Matthias Jung
Vorlesung:!Einführung in die
philosophische Anthropologie
Philosophische Anthropologie
• Überblick Vorlesung!
• Was oder Wer ist der Mensch?!
• Alltagserfahrung, Wissenschaft, Philosophie!
• PhA als Integrative Anthropologie!
• Aufbau der Vorlesung!
• Literaturhinweise
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Literaturhinweise
• Gerald Hartung, Philosophische Anthropologie, Reclam (eher historisch)!
• Christian Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, 2.
Aufl., WB (eher systematisch)!
• Christoph Wulf, Anthropologie, rowohlts enzyklopädie (Kulturalismus)!
• Ganten/Gerhardt etc., Was ist der Mensch, De Gruyter!
• Joachim Illies, Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter, stw!
• Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck, Anthropologie der Artikulation, De Gruyter
• I. Grundlagen!
• Einführung: die Rückkehr philosophischer Anthropologie!
• Nomaden im Zweistromland: Natürlichkeit/Kulturalität/Ausdrücklichkeit/
Symbolizität/Diversität/Historizität!
• II. Historische und aktuelle Positionen!
• Ohne Menschenbild geht es nicht: Die implizite Anthropologie religiöser und metaphysischer Weltbilder!
• Klassische Positionen I: Lebensphilosophie und Pragmatismus!
• Klassische Positionen II: Scheler/Gehlen/Plessner!
• Gegen den Dualismus: eine Anthropologie der Artikulation!
• III. Problemfelder!
• Was unterscheidet uns von anderen Lebewesen?!
• Die evolutionäre Entstehung des Menschen
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Homepage für das Herunterladen der Vorlesung
• http://uni-koblenz.de/
~mjung/
Was oder Wer ist der Mensch?
oder: Die Rückkehr der philosophischen Anthropologie
• Drei Dimensionen:!
• Implizite Menschen- und Weltbilder!
• Narrative Anthropologie in Religion und Kultur!
• Wissenschaftliche Anthropologie
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Was oder Wer ist der Mensch?
• Die Beobachter- und die Teilnehmerperspektive:!
• Das System der Personalpronomina:!
• Ich/Wir!
• Du/Ihr!
• Er/Sie!
• Extensionale und intensionale Fragen!
• Extension: Was fällt alles unter den Begriff?!
• Intension: Was bedeutet der Begriff?!
• Gattungsidentität und personale Identität!
• Deskriptive und normative Fragen
Alltagserfahrung, Wissenschaft, Philosophie
• Die Unhintergehbarkeit gewöhnlicher Erfahrung!
• Die Fähigkeit symbolischer Distanzierung!
• Personale und soziale Innenperspektive, geistes- und naturwissenschaftliche Außenperspektive!
• Die Humanwissenschaften!
• Der überholte Gegensatz von Kultur- und Naturwissenschaften!
• Falsche Auflösungen des Gegensatzes: Naturalismus/
Kulturalismus
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Alltagserfahrung
• Unhintergehbarkeit gewöhnlicher Erfahrung!
• Unterschiede zu wissenschaftlicher Erfahrung!
• Nicht-Systematizität: Widerfahrnisse!!
• Holismus (Gefühl, Wille, Vernunft integriert)!
• Subjektivität (Intersubjektivität und Privatheit)!
• Nicht-Vollständigkeit objektiver Weltbeschreibungen
Alltagserfahrung, Wissenschaft, Philosophie
• Die Bedeutung der Kognitionswissenschaft (cognitive science)!
• Empirische Erforschung der Ontogenese!
• Evolutionäre Anthropologie!
• Verbindung von Phänomenologie und kausalem Denken!
• Suche nach anthropologischen Invarianten („Differences among individuals are so boring“(Steve Pinker))!
• Zwei Denkansätze:!
• Funktionalismus: Geist als algorithmische Verarbeitung von Input (Reiz) und Output (Motorik)!
• Embodied Mind: Geist entsteht aus der Steuerung der Interaktionen des Organismus mit seiner Umwelt
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Alltagserfahrung, Wissenschaft, Philosophie
• Historische bzw. Kulturanthropologie:!
• Betonung kultureller Differenzen, verschiedener semantischer Codes etc.!
• Ethnologischer Eurozentrismus-Verdacht!
• Häufig Skepsis gegenüber Naturwissenschaften!
• Skepsis gegenüber der Rede von dem Menschen, aber:
Invarianten als Voraussetzungen der Erkenntnis von Differenzen
Alltagserfahrung, Wissenschaft, Philosophie
• Immanuel Kant:!
• Schul- und Weltbegriff der Philosophie!
• Idee einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
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Zitat Vorrede BA III, IV
PhA als Integrative Anthropologie
• Interpretation, Integration, Holismus (lt. Ch. Thies, Einf. in die phil. Anthr.)!
• Integration als Bezug von Perspektiven, die verschieden bleiben (keine Synthese)!
• Keine „Lehnstuhlphilosophie“!
• Relevanz und Grenze des Wissenschaftlichen!
• Integration der normativen/wertenden Fragen:!
• Was sind Wir?/Was wollen wir sein?
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Nomaden im Zweistromland
• Text verfügbar über Homepage!
• Menschen als Grenzgänger zwischen Erleben und Kulturellem Sinn!
• Menschen sind zugleich ganz Teil der Natur und mit ihrer Lebensform etwas Einzigartiges
II.Historische und aktuelle Positionen 1. Die Achsenzeit als Ursprung
anthropologischen Denkens
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Die Achsenzeit
• Mensch als Wesen, das sein Leben nicht einfach führt, sondern eine Bedeutung ausdrücklich macht:
Riten, Geschichten, Wertekataloge, rechtliche Ordnungen, Weltanschauungen und Religionen!
• Dafür entscheidend: Reflexivität!
• Achsenzeit als Begriff für den Zeitraum, in dem reflexive Einstellungen erstmals kulturelle Wirksamkeit entfalten!
• Begriff wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Karl Jaspers populär gemacht: seit ca. 15 Jahren wieder zentrales Thema!
• Zitat aus Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte:
Zitat aus Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
Mittwoch, 8. Februar 12 18
Die Achsenzeit
• Blütezeit der ersten Hochkulturen!
• Synchrone Entstehung von universalen Weltdeutungen, wissenschaftlichem Denken und politischem Bewusstsein!
• „Entdeckung der Transzendenz“!
• „Second-Order-Thinking“:!
• first-order: Bewusstsein → Gegenstand!
• second-order: Bewusstsein ↔ Gegenstand!
• Mensch wird sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens
Ohne Menschenbild geht es nicht
• Mensch als selbstinterpretierendes Wesen!
• Mythen als Deutungen der Stellung des Menschen in der Welt!
• Anthropomorphismus („Ursprüngliche
Allvermenschlichung“) und Kosmozentrik!
• Mikro-/Makrokosmos-Analogie
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Beispiel I: Die hebräische Bibel
• Distanzierung des Mythischen durch Monotheismus und Schöpfungsgedanken!
• Klassische Stellen: die zwei Schöpfungsberichte Gen I, 26-28; Gen 2-3; Psalm 8!
• Kein Dualismus von Leib und Seele!
• Spannung von Größe und Nichtigkeit!
• Sinnfrage: Es gibt keinen Zusammenhang von Tun und Ergehen (Kohelet)
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GEN 1, 26-28
Mittwoch, 8. Februar 12
Beispiel II: Chorlied der Antigone
aus Sophokles, Antigone (Uraufführung 442 v. Chr.):!
CHOR!
!
Ungeheuer ist viel und nichts!
Ungeheurer als der Mensch.!
Er überschreitet auch das graue Meer!
Im Notossturm!
Unter tosenden Wogen hindurch.!
Erde, der Güter höchste,!
Die unerschöpfliche, unermeßliche,!
Bedrängt sein Pflug. Auf und ab!
Ackern die Rosse ihm!
Jahr um Jahr.
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Leichtgesinnter Vögel Volk!
Fängt er im Garn,!
Wilder Tiere Geschlechter!
Und Kinder des Meers!
In verschlungenem Netzgeflecht,!
Der kluge Mensch.!
Mit List bezwingt er,!
Was haust auf Höhlen!
Und schweift im Freien.!
Dem Pferd mit der mutigen Mähne,!
Dem unbändigen Bergstier!
Zähmt er den Nacken!
Unter das Joch.
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Und luftgewirkte Gedanken!
Lehrte er sich!
Und den Trieb zum Staat!
Und Obdach!
Gegen ungastlichen Reif vom Himmel!
Und Regengeschosse,!
Allberaten.!
Ratlos tritt er!
Vor nichts, was kommt,!
Nur dem Tod entrinnt er nicht.!
Aber aus heillosen Leiden!
Ersann er sich Rettung.
Mit der Erfindung Kunst!
Reich über Hoffen begabt,!
Treibt’s zum Bösen ihn bald!
Und bald zum Guten.!
Ehrend des Landes Gesetz!
Und der Güter beschwornes Recht,!
Ist er groß im Volk. Nichts im Volk,!
Wer sich dem Unrecht gab!
Vermessenen Sinns.!
Nie sei Gast meines Herdes, Nie mein!
Gesinnungsfreund,!
Wer solches beginnt.
Lebensphilosophie und Pragmatismus
• Anthropologie im engeren Sinn als spezifisch neuzeitliche Frage vor dem Hintergrund von:!
• Humanismus!
• Aufklärungsphilosophie!
• Idealismus!
• Romantik/Expressivismus!
• Darwinismus
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Wilhelm Dilthey, 1833-1911
WILHELM DILTHEY 1833-1911
29Literaturhinweis:
Matthias Jung, Dilthey zur Einführung. Junius-Verlag
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„Einleitung in die Geisteswissenschaften“
• Motiv des „ganzen Menschen“!
• Kritik an Theoretizismus und Intellektualismus!
• Wille, Gefühl, Vernunft!
• Interaktionszusammenhang von Organismus und Umwelt!
• Entwicklung und Evolution!
• Erkenntnisanthropologie der „inneren Erfahrung“
Zitat aus Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften
Mittwoch, 8. Februar 12 32
Geistes- und Kulturwissenschaft
• Abgrenzung von den Naturwissenschaften: Innen- und Außenperspektive!
• Unterschied, nicht Gegensatz von Erklären und Verstehen:
Perspektivendifferenz vs. unterschiedliche Seinsarten!
• Hermeneutik als Theorie des Verstehens: Mensch als interpretierendes Lebewesen!
• Sinn als artikulierte Lebensbedeutsamkeit!
• Dreischritt Erlebnis-Ausdruck-Verstehen
Lebenszusammenhang Mensch-Umwelt
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Erklären Verstehen
Naturwissenschaften Geisteswissenschaften
Beobachterperspektive Teilnehmerperspektive
Kausalität Sinnzusammenhang
Deduktiv-nomologisches Schema:!
empirische Daten - Gesetzeshypothese - Erklärung
Erlebnis - Ausdruck - Verstehen
Hempel-Oppenheim-Schema
Pragmatismus
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Grundgedanken
• philosophische Bedeutung der alltäglichen Erfahrung und des Handelns!
• Menschen als qualitativ erlebende und interpretierende Wesen!
• Bedeutung der Praxis für die Theorie und umgekehrt!
• Anerkennung von Kontingenz!
• Handeln immer prekär!
• keine „Flucht in die Theorie“ (Dewey, „Die Suche nach Gewissheit“)!
• positive Einschätzung der Evolutionstheorie → Antidualismus
Zitat aus John Dewey, Erfahrung und Natur
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Mittwoch, 8. Februar 12
John Dewey
• nichtreduktionistischer Naturalismus!
• antiindividualistischer und antidualistischer Begriff des Geistes!
• menschliche Bedeutungen als realer Teil der Natur!
• anthropologisch zentrale Werke:!
• Human Nature and Conduct (1922)!
• Experience and Nature (1925)
„Experience and Nature“
• menschlicher Geist als Teil der Natur!
• Alltagsperspektive nicht abgewertet (keine „Folk Psychology“), sondern unhintergehbar!
• Naturalismus, aber nicht szientifisch!
• Dreigliedrigkeit!
• physisch!
• psycho-physisch!
• mental (geistig)
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Die „Philosophische Anthropologie“
Der klassische Entwurf Helmuth Plessners
• Literaturhinweis: Kai Haucke, Plessner zur Einführung, Junius-Verlag!
• Hauptwerk: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1926)!
• Hintergründe:!
• Diltheys Lebensphilosophie als Theorie der Geisteswissenschaften!
• Interesse für Biologie!
• Kognitive Bedeutung der Sinnlichkeit/Leiblichkeit: „Versinnlichung des Geistes, Vergeistigung der Sinne“ → kein „Gehirn im Tank“!
• Diskreditierung des cartesianischen Dualismus!
• Verbindung mit Naturphilosophie: Aristotelismus, Idee der Scala Naturae
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Methodische Grundlagen
• Verbindung von:!
• Phänomenologie (Fokus auf dem in der Perspektive der
ersten Person Erlebbaren; zentrale Figur: Edmund Husserl)!
• Hermeneutik (Fokus auf Ausdruckshandeln als
Interpretation der Wirklichkeit; zentrale Figur: Wilhelm Dilthey)!
• Lebensphilosophie (Fokus auf Interaktionszusammenhang von Organismus und Umwelt)!
• Biophilosophische Grundlegung der Anthropologie
Grundpositionen Plessners
• Positionalität des Organismus!
• wechselseitige Vermittlung von Teil und Ganzem!
• Gestalthaftigkeit!
• Grenze haben (Stein) - Grenze sein (Tier)!
• Zentriertheit!
• Umweltfixiertheit („ökologische Nische“)
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• Zusammenfassend: Stufen des Organischen: 288
Grundpositionen Plessners
• Exzentrische Positionalität des Menschen!
• Körper und Leib (Naturprozess und phänomenales Erleben)!
• Weltoffenheit!
• Nicht-Festgelegtheit, Plastizität!
• Ausdruckshaftigkeit:!
• „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen“ (Stufen des Org. 323f.)!
• Sprache als Expressivität zweiter Stufe!
• Kulturalität!
• Reflexive Distanz (Herder: „Besonnenheit“)
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Plessners drei anthropologische Grundgesetze
• Natürliche Künstlichkeit!
• Vermittelte Unmittelbarkeit!
• Utopischer Standort
Kritik an Plessner
• überzeitlicher Wesensbegriff: „Essentialismus“!
• keine produktive Rezeption der Evolutionstheorie!
• Naturphilosophie von Naturwissenschaften abgekoppelt
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Menschen und andere Lebewesen
• Verhältnis Mensch-Tier als zentrale anthropologische Frage!
• bei Aristoteles: „animal rationale“!
• schon Begriffe unklar: „animal“ als Lebewesen bzw. als
„Tier“
Klassifikationsschema A
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KLASSIFIKATIONSSCHEMA A
Lebewesen
Menschen Tiere
Gattung
Art/Nebenart
Mittwoch, 8. Februar 12
Klassifikationsschema B
KLASSIFIKATIONSSCHEMA B
Menschen Tiere
Gattungen
Die Mensch-Tier-Differenz in Religionen und Weltanschauungen
• In den „abrahamitischen“ Religionen Spannung
zwischen „Ausnutzung“ und „Kultivierung“ als zwei Dimensionen von Herrschaft über die übrige Natur
→ Betonung der Differenz von Mensch und Tier!
• Im Hinduismus über Wiedergeburtslehre stärkere Kontinuitätsannahme!
• Im Buddhismus und Daoismus Betonung von Mitleid und Nähe aller Lebewesen
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Die Mensch-Tier-Differenz in Religionen und Weltanschauungen
• Naturalistische Weltanschauungen in der Moderne:!
• Mensch als Teil der Natur; aber Interpretationsspielraum:!
• Primat des Menschen und der Naturausnutzung z.B. im Marxismus!
• ökologische Naturalismen: Nähe zum
Pantheismus, z.B. Gaia-Hypothese (Margulis/
Lovelock)
Die Mensch-Tier-Differenz in der Anthropologie
• Klassische Philosophie: Mensch als!
• „animal rationale“!
• „zoon politikon“ (Aristoteles)!
• Philosophische Anthropologie: „Sonderstellung des Menschen“
→ Doppeldeutigkeit:!
a) Mensch fällt aus evolutionärer Kontinuität heraus (nicht haltbar!)!
b) Einzigartigkeit der menschlichen Lebensform als ganzer (Ablehnung des Stufenmodells)
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Die Mensch-Tier-Differenz in der Anthropologie
• falsche Strategie: Suche nach einzelnen Kompetenzen, die allen anderen Lebewesen fehlen!
• Beispiel Werkzeuggebrauch (tool-making-animal)!
• Beispiel kognitive Fähigkeiten (etwa Intentionsverstehen)!
• Beispiel Zeichensysteme (Einwand: Bienensprache, Walgesänge etc.)!
• richtige Strategie: Suche nach Struktureinheit, die alle Aspekte durchdringt
Systematik: zwei grundsätzliche Weichenstellungen
• Evolutionäre Kontinuität!
• Differenzholismus
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Evolutionäre Kontinuität
• Menschen stehen in der Kette des Lebendigen!
• Entstehung aller humanspezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften im Laufe natürlicher Evolutionsprozesse!
• Funktionale Parallelen zwischen Mensch und Tier:!
• Organismus als selbstorganisierende Interaktionseinheit mit innerer Struktur, äußerer Grenze und Bewegungsorganen!
• Enge Verwandschaft mit Physiologie der Organe und des Gehirns!
• Organismen als unselbstständige Teilkomponenten von Interaktionszusammenhängen mit der Umwelt!
• Zentrale Frage: Ergibt sich daraus in der Anthropologie ein szientifischer Naturalismus?
Evolutionäre Kontinuität
• Zentrale Bedeutung des Interaktionszusammenhangs/der Umwelteinbettung für Verständnis der Reichweite naturalistischer Argumente!
• Literaturhinweis: Thomas Fuchs, Das Gehirn - ein Beziehungsorgan, Kohlhammer-Verlag!
• In den Neurowissenschaften/Kognitionswissenschaften häufig:!
• Tendenz zur Isolierung des Gehirns: Mereologischer Fehlschluss!
• Beispiel für Fehlschluss: Zitat aus Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln, 554:!
• „Menschen können als bewusste Individuen nichts für das, was sie tun, denn ihr bewusstes Handeln wird durch das emotionale
Erfahrungsgedächtnis geleitet, das nicht dem Willen unterliegt.“
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Evolutionäre Kontinuität, Thesen:
• Gehirne können nicht denken, sondern nur Menschen Menschen-in- einer-Umwelt!
• Alle menschlichen Fähigkeiten sind evolutionär entstanden!
• Annahmen über Prozentzahlen der Übereinstimmung an
genetischem Material etc. verraten nichts über den Grad der tatsächlichen Differenz!
• Die Umwelt des Menschen ist zum Teil von ihm selbst geschaffen (Kultur)!
• Nur die innere Verbindung natürlicher und kultureller Faktoren erlaubt ein Verständnis der menschlichen Lebensform
Differenzholismus
Grundthese: Durch natürliche, evolutionäre Entwicklung ist eine menschliche Lebensform
entstanden, die sich als ganze, nicht nur in ihren „oberen Etagen“ von anderen Lebensformen unterscheidet.
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Differenzholismus
• Ablehnung aller Schichten- bzw. Stockwerkmodelle!
!
!
!
!
!
DIFFERENZHOLISMUS
• Ablehnung aller Schichten- bzw. Stockwerksmodelle
•
Erdgeschoss Erste Etage Oberstübchen
Vegetative Funktionen
Animalische Funktionen Geistige Funktionen
Pflanzen, Tiere, Menschen Tiere, Menschen
Menschen
Mittwoch, 8. Februar 12
Differenzholismus
• Statt dessen: neue menschliche Möglichkeiten strukturieren den Organismus im Ganzen neu!
• Zentrale Differenz zu anderen Lebewesen: Sprachfähigkeit und kooperative Kommunikation!
• Sprache nicht einfach nur als Erweiterung tierischer
Ausdrucksmöglichkeiten, sondern als deren funktionale Neubestimmung!
• Beispiel: Menschenaffen und Menschen verwenden Gesten, um
Aufmerksamkeit zu erzeugen (sog. „attention getters“, M. Tomasello)!
• Funktion menschlicher „attention getters“ in Sprache eingebettet
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Beispiel: „attention getters“
(nach Michael Tomasello, Origins of the human mind, MIT-Press 2008)
EIN BEISPIEL: „ATTENTION GETTERS“
(NACH MICHAEL TOMASELLO,
ORIGINS OF THE HUMAN MIND, MIT-PRESS 2008)
Humanspezifikum: Kooperative Kommunikation
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HUMANSPEZIFIKUM:
KOOPERATIVE KOMMUNIKATION
Mittwoch, 8. Februar 12
Humanspezifikum: Kooperative Kommunikation
• Aufkommen prosozialer Kommunikationsmotive: helping, sharing!
• Zusammenhang von Intentionalität und Rekursivität!
• Rekursivität:!
• A will, dass B x tut.!
• B weiß, dass A will, dass B x tut.!
• A weiß, dass B weiß, dass A will, dass B x tut.!
• B weiß, dass A weiß, dass B weiß, dass A will, dass B x tut.!
• …!
• Kollektive Intentionalität: Wir tun etwas.
Ein Experiment zur sozialen Kooperation
• https://www.youtube.com/watch?v=GInzFRCAUEw
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Differenzholismus
• Zentrales Strukturmerkmal der menschlichen Lebensform:!
• Kommunikation und Denken mittels verkörperter Symbolizität!
• Kommunikationssysteme gibt es auch bei anderen Lebewesen!
• Funktionale Überlegenheit angepasster Kommunikationssysteme über Sprache (Beispiel: Bienentanz)!
• Besonderheiten von (symbolischen) Sprachen:!
• Ablösbarkeit der Kommunikation von Hier und Jetzt!
• Rekursivität (der Sprache selbst und der kommunikativen Intentionen)!
• Thematisierbarkeit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft; von Möglichkeit, Wirklichkeit und Unmöglichkeit; Normativität und Totalität!
• „Indirekter Gegenstandsbezug“, daher Gefahr des Realitätsverlustes (Sprache muss verkörpert bleiben)
Differenzholismus
• Mensch als Wesen der Ausdrücklichkeit!
• Wir müssen handeln und können uns nicht einfach verhalten!
• Reflexivität im Unterschied zu bloßer Intelligenz: Bruch des Motivationskontinuums!
• Zusammenhang Sprache-Handeln: Freiheit und Möglichkeitshorizont!
• Plastizität und Selbstbestimmung!
• Kultur als Natur des Menschen
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Fazit
• Zugleich von evolutionärer Kontinuität und Differenzholismus!
• Wir sind ganz Teil der Natur wie alle anderen Lebewesen, aber…!
• Unsere Lebensform ist als ganze anders:!
• Wir sind verkörperte Symbolverwender: Geist, Gehirn, Körper und physische Umwelt bilden eine funktionale Einheit.!
• Durch körperliches Handeln und Wahrnehmung haben wir einen direkten Wirklichkeitszugang.!
• Durch den Gebrauch von Symbolen können wir uns von der Gegenwart und von der Wirklichkeit lösen.!
• Durch soziale Kooperationen bilden wir über-individuellen Geist aus.!
• Die genannten Aspekte sind keine isolierten Module, sondern bilden eine Einheit!
Fazit
• Gemeinsamkeit mit Tieren: Wir sind Lebewesen!!
• Fähigkeiten , mit Tieren Lebensgemeinschaften zu bilden: dann sind die Tiere nicht Nahrung, sondern Selbstwert!
• Bewusstsein, Empfindungsfähigkeit, Schmerz und Lust, Instinkte mit anderen Säugetieren gemeinsam → diese Gemeinsamkeiten aber auf spezifisch menschliche Art!
• elaboriertes Selbstbewusstsein, kollektive Intentionalität, biographische Identität, Reflexivität, Umgang mit Möglichkeitshorizonten, normative Orientierung
→ Alleinstellungsmerkmale des Menschen als Ausdruck der Struktureinheit seiner spezifischen Lebensform
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Evolution und Entwicklung des Menschen
• Begriffsklärung: Evolution und/oder Entwicklung!
• Evolution:!
• sinnfreier (=weder sinnvoller noch sinnloser) Prozess (keine Zweckursachen)!
• Mechanismen (stark vereinfacht): Mutation und Selektion!
• Bedeutung des Zufalls und der Pfadabhängigkeit!
• Entwicklung:!
• Teleologie: im Naturprozess die Ontogenese des Organismus; im Kulturprozess die Entstehung von Neuem durch teleologische Antizipation!
• Verbindung von Zufall und Zielgerichtetheit!
• „ratchet-effect“ (Michael Tomasello)
Evolution und Entwicklung
• Siegeszug der Evolutionspsychologie seit den 80er Jahren!
• http://plato.stanford.edu/entries/evolutionary- psychology/
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Grundannahmen der Evolutionspsychologie
• Dominanz genetisch geprägter Verhaltensweisen: Weitergabe der Gene als
„Ziel“!
• Entstehung von menschlichem Verhalten als Folge von Adaptionen in der Steinzeit!
• Verhalten daher nicht an die Jetztzeit angepasst!
• Tooby/Cosmides: „Our modern skulls house a Stone Age mind.“!
• Lieblingsbeispiel der Evolutionspsychologie: Unterschiedliches Sexualverhalten von Frauen und Männern!
• Modularitätsannahme: Swiss-Army-Knife-Model of the Human Mind
→ Geist aus vielen unabhängig voneinander evolvierten Funktionsmodulen zusammengesetzt
Kritik an der Evolutionären Psychologie
• genetischer Determinismus!
• Ausblendung der Rolle von Kultur (dagegen: Dual- Heritage-Theory)!
• Nichtunterscheidung zwischen Trieb (Drive) und Gewohnheit (Habit)!
• Vernachlässigung des menschlichen Bewusstseins und Symbolgebrauchs
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Die Evolutionäre Entstehung des Menschen
• Konzentration auf die innere Form des spezifisch menschlichen Bewusstseins!
• Koppelung von Bewusstseins-, Sprach-, Gehirn- und Handentwicklung → Koevolution (Terrence Deacon)!
• Ineinandergreifen von kultureller Entwicklung und natürlicher Evolution: sog. ratchet effect (Michael Tomasello) → Kultur als Tradition von kognitiven Errungenschaften, sodass nicht jede Generation neu anfangen muss!
• Die Evolution des Bewusstseins nach Merlin Donald, A Mind so Rare
Mittwoch, 8. Februar 12 76