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Archiv "Kann die „Perestrojka“ die Probleme der Medizin in der UdSSR lösen?: Daran krankt das sowjetische Gesundheitswesen" (06.07.1989)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEI

Kann die „Perestrojka" die Probleme der Medizin in der UdSSR lösen?

D

ie sowjetischen Parteika- der - die sogenannte No- menklatura -: das sind die Herren des Lebens im Land; sie versehen sich mit hochqua- lifizierten Fachärzten und den mo- dernsten diagnostischen und thera- peutischen Einrichtungen. Die medi- zinische Betreuung in den Haftan- stalten hat beschränkten Umfang - gemäß besonderen geheimen Wei- sungen des Innenministeriums. Es gibt eine Liste der Erkrankungen und Symptome, bei deren Vorhan- densein man einen kranken Häftling von der Arbeit befreien, zu einer speziellen medizinischen Untersu- chung oder einer Operation schik- ken, auf eine Diät setzen, in eine In- validitätsklasse einteilen kann usw.

Die Haftbedingungen in der UdSSR waren und sind weiterhin zu Recht Gegenstand der Empörung der west- lichen Öffentlichkeit.

Wie nun sorgt man in der UdSSR für den Rest der Bevölke- rung - die werktätigen Massen? Um dem Vorwurf der Voreingenommen- heit zu entgehen, greife ich hier durchweg auf publizierte Mitteilun- gen des UdSSR-Gesundheitsmini-

sters Ewgenij I. Tschasow und ande- rer Vertreter der offiziellen Medizin zurück, die sich in der Presse wieder- holt zu diesem Thema geäußert ha- ben.

„Unser Gesundheitswesen funk- tioniert gegenwärtig nach dem Prin- zip der Feuerwehr, nicht des Ge- sundheitsschutzes", bemängelt Mini- ster Tschasow. „Ungefähr 70 Prozent der medizinischen Hilfe erweisen heute die Heilinstitutionen bereits er- krankten Personen". Man verfügt ja über eine Rekordzahl an Kranken- hausbetten (über 3,3 Millionen) und an Ärzten (mehr als 1,2 Millionen) im Land . . .!

Unendlich

viel wäre noch zu tun

In den 70er Jahren aber ist die durchschnittliche Lebenserwartung in der Sowjetunion unaufhaltsam ge- sunken und hat 1984 niedriger als beispielsweise in Barbados und den Vereinigten Arabischen Emiraten gelegen - fast 10 Jahre unter der Le- benserwartung in Japan. Der Anteil des Nationaleinkommens, der für

Der Psychiater Dr. Anato- lij Korjagin (Jahrgang 1938) ist einer der bekannten russi- schen Dissidenten. Er ist vor allem hervorgetreten durch seinen Kampf gegen den po- litischen Mißbrauch der Psychiatrie in der Sowjet- union. Dafür steht sein erst- mals 1981 im „Lancet" er- schienener Artikel „Unwil- ling patients", der unter dem Titel „Unfreiwillige Patien- ten" 1982 auch im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wor- den ist.

Das Deutsche Ärzteblatt hat sich darüber hinaus mehrfach und ausführlich mit dem Schicksal Korjagins be- schäftigt und dessen Auffas- sungen publiziert; zuletzt noch in einem Beitrag („Dia- gnose: schizophren"), in dem der Mißbrauch der Psychiatrie am Beispiel des Dissidenten Wladimir Titow veranschaulicht wurde (Heft 38/1988).

Nach sechsjähriger Haft wurde Anatolij Korjagin 1987 freigelassen. Er lebt seitdem in der Schweiz. NJ

das Gesundheitswesen abgezweigt wird, sinkt in der UdSSR ebenfalls stetig: 1970 betrug er 4,1 Prozent, heute liegt er bei vier Prozent, und am Ende des laufenden Fünfjahres- plans wird er noch 3,9 Prozent aus- machen. Alljährlich erleidet die Wirtschaft durch die geringe Effi- zienz des Gesundheitswesens Verlu- ste von 90 Milliarden Rubel.

Ein großer Teil der Kranken- häuser ist in ehemaligen Kollektiv- Wohnheimen und Wohnblöcken un- tergebracht, die nach Billigbauweise errichtet worden waren und den An- forderungen der Zeit nicht entspre- chen. Während die offiziell bestätig- te Raumnorm bei sieben Quadrat- meter pro Krankenhausbett liegt, be-

Daran krankt das

sowjetische Gesundheitswesen

Anatolij Korjagin

Das Gesundheitswesen im Westen unterscheidet sich grundlegend vom sowjetischen: In einem westlichen Land hat der Mensch die Möglich- keit, die Gegebenheiten in diesem Bereich durch persönlichen Einsatz zu beeinflussen, während er in der Sowjetunion prinzipiell nur jene me- dizinische Hilfe erhält, die der Staat für ihn als ausreichend erachtet.

Denn in der UdSSR gilt der Mensch als Eigentum des Staates, und der Wert einer Person wird an ihrem jeweiligen unmittelbaren Nutzen für das System gemessen. Eben deshalb sieht die medizinische Versor- gung in der Sowjetunion für die verschiedenen Kategorien auch unter- schiedlich aus. Es gibt spezielle Sanatorien und prophylaktische Heilin- stitute für die Parteikader verschiedenen Ranges; es gibt die allgemeine Versorgung in Krankenhäusern; und es gibt schließlich die medizini- sche Betreuung der Insassen von Haftanstalten...

Dt. Ärztebl. 86, Heft 27, 6. Juli 1989 (23) A-1983

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trägt sie in Wirklichkeit nur 4,2 Qua- dratmeter. Mehr als die Hälfte der Hospitäler, namentlich auf dem Lan- de, verfügen nicht nur über keine Versorgung mit Heißwasser, sondern haben überhaupt weder Wasserlei- tung noch Kanalisation. In Zentral- asien zum Beispiel sind nur 21 Pro- zent der ländlichen Polikliniken und Ambulatorien in eigens dafür erstell- ten Gebäuden untergebracht.

Die Kosten pro Bett betragen in der Sowjetunion durchschnittlich 15 000 Rubel (gegenüber 80 000 in der Tschechoslowakei). Die Sowjet- bevölkerung ist nur zu 85 Prozent mit Medikamenten einheimischer Produktion versorgt; Bestellungen für Herz- und Kreislaufmittel sowie Antibiotika werden nur zu 40 bis 60 Prozent befriedigt. Die medizini- schen Apparate, die von der sowjeti- schen Industrie hergestellt werden, entsprechen den heutigen Anforde- rungen nicht.

Die Verpflegungsnorm in den Krankenhäusern beträgt 1,01 Rubel pro Patient und Tag, für Kriegsinva- liden liegt sie bei 1,82 Rubeln. Häu- fig ist das Essen von derart schlech- ter Qualität, daß die Kranken es in den Abfalleimer werfen.

Ärzteausbildung noch unbefriedigend

In 104 sowjetischen Städten übersteigt die Konzentration der Schadstoffe die offiziellen gesund- heitsamtlichen Normwerte um das Zehnfache oder noch mehr. Die Er- krankungen an Lungenkrebs haben sich von 1965 bis 1985 verdoppelt.

Während der Landesdurchschnitt an Frühgeburten 4,9 Prozent beträgt, liegt er bei Arbeiterinnen gewisser Branchen bei acht Prozent oder noch höher. Ein Viertel bis ein Drittel der Wasserleitungen (je nach zuständi- ger Behörde) führen Wasser ohne ausreichende Reinigung und Entkei- mung. Und die Mediziner zerbre- chen sich noch die Köpfe darüber, woher wohl die massenhaften akuten Darminfektionen kommen Nicht selten sind Fälle von Vergiftungen durch verdorbene Produkte der Fleisch- und Milchindustrie. Von 196 Planaufgaben der Partei im Be-

reich des Umweltschutzes sind nur 47 ausgeführt worden...

Das Niveau der ärztlichen Aus- bildung und der des medizinischen Personals ist im allgemeinen nicht hoch. Viele Angehörige dieser Beru- fe tun sich zudem durch Mangel an Barmherzigkeit hervor; viele lassen sich fast unverhohlen „schmieren".

Bei einer kürzlich durchgeführten Überprüfung von 350 000 Ärzten (solche Attestierungen der ärzt-

„Unser Gesundheitswesen funktioniert ge- genwärtig nach dem Prinzip der Feuerwehr, nicht des Gesundheitsschutzes . . . Wir ge- hen weiterhin nicht vom Leben aus, sondern von Papieren”: Ewgenij I. Tschasow, Profes- sor für Kardiologie, seit Februar 1987 Ge- sundheitsminister der UdSSR Foto: dpa

lichen Qualifikation finden etwa alle fünf Jahre statt) wurde beinahe jeder zehnte nur bedingt bestätigt, rund tausend Ärzte wurden ganz ihrer Tä- tigkeit entbunden. Viele junge Spe- zialisten können keine Geburtshilfe leisten, nicht die einfachste Opera- tion ausführen oder ein EKG lesen.

Es fehlt chronisch an mittlerem und unterem Personal.

Von den 333 Wissenschaftlichen Forschungsinstituten im Lande, die im Bereich des Gesundheitswesens tätig sind, leisten kaum die Hälfte qualifizierte Arbeit und bringen überhaupt irgendwelchen Nutzen.

Der Gesundheitsminister gibt zu, daß es in der Sowjetunion um die

Volksgesundheit ernst steht, und be- dauert, daß viele medizinische Ein- richtungen lediglich Auserwählten — nur einer Elite — zugänglich sind. Al- le Unzulänglichkeiten im sowjeti- schen Gesundheitswesen erklärt er dann aber aus der Sicht eines Partei- funktionärs, der seinen Posten auf Geheiß der KPdSU innhehat, wie Tschasow selber bekannte Ähnlich wie Parteichef Michail Gorbatschow, der sagte, in der letzten Fünfjahres- periode habe sich „die soziale Aus- richtung der Wirtschaft als vermin- dert erwiesen", habe sich „eine Art Schwerhörigkeit für soziale Fragen gezeigt", verweist Tschasow durch- weg auf die „negativen Erscheinun- gen der Vergangenheit", die „Zeit der Stagnation". Als typischer No- menklaturmensch kritisiert er Ent- scheinungen, Methoden, Verfahren, Planungsgrundsätze, nicht jedoch das System selbst, dem sie alle ent- springen.

Für Gesundheit,

was „übrig geblieben" ist

Es ist bekannt,

• daß bei der Zuteilung der Mittel für das Gesundheitswesen in der UdSSR der Grundsatz der Rest- planung angewendet wird, was be- deutet: der Medizin wird lediglich das zugewiesen, was nach Befriedi- gung der anderen, für den Staat vor- rangigen Bereiche noch übriggeblie- ben ist;

• daß sich im Gesundheitswe- sen wie in jedem Wirtschaftszweig der Sowjetunion stets das Jagen nach quantitativen Erfolgsziffern auf Ko- sten der Qualität der Arbeit durch- setzt;

• daß alle Mängel und insbe- sondere deren Ursachen vor der Be- völkerung verheimlicht werden;

• daß die Verantwortlichen im Gesundheitswesen nie Selbständig- keit genossen haben und die Mög- lichkeiten der medizinischen Ein- richtungen stets von den lokalen Be- hörden und Plan-/Finanzorganen ab- hängig gewesen sind.

All dies berühren die Chefs der sowjetischen Medizin in Gesprächen mit Pressevertretern auch, wobei sie allerdings die Schuld an allem — ohne A-1984 (24) Dt. Ärztebl. 86, Heft 27, 6. Juli 1989

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das geringste Risiko, damit jeman- dem zu nahe zu treten - „vielen Sow- jet- und Wirtschaftsfunktionären" zu- schieben, die angeblich das staat- liche Prophylaxe-Komplexprogramm außer acht gelassen hätten. An die- sem Programm sind mehr als 70 Mi- nisterien und Amtsstellen beteiligt.

Schuldig sind somit alle, das heißt - niemand ist schuldig. Tschasow klagt aber doch vor allem sein armes Ge- sundheitsministerium an, das von kärglichen Brosamen aus dem Staatshaushalt lebt.

Der Minister selber moniert zwar: „Wir gehen weiterhin nicht vom Leben aus, sondern von Papie- ren"; und vom Budget erwarte er nicht mehr als 3,9 Prozent Zuteilun- gen; aber erstaunlich optimistisch meint er doch: die Aufrufe von Gor- batschows „Perestrojka"-Politbüro, es gelte, das Niveau der medizini- schen Versorgung der Sowjetbevöl- kerung zu erhöhen - diese Aufrufe würden es dem Gesundheitswesen der UdSSR nicht nur gestatten, die hier gesetzten Ziele zu erreichen, sondern darüber hinaus „erneut den führenden Platz in der Welt einzu- nehmen". - Erinnert sich jemand, wann die UdSSR diesen Platz inne- hatte? Ich nicht.

Die medizinische

„Perestrojka" .. .

Als Generallinie der medizini- schen „Perestrojka", der Umgestal- tung, wählte die Partei für das sowje- tische Gesundheitswesen die „Effi- zienzsteigerung der Prophylaxe".

Konkret soll das so aussehen:

O Abänderung der Planungs- und Finanzierungsgrundsätze im Ge- sundheitswesen. Revolutionär an dieser Abänderung soll „der Über- gang von extensiven zu intensiven Tendenzen" sein.

O Einführung einer Pro-Kopf- Finanzrechnung und das Bestreben, bis zum Jahr 2000 acht Prozent des Nationaleinkommens für das Ge- sundheitswesen zu erhalten (so drückte sich Minister Tschasow aus!).

O Zuweisung eines bedeuten- den Teiles der medizinischen Aufga- ben an die Polikliniken und Ambula-

Zweimal Dr. Anatolij Korjagin, Verfas- ser des Berichts auf diesen Seiten. Das Bild links entstand 1979, vor seiner sechsjährigen Haftzeit; das Foto rechts wur- de unlängst in der Schweiz aufgenommen

Fotos: IGFM, Frankfurt/Main;

privat

torien. Es wird ein hier neuer Ein- richtungstyp geschaffen - das Dia- gnosezentrum. In den Krankenhäu- sern werden Diagnostik und Be- handlung nur noch in sehr kompli- zierten Fällen durchgeführt werden.

So erfolgt eine „Entlastung des Bet- tenfonds" - also einfach eine Verrin- gerung der Anzahl der Kranken- hausbetten.

O Im Gesundheitsministerium werden eine Abteilung für Prophyla- xe und eine Hauptverwaltung „Erste Hilfe und Notfalldienst" geschaffen.

O Verzicht auf sofortige Ein- und Durchführung der medizini- schen Untersuchung der gesamten Bevölkerung („allgemeine Dispensa- risierung"); diese Maßnahme soll nun bis 1995 verwirklicht werden.

O Schaffung „leistungsfähiger"

Wissenschaftszentren für Pharmako- logie und Biotechnologie sowie eines Immunologiezentrums. Kleine Insti- tute werden geschlossen.

O Die Erhöhung der ärztlichen Qualifikation sieht vor, daß die Ärz- te ihr Diplom nach sieben Studien- jahren dann erhalten, wenn sie nicht

nur die theoretischen Prüfungen, sondern auch eine Praktikumsprü- fung abgelegt haben. Wer diese nicht besteht, erhält lediglich ein Hilfs- arzt-Diplom.

O Einführung der Institution des „Familienarztes" als Schlüsselfi- gur in der Medizin. 80 Prozent der Hochschulabsolventen in Fachmedi- zin sollen zu Familienärzten werden,

die übrigen zu engen Spezialisten.

Die Bewertung der Tätigkeit eines Familienarztes erfolgt anhand der Qualität der Behandlung der ihm je- weils zugeteilten 1800 Personen. Die zeitlichen Begrenzungen für eine Konsultation werden revidiert, und der Arzt kann Patienten im Bedarfs- fall bis zu einer Dauer von zehn Ta- gen krankschreiben. Zur Bestrafung kann einem Arzt auf drei Jahre das Diplom entzogen werden.

O Schülern/Schülerinnen wird gestattet, in Krankenhäusern zu ar- beiten, vorwiegend als Krankenwär- ter/-innen.

O Die Verpflegungsnormen pro Patient und Tag werden von 1,01 Rubel auf 1,50 Rubel angehoben (das ist immer noch weniger als der Satz für die Kriegsinvaliden).

O Künftig soll es mehr Polikli- niken geben, deren Leistungen der Patient selber bezahlen muß, und es wird ein Gesundheitsfonds für frei- willige Zuwendungen zugunsten des Gesundheitswesens geschaffen.

. hat keine großen Erfolgschancen

Keinen Augenblick ist daran zu zweifeln, daß Minister Tschasow und seine Mitarbeiter ehrlich bestrebt sind, die medizinische Versorgung in der Sowjetunion zu verbessern. Wie alle Vorgänger versuchen sie dies aber nicht auf dem Weg einer Ver- Dt. Ärztebl. 86, Heft 27, 6. Juli 1989 (25) A-1985

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besserung der materiellen Ausstat- tung dieses Zweiges zu bewerkstelli- gen (für die der Staat ihnen die Mit- tel nicht gibt), sondern über die im- mer selbe Anvisierung „von maximal wirksamen Nutzungsmöglichkeiten"

dessen, was die Behörden ihnen zu- gestehen, mittels einer Umverteilung des wahrhaft mageren Staatsbudget- Anteils innerhalb des Gesundheits- wesens selber. Bei den stetig wach- senden wirtschaftlichen Schwierig- keiten in der UdSSR darf man sicher sein, daß dieser Anteil ebenso stetig sinken wird, wie sehr die Ärzte auch das Gegenteil zu erwirken bestrebt sind. Man kann ihnen nur Glück und Erfolg wünschen bei ihrem „Anvisie- ren". Die Versuche allerdings, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß diesmal nicht der alte Rock na- mens Gesundheitswesen geflickt, sondern ein neuer geschneidert wer- de, sind lächerlich.

Die Strafpsychiatrie soll

„reingewaschen" werden

Was spezifisch die Psychiatrie anbelangt, hat die „Perestrojka" vor allem den ethischen Aspekt dieses Fachgebiets betroffen. Seit über ei- nem Jahr diskutiert die sowjetische Presse über die plötzlich allen vor Augen getretenen Mißbräuche in der Psychiatrie. Es versteht sich von selbst, daß dieses Thema wegen der unablässigen Kritik an deren politi- schem Mißbrauch aufgekommen ist.

Auf der offiziellen „Perestrojka"- Welle reitend, unternehmen der Ge- heimdienst KGB und führende Psychiater seitdem intensive Versu- che, die sowjetische Strafpsychiatrie reinzuwaschen. Dazu wurde die Kampagne der Kritik an „Mängeln"

des psychiatrischen Dienstes in der UdSSR gestartet, dazu wurde die Mehrzahl der psychiatrischen Polit- Häftlinge freigelassen und eine neue Verordnung über die Behandlung psychisch kranker Personen in Kraft gesetzt.

Bei alledem weigern sich aber Behörden wie Psychiater nicht nur, die offenkundigen Fakten des Miß- brauchs zuzugeben; sie liefern viel- mehr auch weiterhin aus politischen Motiven Andersdenkende in psych-

iatrische Anstalten ein. So wurden im Dezember 1988 Anatolij Iltschen- ko aus der Stadt Nikolajew (für den Versuch, sich von amerikanischen Psychiatern untersuchen zu lassen) und Vitalij Tscherkaschin aus Nowo- sibirsk (ein Aktivist der Vereinigung

„Pamjat"/Gedächtnis) zwangsweise in psychiatrische Kliniken eingelie- fert; einem Dritten, Kostjanoj (Mit- glied der inoffiziellen Gruppe

„Saschtschita"/Verteidigung), gelang die Flucht, als versucht wurde, auch ihn in eine psychiatrische Anstalt zu schaffen. Sergej Kusnezow aus Swerdlowsk (Mitglied der Partei

„Demokratische Union") wurde in eine Klinik eingewiesen — anschei- nend aufgrund eines gerichtspsych- iatrischen Gutachtens.

Die Verordnung über die Be- treuung psychisch Kranker, die seit dem 1. März 1988 in Kraft ist, hat den schon vorher in der Psychiatrie gültigen Amtsweisungen nichts grundsätzlich Neues hinzugefügt...

Ungeachtet all dieser Tatsachen aber haben die sowjetischen Psychia- ter die Wiederaufnahme in den Weltverband für Psychiatrie (WPA) beantragt. Es mutet einen schon selt- sam an, hier im Westen von manchen Kollegen zu hören, man sollte die so- wjetischen Psychiater wieder in den WPA aufnehmen und dann im Rah- men dieser Organisation auf sie als Mitglieder Einfluß nehmen, sie in der guten Richtung „erziehen". Es ist schwerlich denkbar, daß irgend- ein Arzt etwas Analoges bezüglich nazistischer oder japanischer Ver- brecher im weißen Kittel vorschla- gen könnte, oder für südafrikanische und chilenische Ärzte, die an Folte- rungen beteiligt waren. Die sowjeti- schen Verbrecher jedoch scheinen aus unerfindlichen Gründen als

„besser" zu gelten.

Ich selber kann diese Frage nicht beantworten. Aber ich möchte gern, daß die westlichen Ärzte sich darüber Gedanken machen.

Noch kein Anlaß

zu Optimismus gegeben

Abschließend ist festzuhalten, daß sowohl das Niveau der medizini- schen Versorgung in der UdSSR als

auch die medizinischen Verbrechen ein und dieselbe Ursache und Quelle haben: die Willkür des totalitären Regimes. Solange das absolute Machtmonopol in Händen der KPdSU liegt, kann ein gewöhnlicher Bürger in diesem Land nur auf Gna- de seitens der Machthaber hoffen, doch läßt diese sich nicht prognosti- zieren. Heute werden politische Häftlinge aus Straflagern und Ge- fängnissen entlassen — aber morgen?

Was bisher an realen Schritten auf dem Weg zum „Rechtsstaat" unter- nommen wurde, gestattet noch kei- nen optimistischen Blick in die Zu- kunft. Erlassen wurde ein drakoni- sches Gesetz über die Unterdrük- kung von Versammlungen und De- monstrationen, die „inneren Trup- pen" erhielten erweiterte Rechte auf legalisierte Willkür und haben diese in Armenien und Georgien bereits angewandt; legislativ vorgegeben ist die Konzentration der Partei- und Staatsgewalt in ein und derselben Hand, die Ernennung (statt Wahl) der Richter; unterwegs ist ein Gesetz zur Unterdrückung einer freien Pres- se im Lande.

Die Verfolgung der Andersden- kenden und der protestierenden Be- völkerung hat andere Formen ange- nommen, aber ihre Intensität ist ge- wachsen: Festnahmen, Verhaftun- gen, Bußen, Zusammenschlagen (so- gar Morde), Terror am Arbeitsplatz und am Wohnort. All dies verhindert nicht, daß Staats- und Parteichef Mi- chail Gorbatschow propagandisti- sche Dividenden verbucht.

Januar/Mai 1989

(Übersetzung aus dem Russischen:

Hanni Tarsis-Dormann)

Ergänzende Quellen: Zahlreiche Beiträ- ge in der sowjetischen Presse 1988/89; na- mentlich verfolgt und ausgewertet wurden:

Prawda, Moskau (Organ der KPdSU); Iswe- stija, Moskau (Organ der Sowjetregierung);

Medizinskaja Gaseta, Moskau (Arztezei- tung); Trud, Moskau (Gewerkschaftszei- tung); Komsomolskaja Pravda, Moskau (Or- gan des kommunistischen Jugendverbandes)

Anschrift des Verfassers:

Dr. Dr. h. c.

Anatolij Korjagin Am Brunnenbächli 8 CH-8125 Zollikerberg A-1986 (26) Dt. Ärztebl. 86, Heft 27, 6. Juli 1989

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