Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 3⏐⏐19. Januar 2007 A77
S E I T E E I N S
N
och nie haben in Deutschland so viele alte Men- schen gelebt wie heute, und ihr Anteil steigt ste- tig. Die Senioren, Betagten (75- bis 80-Jährige) und Hochbetagten (über 80-Jährige) leiden häufig an mehre- ren chronischen Erkrankungen und schlucken mit Ab- stand die meisten Arzneimittel. Obwohl die Ärzte tag- täglich gefordert sind, effektive, sichere und sinnvolle Theapieentscheidungen für diese Altersklassen zu tref- fen, ist der Weg dahin eine Gleichung mit sehr vielen Unbekannten – manchmal sogar ein „Blindflug“. Wie sich das Konglomerat aus Alter, Multimorbidität und Multipharmakotherapie gegenseitig beeinflusst, ist wissenschaftliches Niemandsland.Dem demografischen Wandel müssen Wissenschaft und klinische Medizin ihren Tribut zollen, so der Tenor auf dem Symposium „Versorgung betagter Menschen“
beim 31. Interdisziplinären Forum der Bundesärzte- kammer in Berlin. Prof. Dr. med. Elisabeth Steinhagen- Thiessen (Charité, Berlin) forderte sogar eine „Geriatri- sierung“ der Aus- und Fortbildung medizinischer Beru- fe sowie interdisziplinäres Handeln. Der Fokus sollte dabei von der pathologischen und Defizit-Orientierung weggelenkt werden, denn „der ältere Mensch weist eine Fülle von Ressourcen auf, die bisher nicht in vollem Maße bekannt sind und zu wenig gefördert werden“.
Dies schließe aber nicht die Frage aus, wann, welche Therapie für welchen Patienten (noch) sinnvoll ist?
„Chirurgisch gibt es kaum Beschränkungen, denn rein fachspezifisch, also hinsichtlich Nahtinsuffizienzen oder Blutungen, sind bei Alten nicht mehr Komplikatio- nen zu befürchten als bei Jüngeren“, kommentierte Prof.
Dr. med. Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, die Studienlage. Und: Je äl- ter man wird, umso größer ist die Chance, noch älter zu werden. So hat ein 80-Jähriger eine mittlere Lebenser- wartung von 7,35 Lebensjahren, ein 90-Jähriger sogar noch eine von 3,68 Jahren. Allerdings gelte es, Patienten
„nicht nur am Leben, sondern im Leben zu erhalten“, betonte Bauer. Die Indikation zur Operation, aber auch Überlegungen zum Verzicht der Alterschirurgie sollten nicht von abstrakten Score-Systemen zur Risikobewer- tung abhängig gemacht werden, sondern bedürften im- MEDIZINISCHE VERSORGUNG VON BETAGTEN
Geriatrisierung ist notwendig
Vera Zylka-Menhorn
mer einer – durch persönliche Erfahrung geprägten und im interdisziplinären Konzept abgestimmten – individu- ellen Entscheidung.
Eine weitere Herausforderung ist die Pharmakothera- pie: Die Mehrzahl der geriatrischen Patienten nimmt fünf oder mehr unterschiedliche Medikamente, deren komplexes Zusammenspiel selbst Experten kaum be- herrschen. So wundert es nicht, dass viele alte Men- schen einerseits mit Medikamenten überversorgt sind, andererseits unterversorgt bleiben, weil Nebenwirkun- gen die Therapie limitieren. Inzwischen mehren sich auch die Erkenntnisse, dass eine Reihe von Arzneimit- teln sogar als grundsätzlich bedenklich für Senioren ein- gestuft werden muss. Solche Wirkstoffe sind in den USA im Rahmen der sogenannten Beers-Liste zusam- mengestellt worden.
Da eine direkte Übertragung dieser Daten auf den deutschen Medikamentenmarkt nicht möglich ist, hat die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die zusammen mit Ver- tretern der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie Sub- stanzen benennen soll, die bei Senioren ein ungüns- tigeres Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweisen als bei Jün- geren. „Ein Entwurf wird noch im ersten Halbjahr die- ses Jahres verfügbar sein“, sagte Prof. Dr. med. Daniel Grandt (Universität Saarbrücken) als Koordinator. Viel- leicht verhilft eine solche Übersicht zu differenzierteren pharmakologischen Verordnungen.
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn Ressortleiterin „Medizinreport“