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Archiv "Chronischer Alkoholismus: Eine gesundheitspolitische Frage" (12.02.1976)

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Das "Praktische Jahr"

dition, zeugt aber nicht von echter Verantwortung. Als Medizinstuden- ten der neuen Approbationsord- nung, die die Gefahren deutlicher erkennen, weil wir in unserem Aus- bildungsgang direkt damit konfron- tiert werden, sehen wir es als un- sere Pflicht an, auf die Unausführ- barkeit des IJ hinzuweisen und da- vor zu warnen. Deshalb fordern wir eine Beibehaltung des MA-Status auch für den Ail.

Es ist nicht zu verantworten, das IJ im Sinne der Grundkonzeption der ÄAppO durchzuführen

..,.. bevor die im Rahmen der ÄAppO erforderlichen finanziellen Aufwendungen bewilligt sind;

..,.. bevor die räumlichen und per- sonellen Voraussetzungen geschaf- fen sind. Hierzu ist es unumgäng- lich, die Liste der LKH zu veröffent- lichen, die die in § 4 der ÄAppO gestellten Bedingungen erfüllen, sowie diese Bedingungen weiter zu präzisieren;

..,.. bevor die zu verrichtenden ärzt- lichen Tätigkeiten mit Angabe der maximal für diese Tätigkeiten zu- lässigen Zeit in einem Positivkata- log erstellt sind;

..,.. bevor die arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Stellung der Ail präzise und gerecht - d. h. ohne Schlechterstellung gegenüber dem MA oder Benachteiligung gegen- über anderen in der praktischen Ausbildung stehenden akademi- schen Berufen, z. B. Referendaren - geregelt ist.

ln unserem Protest schließen wir uns den Warnungen des 77. Deut- schen Ärztetages vom Juni 1974 an, mit der Betonung, daß die Durchführung des IJ nicht nur die Sorge einiger weniger Studenten und der zuständigen Behörden sein darf, sondern in seinen sozia- len Konsequenzen ein Politikum ersten Ranges darstellt.

Anschrift des Verfassers:

cand. med. Walter Ehret Gerhard-Schott-Straße 54 6906 Leimen

Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen THEMEN DER ZEIT

Chronischer Alkoholismus:

Eine gesundheitspolitische Frage

Erich 0. Haisch

Alkoholismus ist eine Krankheit. Der hilfesuchende Kranke hat An- spruch auf eine bestmögliche Behandlung und Fürsorge. Diese Hil- fen sind jedoch zwecklos und unangebracht bei den Unheilbaren und asozial Gewordenen. Auch die Unterbringungsgesetze sind nicht für sie geschaffen, sondern für die ihrer psychischen Störung nicht bewußten Gemüts- und Geisteskranken. Die hier gemeinte Kerngruppe der unheilbaren Alkoholiker belastet die psychiatri- schen Krankenhäuser nutzlos, mißbräuchlich und nicht länger trag- bar. Für sie bedarf es anderer Maßnahmen, die in besonderen Ein- richtungen gesehen werden. Wenigstens die Hälfte dieser andern- falls zugrunde gehenden "Unheilbaren" vermag bei absoluter Pro- hibition und in konfliktarmer Umgebung sozial angepaßt zu le- ben und sich nach Jahren doch noch zu konsolidieren.

Fragt man einen Anstaltspsychiater nach den hauptsächlichen Sorgen seiner Arbeit, so lautet die Antwort:

der Alkoholismus; die Geriatrie;

die chronisch hospitalisierten Langzeitkranken; der jugendliche Drogenkonsum. Von den Alkoholi- kern, bei uns zur Zeit mehr als jede vierte Aufnahme*), soll uns hier al- lein eine besondere Gruppe be- schäftigen, die chronisch Unheilba- ren. Ein Rückblick mag zur Einfüh- rung dienen.

Dionysos, der rotwangige, pueril- fettleibige Gott der Reben und des Weins, Gott der Lebensfreude, der Fruchtbarkeit und der bacchanti- schen (sie: Bacchus) Exzesse, ist in Theben geboren, jener Stadt, in der Ödipus die verhängnisvolle Verbindung mit seiner Mutter Jaka- ste eingegangen ist, worüber er sein Augenlicht verloren hat. Jener Stadt auch, die von der rätseln- den Sphinx bewacht war, die ihrer- seits ebenfalls aus einer inzestuö- sen Verbindung hervorgegangen ist. Dionysos, ein sinnenfroher, aber auch dem Tod zugewandter Gott, war daher von den Christen

als der heidnischste aller antiken Götter geächtet und verdrängt wor- den. Wer aus der Wunderwelt der Akropolis in Athen herabsteigt, kann sich überzeugen, wie die Chri- sten mit dem Vorschlaghammer in seinem Heiligtum wüteten.

Und hier die andere Seite: Christus hat sich selbst mit dem Weinstock verglichen, seine Anhänger mit den Reben, sein Blut mit dem Wein;

also auch hier ein fließender Über- gang in den sakralen Bereich. Die- ser Übergang ist fraglos durch die berauschende, bewußtseins- und geistesverändernde Wirkung des Alkohols begründet, durch jenen Übertritt in außernormale seelische Bereiche, die dazu verführen, in ihnen ein höheres Leben zu erken- nen, worauf beispielsweise auch die alte Bezeichnung "Aquavit" für Branntwein hinweist. I>

*) Unter den im Beschäftigung.skranken- haus des Verf. in der Zeit Januar - März 1975 (Abfassung dieses Artikels) erfolgten 368 Zugängen befanden sich exakt 100 mit der Einweisungsdiagnose:

"Alkoholismus". Der tatsächliche Anteil liegt noch höher, kaschiert in Bezeich- nungen wie Polytoxikomanie, Halluzino- se, Verwirrtheitspsychose, usw.

DEUTSCHES ARZTEBLATT

Heft

7

vom

12.

Februar

1976 425

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Aufsätze Notizen

Chronischer Alkoholismus

Folgerichtig waren es die Priester, die sich dieser „überirdischen Mächte" bedient haben, so wie sie es andernorts auch mit anderen bewußtseinsverändernden Drogen getan haben, etwa die sibirischen Schamanen mit Fliegenpilz, die in- dianischen Medizinmänner mit Peyotl, die Sabbatjünger und He- xen des Spätmittelalters bei der schwarzen Messe mit Nachtschat- tengewächsen, eine endlose Liste.

Rigoros waren die Beschränkun- gen dieses Macht gebenden und gefährlichen Konsums auf die ein- geweihten Priesterkasten (verglei- che die Verweigerung des Laien- kelchs auch in der römisch-katholi- schen Kirche), und die Strafen auf deren Mißbrauch. Ein Peruaner, ein Afrikaner mit solcher Schuld war undenkbar, er war des Todes allein schon kraft des beschworenen Ver- dikts. Mohammed hat den Gläubi- gen Allahs den Genuß von Alkohol überhaupt untersagt (während das Ausweichen auf Opium dann zuge- lassen worden ist).

Inzwischen sind Aufklärung, Eman- zipation, Säkularisierung über uns hinweggegangen, Schritte, die uns von allen diesen Beschränkungen befreit haben. Jede neue Freiheit aber kostet ihren Preis; welches ist hier der unsere? Suchen wir die Antwort in einem möglichst weiten Rahmen, angefangen mit den Elendsbranntweintrinkern der vorin- dustriellen Epoche, die einen Ger- hart Hauptmann und einen Hein- rich Zille beschäftigt haben, über das Nebenprodukt der Chicago- Gangstersyndikate in den zwanziger Jahren zufolge der amerikanischen Prohibition, bis zu den noch milch- bärtigen Jugendlichen, die sich heute als Fußkranke jener geistig- politischen Völkerwanderung, auf der sich die Menschheit befindet, mit der Ideologie ihres „Rechts auf den eigenen Leib", umnebelt von Weihrauch und erschüttert von 80- Phon-Sounds zugrunde richten. Es sind Verlorene, nachdem mehr und mehr auch die unerschütterlich- sten Helfer vor der katastrophalen Destruktivität des Heroins kapitulie- ren; die Heilungschancen werden

hier, trotz eines ungeheuren helfe- rischen Aufwands, mit zwei bis höchstens fünf Prozent angegeben.

Lassen wir die Nikotinsüchtigen hier beiseite; auch sie mit ihrer oralneurotischen Abhängigkeit sind Opfer der Zivilisation und haben per definitionem eigentlich dassel- be Recht auf Krankerklärung wie die Alkoholabhängigen. Hier ge- nügt der Hinweis, daß nach Schät- zung der gesamte Aufwand der medizinischen Diagnostik und des therapeutischen Angebots seit dem letzten Krieg allein durch die in derselben Zeit durch Nikotin neu entstandenen Gesundheitsschäden etwa annulliert wird.

Nicht weniger monströs lauten die die Alkoholiker betreffenden Zah- len: In der Bundesrepublik werden jährlich gut 10 Liter Alkohol pro Kopf der Bevölkerung konsumiert, und für Alkohol werden jährlich über 30 Milliarden DM aus- gegeben. Die wenigen echten Ab- stinenzler sind zu zählen; ein be- kannter Verleger hat auf die Frage eines Reporters wegen seiner Ab- stinenz einmal geantwortet: „Ich genieße den Rausch der Nüch- ternheit". Im übrigen gilt Alkohol- trinken als eine fast unabdingbare gesellschaftliche Sitte, daß heißt für schwächere Naturen als ein Zwang. Diese Sitte ist allerdings, um einen Ausdruck aus dem Haschvokabular zu gebrauchen, für viele „der Einstieg" in den Alkoho- lismus. So gibt es in der Bundesre- publik etwa 600 000 Alkoholkranke, nach anderer Schätzung mehr als eine Million!

In manchen psychiatrischen Häu- sern beträgt der Anteil der Alko- holiker am stationären Patientengut einschließlich der Endzustände in Dauerpflege 30 vom Hundert (in Norditalien jeder zweite Anstaltsin- sasse). Ferner sind rund 15 Pro- zent der Patienten in den Allge- meinkrankenhäusern alkoholkrank

(Neuritiden, Pankreas- und Hepato- pathien, Delirien, akute Intoxikatio- nen, usw.) Der Anteil an Frauen hat sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt.

Verantwortungsbewußte philanthro- pe Ärzte haben sich zuerst dafür eingesetzt, höchstrichterliche Ur- teile haben es inzwischen statuiert:

Der Alkoholismus ist eine Krank- heit. Damit ist der leidige Streit mit den Kostenträgern abgeschlossen;

jede weitergehende Wertneutrali- sierung aber geht in die Irre. Es ist eben nicht dasselbe, ob sich je- mand bei Glatteis das Bein bricht, ob er schizophren ist oder ob er mittels eines komplizierten Tatab- laufs alkoholische Getränke kauft und sie zum Munde führt. Hier ist klar ein höheres Maß von Eigenver- antwortlichkeit gegeben; wer das bestreitet, muß sich mit der zuge- gebenermaßen unklärbaren Philo- sophie von der Freiheit des menschlichen Handelns überhaupt beschäftigen. Die derzeit prakti- zierte wertneutrale Betrachtungs- weise des Alkoholismus ist nur ei- ner von vielen möglichen Aspek- ten. Sie kann nicht in Anspruch nehmen, die einzig richtige und zu- lässige zu sein; im Gegenteil ist sie einem steten Wandel unterworfen.

Es scheint mir als notwendig, diese Dinge einmal offen auszusprechen.

Ich weiß mich dabei einig mit einer großen Zahl von Kollegen in den psychiatrischen Anstalten, die mit der gegenwärtig geübten, oft nur liberalen Praxis gegenüber den Al- koholikern auf Kosten anderer Kran- ker unzufrieden sind, auch einig mit der juristischen Kompetenz: Zeit- weiligen Strömungen entgegen hat auch das Strafrecht nach seiner Re- form am Schuld- und Sühnebegriff festgehalten. Pragmatisch gibt es also noch immer Schuld und Sühne im individuellen Bereich. Wo aber bleiben Schuld und Sühne des Al- koholikers? Schon der bloße Ge- danke daran ist problematisch.

Sind die bekannten Schuldgefühle der Alkoholiker nur eine Introjek- tion falscher Vorurteile? Sind sie unbegründet, oder sind sie hilfreich und zur Therapie motivierend? Ist die Alkoholabhängigkeit eine So- ziose, für deren Entstehung letz- ten Endes die Mitwelt verarttwort- lich ist? Die Alkoholiker auch mora- lisch zu bewerten gilt als rück- ständig. Aber wie ist zu vereinba-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Chronischer Alkoholismus

ren, daß die Gesellschaft zwar ein Höchstmaß an Moral auf seiten der Ärzte voraussetzt, von einer moralischen Bewertung des Krank- seins aber nichts wissen will?

Die Frage ist letztlich: Gibt es, ja oder nein, das Böse als ei- nen Bestandteil des Menschlichen im Sinne von C. G. Jung? Gibt es schuldhafte menschliche Lieder- lichkeit, Verwahrlosung, Laster, Faulheit, Verkommenheit, oder sind dies alles nur Symptome der So- ziose? Genügt hier die euphemisti- sche Signatur einer „alkoholischen Depravation"? Selbstverständlich sehen wir alle eine sozialpsychia- trische Grundaufgabe darin, die ur- sächlichen Faktoren solcher Cha- rakterdefekte aufzuklären und Wege für deren künftige Vermei- dung zu finden. Das hindert aber nicht, im gegebenen Fall und bei den gegebenen therapeutischen Möglichkeiten unter Gewissenslast eine Infaustprognose mutig zu stel- len, nicht anders, als dies bei kör- perlichen Erkrankungen ja auch getan werden muß, mit allen sich daraus ergebenden Folgen.

Welches sind diese Folgen für die chronisch rückfälligen Trinker?

Klar ist, daß es mit dem früher übli- chen befristeten Einsperren, mit den „Kotzkuren" und nachfolgen- der Antabusverordnung nicht getan ist. Klar ist ferner, daß Trunksucht nur im Zusammenhang mit der Herkunft und den Lebensverhält- nissen des „Symptomträgers" zu verstehen ist und daß die Rückver- setzung in dasselbe (Trinker-)Mi- lieu fast zwangsläufig zum Rückfall führt. Klar ist aber auch, daß diese nun so in den Vordergrund gerück- ten sozialen Zusammenhänge kein Einbahnverkehr sind, sondern eine Sache auf Gegenseitigkeit. Nach der Veridealisierung des Individu- ums und seiner Rechte bedeutet die Wiederentdeckung des Men- schen als eines Gemeinwesens et- was Wunderbares, Tröstliches und Bergendes. Jeder Mensch hat nicht nur das von der UNO proklamierte Recht auf eine eigenständige, freie Entfaltung, sondern er hat auch ein Recht auf gesunde Einflüsse sei- tens der Umwelt, beginnend mit

psychisch gesunden Eltern. Ich wundere mich über diejenigen Psychiater, die unsere Aufgabe strikt auf die kurative psychiatri- sche Klinik und Praxis beschränkt wissen wollen und vor einer von ih- nen abfällig so genannten „Missio- nierungsideologie" als etwas Un- gehörigem warnen. Diese Kollegen befinden sich vergleichsweise in derselben Lage wie jene, die vor hundert Jahren die aufkommende Hygiene bespöttelt, oder, wie im Falle des lgnaz Semmelweis, zu- schanden gemacht haben. Soll nun für die Psychiatrie, die doch seit Zeller und Griesinger stets um ihre Gleichrangigkeit bangt, etwas an- deres gelten als für die übrige

„naturwissenschaftliche" Medizin?

Oder ist es nur folgerichtig und konsequent, daß z. B. P. K. Kisker einer umgreifenden, vorbeugenden psychischen Hygiene das Wort re- det (wobei er sich übrigens voll- kommen innerhalb der WHO-Maxi- men befindet)?

Innerhalb der Anstalt gelten die Al- koholiker als die besten, oder aber als die unerfreulichsten, Mitglieder des Patientenguts. Als die besten:

Frei von Alkohol und entlastet vom dauernden Versagenmüssen (Er- lebnis der eigenen sozialen Un- brauchbarkeit) erweisen sich viele als umgängliche, kollaborative und dankbare Naturen, die sich oft un- entbehrlich machen gegenüber der Menge der echt Geisteskranken, Behinderten und Pflegebedürftigen.

Oder als die Unerfreulichsten: Die chronischen Rückfäller, die unent- wegt Schwierigkeiten bereiten, auch in der sozialen Interaktion.

Diese sind nicht therapiemotiviert, in einer herkömmlichen Entzie- hungsanstalt wären oder sind sie längst schon geflogen: daher lan- den sie als eine negative Auslese schließlich in der Psychiatrie. Die mit ihnen befaßten Therapeuten befinden sich in einem steten Kon- flikt zwischen Verboten und Libera- lität, da der Patient ja auch Gele- genheit erhalten muß, sich zu be- währen. Der Anblick trinkender Krankenhauspatienten während der „Entziehungskur" gehört daher zum Weichbild jeder Anstalt, ein

dauerndes Ärgernis für Personal und Außenstehende. Was ist da noch zu tun? Ihnen den Eintritt ins Krankenhaus verweigern?

Meistens mitten in der Nacht, wenn sie vollgelaufen sind und in einer Kneipe oder zu Hause randaliert haben, werden sie per Sanitäts- transport zugeführt, bis zu 150 km weit, der Kilometer zu DM 2,10 plus Zuschlag. Einige reisen am folgenden Tag, gut ausgeschlafen, wieder nach Hause. Früher gab es für solche Fälle sogenannte Aus- nüchterungszellen bei der Polizei;

nachdem es aber vorgekommen ist, daß ein vermeintlich Betrunke- ner mit Schädelbruch oder ähnli- chem darin zu Tode kam, erfolgten innerdienstliche Anweisungen, und jeder Polizeibeamte hütet sich heutzutage vor dieser bequemen und kostensparenden Maßnahme.

Noch bedenklicher liegt der Fall bei kleinen, örtlichen Krankenhäu- sern, die immerhin alle bis nach dem letzten Krieg noch über einen oder zwei Isolierräume (Zellen) für akute Fälle verfügt haben. Diese Zellen sind inzwischen durchweg ein Opfer des Wohlstands gewor- den: Ein Sanka steht ja überall und ständig zur Verfügung. Dabei pas- sieren die kuriosesten Dinge: Eine Krankenhauskollegin ruft kurz vor Mitternacht an (110 km, Nebel, Glatteis), sie müsse den mit Ge- walttat drohenden Betrunkenen so- fort auf den Weg bringen, weil auf der Station nur ein einziger Pfleger die Nachtwache halte. Als der Pa- tient nach gut zwei Stunden bei uns eintrifft, wie üblich im Tief- schlaf und kaum noch ansprech- bar, gelangt er hier in die Aufnah- mestation „für Unruhige", die in dieser Nacht nur von einer Schwe- ster bedient ist, zur großen Ver- wunderung des Fahrpersonals.

Nicht viel anders liegen die Dinge bei Einweisungen durch praktische Ärzte. Auch diese erfolgen mit Vorliebe des Nachts oder durch den Sonntagsdienst, wobei gewiß manchmal die Überlegung mitwirkt, daß der betreffende Kollege durch den Störenfried nicht noch einmal belästigt werden möchte. Oft ist er

428 Heft 7 vom 12. Februar 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Aufsätze • Notizen Chronischer Alkoholismus

ihm als Trinker ohnehin schon be- kannt, ebenso wie seine familiäre Misere und wie seine hartnäckige Weigerung zu einer Entziehungs- kur; daher bietet eine Radauszene einen willkommenen, wenn auch nicht sachgerechten Anlaß für die- sen Schritt. Aber selbst wenn der Betreffende sich nachträglich mit einem Aufenthalt im psychiatri- schen Krankenhaus „freiwillig" ab- findet — niemand sollte sich vor- machen, daß dieses dann auch gleichzusetzen ist mit einer erfolg- versprechenden Entziehungskur;

selten wird mehr erreicht als eine den Kranken und die Familie scho- nende temporäre Abwesenheit des Patienten und ein das ärztliche Ge- wissen entlastendes Alibigefühl.

Mit alledem sind die therapiewilli- gen und therapiefähigen Kranken nicht gemeint. Für sie gibt es eine große Zahl von therapeutischen Programmen, praktisch in jeder Anstalt. Was aber mit den Unver- besserlichen? Sie sind es doch, in deren Zustrom die Anstalten zu er- trinken drohen und die die eigentli- che psychiatrische Arbeit auf den Stationen lähmen. Für sie hat die in zähem Bemühen erreichte Krankschreibung an Stelle des Verdikts eine fatale Nebenwirkung auf ihr Rollenselbstverständnis mit sich gebracht: Sie operieren nun mit ihrem Hilfeanspruch wie mit ei- ner ausbeuterischen, gesellschafts- feindlichen Waffe. Erlauschtes Ge- spräch im Stadtbus: „Mensch, wenn du schon arbeitslos bist, was ärgerst du dich dann mit der Ar- beitslosenunterstützung? Ich habe mir einen angesoffen und bin wie- der in der Psychiatrie. Dort geht es mir prima, dazu bekomme ich noch das Krankengeld!"

Ich frage mich, ob wir uns solchen Luxus leisten können, und wenn schon, ob jemandem damit ein Ge- fallen getan wird. Die durchschnitt- liche Aufenthaltsdauer der Alkoho- liker in unserem Krankenhaus be- trägt deutlich über 100 Tage, was bei einem Pflegesatz von ca. 75 DM/Tag mehr als 7500 DM an Ko- sten verursacht. Im Laufe der Jahre kommen manche 10mal, 20mal zur

Wiedereinweisung. Verlegt man sie in ein Pflegeheim, so brennen sie dort durch, erscheinen betrunken und äußerlich bereits wieder ver- wahrlost bei uns und erzwingen den Wiedereintritt in das hiesige Komfortdasein mit einer Suiziddro- hung. Ich frage mich daher auch, wie ernst die Klagen der Kostenträ- ger zu nehmen sind, wenn wir zwar immer wieder beantworten müs- sen, warum eine Patientin mit De- pression in den Wechseljahren noch nicht geheilt ist, indessen noch niemals danach gefragt wur- de, ob es richtig und notwendig war, einen bestimmten Patienten überhaupt einzuweisen. Tun wir wenigstens den betreffenden Alko- holikern selbst damit einen Gefal- len? Der Verhaltensforschung zu- folge nein, denn sie erhalten auf diese Weise eine Gratifikation, ei- nen Verstärker für ihr Fehlverhal- ten. Ihnen geht es gar nicht mehr um die Heilbehandlung, sondern um die Vorteile des Krankfeierns.

Alkoholiker eines psychiatrischen Krankenhauses erhoben unlängst die Forderung auf „Lohnaus- gleich" für die wegen der psycho- therapeutischen Sitzungen an be- zahlter Werktherapie versäumten Stunden. Eine derart egoistische Anspruchshaltung ist zwar ein typi- sches Süchtigensymptom. Aber jede Krankenversicherung setzt in ihrer Konstruktion prinzipiell thera- piewillige und gewissenhafte Pa- tienten voraus. Wir haben es hier mit einem Teilaspekt jenes nach- gerade katastrophalen Konsumver- haltens der Versicherten gegen- über den Gesundheitsdiensten zu tun, dem Problem Nummer eins der derzeitigen Gesundheitspolitik.

daß unsere chronisch Kranken, meist Schizophrene, für einen vol- len Arbeitstag innerhalb der An- stalt mit 30 Pfennig „Aufmunte- rungsgebühr" abgefunden worden sind. Aber es ist doch einfach so, daß eine Gesellschaft, die es unter- nimmt, den ehemals verrufenen Al- koholiker für krank zu erklären, die sich selbst für mitverantwortlich am Zustandekommen dieser Krankheit hält und sich zu jeder nur möglichen finanziellen und die- nenden Hilfeleistung verpflichtet, ihrerseits ebenfalls ein Recht hat, Forderungen zu stellen; die Forde- rung nämlich, daß der begünstigte und geschonte Kranke seinerseits ebenfalls Pflichten hat, und sei es auch nur diejenige, seinen Kräften entsprechend zur Genesung, zur Kostensenkung und zum Unterhalt seiner (nicht selten zahlreichen) Familie beizutragen, die sonst ebenfalls auf die Hilfe des Sozial- oder Jugendamts zurückgreift, also auf den Beitrag und die Toleranz jener Gesellschaft, die anzuklagen Mode geworden ist. Wer so denkt, hat offensichtlich jenen tiefgehen- den Wandel nicht bemerkt, der in- nerhalb von zwei Generationen vollzogen worden ist: War es das Ideal noch der Wilhelminischen Ära, daß die Tugend jedes einzel- nen in seiner Opferbereitschaft für die Gemeinschaft bestand, so ist es die Leitidee der heutigen, daß die Gesellschaft sich für jeden ein- zelnen verantwortlich weiß.

Aber auch diese heutige Gesell- schaft bedarf des Schutzes und hat Grenzen ihrer Möglichkeiten ge- genüber den Asozialen. Die unheil- baren, gegenüber ihrer Gesund- heit, ihrer Familie, uns gegenüber Tatsächlich sind diese Alkoholiker verantwortungslos gewordenen AI- in der Regel voll arbeitsfähig. Sie koholiker gehören dazu. Sie sind arbeiten daher auch bei uns, und für die nicht für sie bestimmten das ist das einzige, was die Anstal- psychiatrischen Anstalten eine un- ten ihnen als eine Art Gegenlei- erträgliche Last, als Dauerpendler stung abgewinnen können. Doch mit und ohne Delir, als charakter- schon heben welche den Finger, lich Infizierte und mittels ihrer un- sprechen von Ausbeutung und mei- qualifizierten Affären Infektuöse, nen, daß diese Arbeit eigentlich als Frührentner, als Verelendete leistungsrecht entlohnt werden und auch als Suizidgefährdete.

müsse. Ich gestehe, hier passen zu

müssen. Wir sind jahrelang und mit Gibt es Möglichkeiten der Abhilfe?

Erfolg dagegen Sturm gelaufen, Der Zwischenbericht der Enquete-

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Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

THEMEN DER ZEIT

Horst Fassl

Fortsetzung und Schluß

11. Säuglingssterblichkeit:

Thesen der „Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Ärzte Deutschlands"

(S. 14): „Nicht besser sieht der Vergleich der Säuglingssterblich- keit aus. In der Bundesrepublik starben 1971 rund 18 000 Säuglinge innerhalb des ersten Lebensjahres.

Bezieht man die Zahl der im ersten Lebensjahr gestorbenen Kinder auf 1000 Lebendgeborene, so findet man in den verschiedenen Ländern folgende Häufigkeiten:

Bundesrepublik 23,2

Schweden 11,1

Niederlande 12,1

Japan 12,4

Frankreich 13,3

Schweiz 15,1

England 18,0

DDR 18,0

USA 19,2

Bei so günstigen Verhältnissen wie in Schweden würden in der Bun- desrepublik pro Jahr 10 000 Kinder weniger sterben: Jeden Tag ster- ben in der Bundesrepublik also fast 30 Kinder, die leben würden, wenn das Gesundheitswesen ihres Vaterlandes das Niveau anderer europäischer Industrienationen er- reichen würde."

Stellungnahme

Noch mehr als bei der Müttersterb- lichkeit erfordert der objektive Ver-

gleich von Säuglingssterbeziffern die nüchterne Auseinandersetzung mit dem statistischen Quellenma- terial').

Seit 1950 ist die Säuglingssterb- lichkeit in allen Vergleichsländern stetig zurückgegangen. Ursache ist die abnehmende Zahl der Sterbe- fälle an Infektionskrankheiten, Lun- genentzündungen, entzündlichen Magen- und Darmkrankheiten und chronischen Ernährungsstörungen

— typische Todesursachen in Län- dern niedrigen Lebensstandards (3, 67, 71, 92, 102, 112, 120, 121). Immer noch bestehen internationale Un- terschiede in der Häufigkeit man- gelhaft bezeichneter Todesursa- chen (44, 59, 125, 126).

Auffallend ist, daß sich im Be- richtsjahr hohe, mittlere und niedri- gere Säuglingssterbeziffern sowohl in Ländern finden, die ihr Gesund- heitssystem nach dem „Versiche- rungskonzept (Schicke [85])" orga- nisieren (wie z. B. Dänemark, die

1) Definitionen:

Säuglingssterblichkeit: Sterbefälle im Alter unter einem Jahr*)

Neugeborenensterblichkeit: Sterbefälle im Alter bis unter vier Wochen*) Postneonatale Sterblichkeit: Sterbefälle von vier Wochen bis unter einem Jahr*) Spätfötale Sterblichkeit: Fetale Sterbe- fälle (Totgeburten nach mindestens 28 Wochen Tragzeit einschließlich der Tot- geburt unbekannter Tragzeit*)

Perinatale Sterblichkeit: Spätfetale Ster- befälle (Totgeburten) und Sterbefall un- ter einer Woche*)

*) bezogen auf 1000 Lebendgeborene

Chronischer Alkoholismus

Kommission über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland vom 19. Oktober 1973 nimmt dazu Stellung, wie folgt: „Die Behandlung, Betreuung und Be- wahrung von Suchtkranken ist...

in der Bundesrepublik insgesamt unzureichend... Den stationären Einrichtungen, die der Entgiftung und mittelfristigen Entziehung die- nen, müssen... Beschäftigungsein- richtungen für zeitweilig oder dau- ernd behinderte Suchtkranke zuge- ordnet werden." Im Klartext heißt das: Trinkerasyle und Arbeitshäu- ser zur gegebenenfalls langfristi- gen Internierung. Man muß sich in diesem Zusammenhang wohl auch wieder der halb vergessenen Mög- lichkeit zur Entmündigung von Trinkern erinnern*). Denn tatsäch- lich ist die langfristige Beschrän- kung der persönlichen Freiheit, bei absoluter Abstinenz, die aussichts- reichste reale Therapie für diese sonst hoffnungslos Verlorenen.

Schutz des Süchtigen vor seinem Todfeind Alkohol vereint sich hier mit dem Schutz der Gesellschaft vor antisozialen Entwicklungen.

Der Behinderte hat dabei die Mög- lichkeit, durch leistungsgerechte Arbeitsentlohnung zu seinem und seiner Familie Unterhalt selbst bei- zutragen. Langfristig, in einem hö- heren Lebensalter, kann es er- fahrungsgemäß doch noch zu einer echten Nachreifung und Festigung der Persönlichkeit kommen. Der Aufbau einer Institution solcher Art unter geeigneter Trägerschaft er- schiene mir als für ein psychiatri- sches Lebenswerk lohnend; Zeit- geist und Umstände waren dafür bislang noch nicht günstig.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Erich 0. Haisch Psychiatrisches

Landeskrankenhaus Reichenau 775 Konstanz

*) §6 Abs. 3 BGB: Entmündigt werden kann, wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen ver- mag, oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstands aussetzt, oder die Sicherheit anderer gefährdet.

Gesundheitsstatistik

als politische Waffe mißbraucht

Behauptungen einer extremen ärztlichen Oppositionsgruppe — analysiert und widerlegt an Hand der Beispiele

„Müttersterblichkeit" und „Säuglingssterblichkeit"

430 Heft 7 vom 12. Februar 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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