[80] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 27–28|
9. Juli 2012VON SCHRÄG UNTEN
Notfälle
Dr. med. Thomas Böhmeke
H
eute ist ein Tag wie viele, viele andere. Die Wartezeiten auf ei- nen Termin in der Praxis sind mir ge- nauso entglitten wie meine Gesichtszü- ge, wenn ich mir das Tagessoll vor Augen führe. Obwohl ich vier oder fünf Arbeits- speicher offen und den Pausenraum geschlos- sen habe, ist die Sprechstunde kaum zu be - wältigen. Es drängeln sich Patienten mit in- und stabiler Angina pectoris, mit langsam progres- siven Aortenstenosen und rasch entgleistem Hypertonus. Um allen gerecht zu werden, be- darf es einer Terminplanung. Aber je mehr die Wartezeiten dilatieren, desto weniger werden sie akzeptiert. Was liegt da näher, sich als Notfall ein- zustufen und die sofortige und uneingeschränkte Auf- merksamkeit einzufordern?So informiert mich schon am frühen Morgen meine Fachangestellte: „Herr Doktor, an der Anmeldung ist noch ein Patient. Er meint, dass er unbedingt heute noch drankommen muss!“ Nun, ob man 40 oder 50 Patienten pro Tag sieht, macht keinen Unterschied mehr, also: Was kann ich für Sie tun? „Ach, ich fahre nächste Woche ans Mittelmeer, und da wollte ich vorher wissen, ob bei mir alles in Ordnung ist. Also, Beschwerden habe ich eigent- lich keine . . .“ Es drängeln sich Patienten mit verminder- ter Gehstrecke bei arterieller Verschlusskrankheit und vergrößertem Durchmesser des thorakalem Aortenaneu- rysma, dazwischen meine Angestellte: „Herr Doktor, ich weiß, dass heute viel zu tun ist, aber da ist noch ein Not- fallpatient!“ Ob man nun sieben oder zwölf Patienten pro Stunde versorgt, ist irgendwann nicht mehr so wich- tig. Hauptsache, das akute Problem wird sofort gelöst.
Guten Tag, was für Beschwerden sind denn aufgetreten?
„Meine Großmutter ist am Herzen gestorben, jetzt wird es Zeit, dass das auch bei mir abgeklärt wird!“
Es drängeln sich Patienten mit hochgradigen Ka - rotis- und Nierenarterienstenosen, geringgradiger links- ventrikulärer systolischer Funktion bei dilatativer Kar-
diomyopathie, inmitten meine Angestellte: „Herr Dok- tor, das nimmt heute kein Ende, da ist noch jemand ohne Termin!“ Na schön, dann werden halt die Gesprä- che und Untersuchungen weiter komprimiert. Was liegt den Brenzliges vor? „Ich habe mich gerade aus dem Krankenhaus entlassen, weil, da ging es einfach nicht voran, daher habe ich beschlossen, dass Sie jetzt dran sind!“ Drankommen möchten auch noch all die Patien- ten mit intermittierendem Vorhofflimmern und kalzi - fizierenden Mitralstenosen, chronisch-venöser Insuf - fizienz und AV-nodalen Reentry-Tachykardien. Ich habe meine liebe Not, alle Patienten zufriedenzustellen, obwohl mir die Zeit durch die Finger rinnt.
„Herr Doktor, ich weiß, Sie sind abgerieben, aber da ist noch ein Patient, ein Notfall!“ Was hat er denn?
„Luftnot!“ Seit wann? „Zwei Stunden.“ Endlich, darauf habe ich den ganzen Tag gewartet!
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.