung der Bundesregierung und die gleiche anderer verstehen, die das Weigerungsrecht für Perso- nen einerseits und Träger der öffent- lichen Gewalt andererseits unter-

scheidet. Die einen dürfen sich wei- gern, das Gesetz zu akzeptieren und zu praktizieren, die anderen — schließlich auch von Personen ge- bildet — dürfen nicht. Und das mit der fadenscheinigen Begründung,

„da sonst Entscheidungen, die der Zuständigkeit des Bundesgesetzge- bers unterliegen, im Bereich der Ge- bietskörperschaften außer Kraft ge- setzt werden".

Da darf man wohl mit Fug und Recht eine erhebliche ethische Unzumut- barkeit des Gesetzes unterstellen.

Zudem: Wie ist die Doppelbedeu- tung und Doppelverbindlichkeit sol- cher Gesetze zu verstehen? Gilt bei- spielsweise die gesetzlich veranker- te Hilfeleistungspflicht und das Recht in Not Befindlicher für „Per- sonen" und öffentliche Einrichtun- gen wie Feuerwehr, Krankenhäuser usw. unterschiedlich? Oder ist das so zu interpretieren, daß Träger der öffentlichen „Gewalt" ein erlasse- nes Gesetz durchzusetzen haben, was aber Personen als unzumutbar in Form der Weigerung unbeachtet lassen dürfen.

Ist die Entscheidung eines Kreista- ges z. B. undemokratischer und we- niger rechtsmäßig zustande gekom- men als die Abstimmung im Bundes- tag? Darf eine „Person" die Abrup- tio als „unerlaubte Tötung" ableh- nen, während der Gesetzgeber bzw.

die Bundesregierung diese Hand- lung als „erlaubten Eingriff" be- zeichnet und durchführen läßt?

„Liberalisierung"

Damit komme ich zu der unbe- schwerten Feststellung des Autors in dem Abschnitt „Prognosen": „Die Entwicklung ... zeigt, daß es mit der Liberalisierung der entspre- chenden Gesetze auch zu einem ra- piden Anstieg der Abruptiones kommt". Ich verstehe unter „liberal"

immer noch — oder hat sich das viel- leicht geändert? — die Tolerierung und Garantierung der Freiheit für al- le ohne Unterdrückung schwächerer Gruppen, wobei „Freiheit" wieder- um eine gleichmäßige Verteilung von Rechten und Pflichten bedeutet.>

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

Zwei Jahre „Reformparagraph 218"

Ungeborenes Leben aber ist zwei- felsfrei eine schwächere Gruppe in unserer Gesellschaft als die Men- schen, die ihre Rechte vertreten können.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung die Begriffe

„Recht auf freie Selbstentfaltung der Frau" und „Rechtsgut des vor- geburtlichen Lebens" gebraucht und dem vorgeburtlichen Leben Priorität eingeräumt.

Unter liberal verstehe ich nicht nur das Recht auf Leben, sondern auch das Recht auf freie Selbstentfaltung, das natürlich eine stärkere Gruppe der Gesellschaft nicht zu Lasten ei- ner wesentlich schwächeren Gruppe gewaltsam durchsetzen darf.

Ethische Minima

Wenn ich im Hinblick hierauf noch die Aussage des „Lane-Reportes"

betrachte, die besagt, daß schon deshalb eine Abruptio durchgeführt werden kann. weil die Schwanger- schaft als unbequem empfunden wird, und wenn der Autor unmittel- bar fortfahrend ausführt, daß die Praxis des neuen Paragraphen 218 in der Bundesrepublik in dieselbe Richtung gehen wird, dann möchte ich mir gar nicht erst die Waagscha- len ansehen, in der in Zukunft in der einen das „Rechtsgut des vorge- burtlichen Lebens" und in der ande- ren das „Recht auf freie Selbstent- faltung der Frau" gewogen werden.

Welch traurige und verhängnisvolle Entwertung erfahren die Liberalisie- rung und die Gesetzgeber, wenn sie sich im „Zeichen des Pluralismus (dieser Begriff hat hier doch wohl nur eine scheinheilige Alibifunktion) auf ethische Minima zurückziehen müssen (?!), weil ... sittliche Werte wie das Recht des Ungeborenen auf Leben nicht freiwillig von der Mehr- zahl der Bürger akzeptiert werden".

Vor noch nicht so langer Zeit haben wir Deutsche und andere Völker uns noch vorgeworfen, daß wir die Ver- letzung von Menschenrechten in un- serem Staat geduldet haben, worun-

ter wohl sicher eine Relativierung ethischer Begriffe verstanden wer- den darf. Jetzt darf bei sicherlich gleich hohem Rechtsgut ethisch re- lativiert werden? „Tempora mutan- tur et nos mutamur in illis."

Ich will nicht auch noch die peinli- che Frage stellen, ob der Staat nur eine materielle Fürsorgepflicht hat.

Ich will nicht die anklagende Frage stellen, ob wir uns nicht zum Töten entschlossen haben, weil wir nicht willens oder — und — unfähig sind, soziale und menschliche Vorausset- zungen für neues Leben zu schaf- fen. Mir erscheint die Frage an den Arzt nach seiner Aufgabe, Leben zu erhalten und nicht zu zerstören, an- gesichts des „Fortschrittes unserer Gesellschaft" schon als rück- ständig.

Geradlinigste Lösung (Endlösung) Ich will auch nicht die Gretchenfra- ge stellen, was eigentlich Juristen, Frauenärzte, Soziologen, Kriminolo- gen und Politiker autorisiert, Ent- scheidungen im Sinne des refor- mierten Paragraphen 218 oder der vom Autor vorgeschlagenen Fristen-

lösung als „geradlinigste Lösung"

(Endlösung) zu treffen und damit die Tötung zu bewirken.

Sicher ist Herrn Prof. Lau zuzustim- men, daß es organisatorisch und medizinisch-technisch bessere Lö- sungen gibt in der Gestalt von spe- ziellen Einrichtungen; sicher kann der Gesetzgeber auch durch die ge- forderte Fristenlösung die so emp- findsamen Gewissen entlasten; si- cher kann den Ärzten die bedrük- kende Einsamkeit der Entscheidung genommen werden; sicher kann sich eine solche reformfreudige Ge- sellschaft auch besonderer „Libera- lität" brüsten:

Wir sollten aber auch so ehrlich sein und eingestehen: Wir haben uns dem Druck einer Masse, die Töten verlangt hat, gebeugt. Wir haben un- ser höchstes Rechtsgut, das Leben verraten und unsere ethischen Ge- setze aus Bequemlichkeit und um materieller Vorteile willen relativiert,

ja manipuliert. Wir sind nicht menschlicher geworden, sondern unmenschlicher; dies zu tragen nimmt uns niemand ab, und unge- borenes Leben klagt uns an.

Dr. med. Gerhard Artzt Kinderarzt

Hunsrückstraße 16 5000 Köln 60 (Nippes)

C.3

Wenn Herr Lau zwei Jahre nach der Reform des § 218 mit der anspruchs- vollen Fragestellung „was ist — was wird" Bilanz zu ziehen versucht, so ist das sicherlich im Hinblick auf die für diese komplexe Problematik noch relativ kurze Zeitspanne etwas verfrüht.

Ob die Schwangerschaftsabbrüche seit der Novellierung des Gesetzes wirklich so rapide angestiegen sind, ließe sich m. E. nur dann in zuverläs- sigen Zahlen erfassen, wenn man die Dunkelziffern vor der Reform des

§ 218 von dem Anteil der Notlagen- indikation an der heutigen Gesamt- zahl der Abbrüche abziehen könnte.

Denn die Notlagenindikation ermög- lichte doch die Legalisierung des Hauptkontingentes der seinerzeitig illegalen Abbrüche.

Die Problematik im Umkreis des § 218 ist weit verzweigt, weil ja neben den Betroffenen, den unfreiwillig Schwangeren, ihren Beratern, den Indikationsstellern, den Operateu- ren und schließlich den Kranken- hausträgern auch die nicht Betroffe- nen, Außenstehenden sich ebenfalls an der Frage des Schwangerschafts- abbruches mit höchst unterschiedli- chen, keineswegs immer uneigen- nützigen Tendenzen emotional en- gagieren.

Um nur ein Beispiel solch fragwürdi- gen Engagements zu zitieren, sei an die von vielen Bürgern artikulierte Sorge um die Renten am Ende unse- res Jahrhunderts erinnert, die diese Zeitgenossen also mit dem Gebär- zwang und der Armee unerwünsch- ter Kinder gesichert sehen möchten.

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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