Deutsches Ärzteblatt
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6. November 2009 A 2227 SUCHTMEDIZINISCHE VERSORGUNGEntschiedenes Handeln notwendig
Die Daten zur suchtmedizinischen Versorgung Opiatabhängiger in deutschen Haftanstalten machen deutlich, dass dringend Handlungsbedarf besteht.
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aten zur suchtmedizinischen und infektiologischen Situa- tion und Versorgung von Opiatab- hängigen im deutschen Justizvoll- zug lagen bislang nur aus vereinzel- ten Haftanstalten vor. Diese ließen kaum Rückschlüsse auf die Gesamt- versorgungssituation zu. Mit der Veröffentlichung von zwei deut- schen multizentrischen epidemiolo- gischen Studien liegen aber mittler- weile konsistente Daten über die Anzahl von aktuellen/ehemaligen intravenösen (i.v.) Drogenkonsumen- ten und drogenassoziierten Infekti- onserkrankungen aus mehreren deut- schen Haftanstalten vor (Radun et al. 2007, Schulte et al. im Druck).Die Ergebnisse beider Studien sind dabei alarmierend: Radun et al.
stellten in ihrer Querschnittstudie eine Lebenszeitprävalenz von intra- venösem Drogenkonsum von 29,6 Prozent (n = 464) unter 1 497 Inhaf- tierten in sechs deutschen Gefäng- nissen fest. 17,6 Prozent aller unter- suchten Gefangenen waren mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV), 0,8 Pro- zent mit dem menschlichen Immun-
schwächevirus (HIV) in- fiziert. Jeder zweite Ge- fangene (50,6 Prozent), der jemals Drogen injiziert hatte, war HCV-positiv, und 1,6 Prozent waren HIV-positiv. Mit ihrer Be- fragung von Anstaltsärz- ten in 31 deutschen Haft- anstalten mit mehr als 14 000 Strafgefangenen, konnten Schulte et al. die- se Ergebnisse bestätigen:
Der Anteil von aktuellen/
ehemaligen i.v.-Drogen- konsumenten unter den Inhaftierten lag in dieser Studie bei durchschnittlich 21,9 Prozent, die HCV-/
HIV-Prävalenzraten bei 14,3 beziehungsweise 1,2 Prozent. Damit unterstreichen beide Studien, was von Experten lange Zeit vermutet wurde: Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung sind aktuelle/
ehemalige i.v.-Drogenkonsumenten (> 70-fach), HCV- (> 25-fach) und HIV-Infektionen (> 24-fach) in deut- schen Haftanstalten deutlich über- repräsentiert (Tabelle).
Somit zeigt sich eine Konzen- tration von i.v.-Drogenkonsum und assoziierten Folgeerkrankungen in deutschen Haftanstalten – die ein entsprechend entschiedeneres Han- deln innerhalb dieser Institutionen erfordern. Dies gilt insbesondere unter der Berücksichtigung, dass das
Setting Gefängnis zum einen – auf- grund einer hohen Durchlaufquote von kurzzeitig Inhaftierten – eine ho- he Bedeutung für die Gesundheit der übrigen Gesellschaft hat und dass zum anderen die außerhalb von Haft- anstalten erwiesenermaßen effizien- ten Therapien ebenso erfolgreich un- ter Haftbedingungen durchgeführt werden können (Stöver et al. 2008).
Ein Vergleich der derzeitigen intra- muralen suchtmedizinischen Versor- gungssituation gegenüber der extra- muralen fällt jedoch ernüchternd aus.
Während sich die Zahl der Opioid- substitutionsbehandlungen in Frei- heit in Deutschland in den letzten fünf Jahren um 50 Prozent auf mehr als 70 000 Patienten erhöht und etwa 45 Prozent der geschätzten 150 000 Opioidkonsumenten erreicht, bildet sich diese Entwicklung in deutschen Haftanstalten nicht annähernd ab:
Lediglich etwa 500 bis 700 der ge- schätzten zehn bis 15 000 infrage kommenden Gefangenen befinden sich in einer dauerhaften Substituti- onsbehandlung (Michels et al. 2007, Stöver 2007).
Schulte et al. konnten zeigen, dass nur in drei von vier Gefäng- nissen (74,2 Prozent) eine Opioid- substitutionsbehandlung überhaupt möglich ist. Als primäre Behand- lungsindikation steht die Fortfüh- rung von in Freiheit begonnenen Substitutionsbehandlungen im Vor- dergrund. Die mit der Substitution
TABELLE
Anteil der i.v.-Drogenkonsumenten (IDUs) und drogenassoziierter Infektions - erkrankungen in deutschen Haftanstalten und in der Allgemeinbevölkerung
1Radun et al. 2007; 2Schulte et al. im Druck; 3EBDD 2006; 4RKI 2007; 5UNAIDS 2005 Haftanstalten 1, 2
Allgemeinbevölkerung Faktor
IDUs
21,9–29,6 % 0,3 %3 73- bis 98-fach
HCV
14,3–17,6 % 0,4–0,7 %4 26- bis 32-fach
HIV
0,8–1,2 % 0,05 %5 16- bis 24-fach
Foto: argus
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6. November 2009 verbundenen Behandlungsziele sinddeutlich abstinenzorientiert (Schulte et al. im Druck). Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Behandlung von HCV-/HIV-Infektionen. Auch hier besteht die Versorgungsleistung vor- nehmlich in der Therapieweiter- führung der außerhalb von Haftan- stalten begonnenen Behandlungen.
Hieraus wird deutlich, dass die Zu- gangshürden zu erprobten, bewähr- ten und anerkannten Behandlungs- methoden und -zielen in der intra- muralen Sucht- und Infektionsme- dizin erheblich höher sind als in Freiheit. Dabei sind die Folgen unterschiedlicher Behandlungsstan- dards innerhalb und außerhalb von Haftanstalten nicht nur aufgrund des Gleichstellungsgebots rechtlich und ethisch bedenklich. Sie sind aus me- dizinischer und gesundheitsökono- mischer Perspektive kontraproduktiv.
Therapieabbrüche und Therapieauf- schübe innerhalb von Haftanstalten führen zu Therapiemehrkosten und Fehlallokation dringend benötigter ökonomischer Ressourcen in der Gemeinschaft außerhalb von Haftan- stalten. So werden die auch von poli- tischer Seite unbestrittenen Erfolge in der suchtmedizinischen und infek- tiologischen Versorgung von Opiat- abhängigen außerhalb von Haftan- stalten durch eine restriktive medizi- nische Versorgung innerhalb von Haftanstalten nicht effizient reali- siert. Es besteht ein dringender Hand- lungsbedarf, um bestehende Versor- gungsunterschiede schnellstmöglich anzupassen. Maßgebend sind dabei die aktuellen medizi nischen Stan- dards, repräsentiert durch die aktu- ellen Richt- und Leitlinien zur me- dizinischen Versorgung von Opiat- abhängigen. Daneben müssen die Standards der öffentlichen Gesund- heitsberichterstattung als Analyse- instrument zur Beschreibung der Aus- gangslage und Prognoseinstrument zur Steuerung von Versorgungsleis- tungen in deutschen Haftanstalten regelhaft eingesetzt werden. ■
Priv.-Doz. Dr. Jens Reimer, Bernd Schulte, Prof. Dr. Heino Stöver
Anschrift für die Verfasser
PD Dr. med. J. Reimer, Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martini - straße 52, 20246 Hamburg
INTEGRIERTE VERSORGUNG
Ein Modell braucht neue Impulse
Seit 2004 können die Krankenkassen sektorüber - greifende Verträge schließen. Jetzt liegt erstmals ein Bericht vor, der die Entwicklung der letzten fünf Jahre verzeichnet.
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s galt als Kernstück der Ge- sundheitsreform: Mit dem Ge- setz zur Modernisierung der gesetz- lichen Krankenversicherung (GKV) von 2004 ermöglichte der Gesetzge- ber den Krankenkassen, eigene Ver- träge zur integrierten Versorgung zu schließen. Sie sollten entweder ver- schiedene Leistungssektoren mitein - ander verzahnen oder interdiszipli- när-fachübergreifend angelegt sein.Als Anschubfinanzierung wurde bis zu ein Prozent der vertragsärztli- chen Gesamtvergütungen und der
Krankenhausvergütungen in Aus- sicht gestellt. Der Gesetzgeber schloss bei der Fortschreibung der integrierten Versorgung die Kassen- ärztlichen Vereinigungen (KVen) als Vertragspartner bewusst aus.
Ärzte und Versicherte können sich freiwillig an Verträgen zur integrier- ten Versorgung beteiligen.
Eine gemeinsame Registrierungs- stelle bei der Bundesgeschäftsstelle
Qualitätssicherung (BQS), welche die Kassenärztliche Bundesvereini- gung (KBV), die Deutsche Kranken- hausgesellschaft (DKG) und die Spit- zenverbände der Krankenkassen ein- gerichtet haben, erfasst gemeldete Vertragsdaten der Krankenkassen und informiert die Leistungserbringer über Abzüge aus der Gesamtvergü- tung. Die Registrierungsstelle hat seit Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbs- stärkungsgesetzes außerdem die Auf- gabe, jährlich einen Bericht über die Entwicklung der integrierten Versor-
gung zu veröffentlichen. Der erste Bericht liegt nun vor und umfasst einen Zeitraum von fünf Jahren. Allerdings basiert er nur auf Plandaten und Ab- sichtserklärungen der Kran- kenkassen. Über die Versor- gungswirklichkeit der inte- grierten Versorgung sagt der Bericht nichts aus.
Die Informationen der Krankenkassen über Integra - tionsverträge sollten primär dem Ziel dienen, Kürzungen der Gesamtvergütungen plau- sibel und nachvollziehbar dar- zustellen. Über die Inhalte kam es wiederholt zu Kontro- versen zwischen den Kranken- kassen auf der einen und der KBV und der DKG auf der anderen Seite. Dem Wunsch nach Transpa- renz – insbesondere hinsichtlich der Zulässigkeit von Kürzungen der Ge- samtvergütungen und der Verwen- dung der einbehaltenen Mittel – stand das Interesse der Krankenkassen ge- genüber, sich im Wettbewerb nicht in die Karten schauen zu lassen. Außer- dem ist das Meldeverfahren für die Krankenkassen nicht verpflichtend.
TABELLE
Vertragspartner der Integrationsverträge Vertragspartner
Krankenhaus Niedergelassener Arzt/
Krankenhaus
Rehabilitation/Krankenhaus
Niedergelassener Arzt Rehabilitation/Niedergelas - sener Arzt/Krankenhaus Rehabilitation/
Niedergelas sener Arzt Sonstige
Anzahl der Verträge
1 001 1 182
714
1 932 182
180
1 216
in Prozent
15,6 18,4
11,1
30,2 2,8
2,8
19