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Archiv "3. Kongress „Medizin und Gewissen“: Das Gesundheitswesen – eine Branche wie jede andere?" (03.11.2006)

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A2908 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 44⏐⏐3. November 2006

P O L I T I K

U

m die gesetzliche Kranken- versicherung (GKV) steht es nicht zum Besten. Die Kassen sind leer, die Versicherten fühlen sich zu- nehmend als Patienten zweiter Klas- se, ihre Ärzte stehen unter wachsen- dem Sparzwang. Auch die Staatskas- se ist leer. Versprochene Steuerzu- schüsse für die GKV werden zurück- gefahren, Löcher in den anderen So- zialversicherungszweigen auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen ge- stopft. Jetzt sollen Wettbewerb und Privatisierung es richten. Das Schlag- wort vom „Wirtschaftsfaktor Gesund- heitswesen“ macht die Runde.

„Das Gesundheitswesen ent- wickelt sich zu einer x-beliebigen Branche“, warnte Stephan Kolb. „Es wird zum Mittel, durch das Gewinn erzielt werden soll.“ Kolb sprach bei der Eröffnung des Kongresses „Me- dizin und Gewissen – Im Streit zwi- schen Markt und Solidarität“, den die Internationalen Ärzte zur Verhü- tung des Atomkriegs (International Physicians for the Prevention of Nuclear War, IPPNW) vom 20. bis 22. Oktober in Nürnberg veranstal- teten. Es war bereits der dritte Kon- gress dieser Art, der sich Mitorgani- sator Kolb zufolge immer auch mit der eigenen moralischen Korrum- pierbarkeit der Gesundheitsberufe auseinandergesetzt hat. Die Ökono- misierung wirke sich negativ auf die Patientenversorgung aus und bringe die im Gesundheitswesen Tätigen in arge Gewissensnöte.

Paradebeispiel ist in den Augen vieler Kritiker der jüngste Trend zur Privatisierung öffentlich-rechtlicher Kliniken. „Ich halte das für gefähr- lich“, sagte Dr. Ulrich Maly, Ober- bürgermeister der Stadt Nürnberg und Mitglied im Verwaltungsrat des

städtischen Klinikums. „Wir kön- nen nicht alle Lebensverhältnisse ,verbetriebswirtschaftlichen‘. Wir brauchen keinen Shareholder-Value, sondern eine flächendeckende Kran- kenversorgung.“ Den gut 1 000 Kon- gressteilnehmern sprach er damit aus der Seele.

Für politischen Pragmatismus warb dagegen Dr. med. Hermann Schulte- Sasse, Staatssekretär für Gesundheit des Landes Berlin. „Wir können die Privatisierung nicht stoppen, weil der öffentlichen Hand die finan- ziellen Mittel fehlen.“ Der Trend sei nicht wünschenswert, aber un- vermeidbar. Außerdem gebe es kei- ne Hinweise darauf, dass private

Träger Patienten in Deutschland qualitativ schlechter versorgten.

„Allerdings gibt es Studien, die in den USA und Kanada auf Rosinen- pickerei hinweisen“, räumte Schul- te-Sasse ein. Hier müsse sich der Gesetzgeber um Gegensteuerung bemühen.

Doch stimmige Konzepte wollen der Gesundheitspolitik im Augen- blick nicht gelingen. Die aktuelle Gesundheitsreform bleibt die Ant- wort auf die drängendsten Fragen schuldig. „Das ist nicht die Reform, die uns weiterhilft“, kritisierte Prof.

Dr. rer. nat. Gerd Glaeske vom Zen- trum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Die Reformpläne seien we- der geeignet, die Finanzierungspro- bleme der GKV zu lösen, noch struk- turelle Mängel zu beheben.

Die größten Defizite bestehen nach Ansicht von Prof. Dr. rer. pol.

Rolf Rosenbrock vom Wissen- schaftszentrum Berlin für Sozialfor- schung in der Versorgung chronisch Kranker. Ein Problem, das sich an- gesichts der demografischen Ent- wicklung weiter verschärfen werde.

Das Gesundheitswesen sei viel zu sehr auf die Versorgung akuter Er- krankungen ausgerichtet. Präventi- on und Rehabilitation würden eben- so vernachlässigt wie das „Mit- machpotenzial“ der Patienten. Die Vergütungsformen – DRG in den Krankenhäusern und der EBM bei den Vertragsärzten – verhinderten zudem „ein intrinsisches Interesse an der optimalen Versorgung chro- nisch Kranker“. Will heißen: Allzu Kranke rechnen sich nicht und sind daher schlecht fürs Geschäft.

Um das Einnahmenproblem der gesetzlichen Krankenkassen zu lö- sen, waren Union und SPD vor der 3. KONGRESS „MEDIZIN UND GEWISSEN“

Das Gesundheitswesen – eine Branche wie jede andere?

Die zunehmende Profitorientierung im Gesundheitswesen birgt Gefahren für die Patientenversor- gung und kann die dort Beschäftigten in arge Gewissenskonflikte stürzen. Solidarität und Fürsorge drohen auf der Strecke zu bleiben.

KEIN MÄRCHEN

Wahre Geschichten über die Ware Gesundheit

„Machen Sie halt nächstes Jahr weniger Epilepsien und MS und dafür 100 Schlaganfälle mehr.“ Dieser Satz ent- stammt der Planungssitzung eines Krankenhauses mit der

Controlling-Abteilung.

Wie wirtschaftliche Aspekte zunehmend me- dizinische und pflegeri- sche Belange überlagern und die Betroffenen in Nöte und Konflikte stür- zen, schildern seit März Patienten, Ärzte und an- dere Beschäftigte des Gesundheitswesens auf der Internetseite www.kein-einziges-maer chen.de. IPPNW unter- stützt das Projekt junger Krankenhausärzte. Eine erste Sammlung von Berichten liegt inzwischen in Buchform vor. Stephan Kolb, Caroline Wolf (Hrsg.), Kein einziges Märchen – Leidfaden Gesund- heitswesen, Frankfurt am Main, Mabuse Verlag, 2006.

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 44⏐⏐3. November 2006 A2909

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Wahl im vergangenen Jahr mit zwei Modellen angetreten: der Bürgerver- sicherung, die nach Meinung von Rosenbrock, der auch Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutach- tung der Entwicklung im Gesund- heitswesen ist, das bestehende Sys- tem weiterentwickelt, und der Kopf- pauschale, die einen Systemwechsel bedeute. Seine Sympathien gelten der Bürgerversicherung. Die Kopf- pauschale werde die Umverteilung von unten nach oben nur weiter ver- schärfen. Die jetzige Einigung auf den Gesundheitsfonds dient nach Ansicht des Wissenschaftlers ledig- lich der logistischen Vorbereitung, um in der nächsten Legislaturperiode entweder das eine oder das andere Modell realisieren zu können.

Dass das Reformprojekt 2006 noch verschoben werden könnte, daran glaubt Rosenbrock nicht.

„Die Koalition steht unter Zug- zwang und wird auch irgendetwas beschließen.“ Scharf kritisierte er in diesem Zusammenhang die von der Regierung geplante Zusatzprämie.

Kommen die Krankenkassen mit den Mitteln, die ihnen über den Ge- sundheitsfonds zufließen, nicht aus, müssen sie Zusatzbeiträge von ihren Mitgliedern erheben. Härte- fallregelungen greifen erst ab einem Zusatzbeitrag in Höhe von mehr als acht Euro pro Monat. „Das ist ein Ausstieg aus der Solidarität“, warn- te Rosenbrock. Die Prämie komme einer Lohnkürzung gleich, die vor allem die unteren Schichten treffe.

Ebenso heftig lehnte er die geplan- ten Strafen für diejenigen Patienten ab, die sich nicht regelmäßig be- stimmten Früherkennungsuntersu- chungen unterzogen haben. Sie sol- len im Falle einer Erkrankung höhe- re Zuzahlungen leisten. „Das ist der Einstieg in das Verschuldensprinzip in der GKV“, sagte Rosenbrock.

„Das ist keine evidenzbasierte Ge- sundheitspolitik. Das ist Zeitgeist.“

Welche Zukunft hat das Solidar- prinzip in der GKV? „Es ist zwar an- gegriffen, aber es ist noch da“, sag- te der Bremer Arzneimittelexperte Glaeske. „Eine stabile GKV ist eine starke Kraft für den sozialen Frie- den.“ Die Bevölkerung scheint ihm recht zu geben. 77 Prozent unterstüt- zen nach einer Umfrage des Gesund-

heitsmonitors 2006 die Prinzipien der solidarischen Krankenversiche- rung. Nur 1,7 Prozent der Befragten halten mehr Wahlmöglichkeiten für das wichtigste Ziel einer Gesund- heitsreform, wie eine Studie des In- stituts für Gesellschafts- und Sozial- forschung ermittelte.

Als erheblich demokratiefördernd bezeichnet der Berliner Rosenbrock die GKV. Sie sichere für alle Men- schen ohne Ansehen der Person den Zugang zu Gesundheitsleistungen.

„Es ist eine zivilisatorische Errun- genschaft, dass das Geld bei der In- anspruchnahme medizinischer Leis- tungen keine Rolle spielt.“ Das Sachleistungsprinzip garantiere eine Versorgung ohne ökonomische und soziale Diskriminierung. „Das Kon- zept wurde allerdings angenagt durch die Einführung der Individu- ellen Gesundheitsleistungen (IGeL) und durchbrochen durch die Praxis- gebühr“, so Rosenbrock.

„Was wir dem Markt übergeben, wird zur Ware“, warnte Klaus Zok vom Wissenschaftlichen Institut der AOK mit Bezug auf IGeL. Dabei zeigt der Trend Richtung Auswei- tung. Eine Befragung von 3 000 Ver- sicherten und 891 Patienten, die IGel in Anspruch genommen hatten, ergab, dass im Jahr 2005 in den Praxen 23,1 Prozent der Patienten IGeL angebo- ten wurden – gegenüber 16 Prozent im Vorjahr. „Es wurden hochgerech- net 16 Millionen Leistungen im Wert von circa einer Milliarde Euro ver- kauft“, sagte Zok. Gynäkologen, Augenärzte und praktische Ärzte führten dabei das Feld an. Das Di- lemma formulierte ein Teilnehmer:

„Die Ärzte sind auf dem Weg in den Wellness-Bereich. Die Frage ist:

Wollen sie dorthin? Dann sind sie Händler und freuen sich über jede Leistung, die nicht mehr Bestandteil des GKV-Leistungskataloges ist.“I Heike Korzilius

DÄ: Sie kommen aus der Friedensbewegung und sind mit diesem Kongress in der deutschen Gesundheitspolitik gelandet. Welche gesund- heitspolitischen Fragen stehen für Sie im Vorder- grund, und wie wollen Sie an einer Lösung mitwirken?

Kolb:Wir haben 8 000 Mitglie- der, und in der letzten Mitglie- derversammlung gab es eine intensive Debatte darüber, ob wir uns überhaupt mit gesund- heitspolitischen Fragen be- schäftigen sollen. Eine knappe Mehrheit stimmte dafür. Unser Ziel ist vor allem zu hinterfra- gen, inwieweit sich unser Ge- sundheitssystem durch Ökono- misierung und Kommerzialisie- rung verändert. Der Zusatz in unserem Namen lautet „Ärzte in sozialer Verantwortung“. Vor diesem Hintergrund fragen wir nach einem System, das einen gerechten Zugang zu Gesund-

heitsleistungen schafft und diese auch den vulnerablen Gruppen in unserer Gesell- schaft anbietet. Dabei sollen die standespolitische Sicht, die eigenen nachvollziehba- ren Interessen ganz zurücktre- ten. Wir wollen uns auch wis- schaftlich mit diesen Fragen beschäftigen.

DÄ: Das Ziel der Verhütung des Atomkriegs, das der IPPNW den Namen gab, spielt seit dem Ende des Kalten Krieges im öffentlichen Bewusstsein kaum noch eine Rolle. Wie hat sich das auf Ihr Selbst- verständnis ausgewirkt?

Kolb:Wir haben uns trotzdem kontinuierlich mit dem Thema befasst – es ist ja zurzeit mit Nordkorea und dem Iran auch wieder sehr aktuell. Wir haben als klassische Nicht-Regie- rungsorganisation in dem Be- reich wissenschaftlich gearbei-

tet, haben dazu publiziert und versucht, Öffentlichkeit und po- litische Entscheidungsträger differenziert über die Gefahren des Atomkriegs zu informie- ren.Daneben haben wir eine Reihe anderer inhaltlicher Schwerpunkte entwickelt. Dazu gehören die Gefahren der zivi- len Nutzung der Atomenergie, aber auch die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen oder die gesundheitlichen Fol- gen der Globalisierung.

DÄ: Unter welcher Überschrift wird der nächste Kongress

„Medizin und Gewissen“

stehen?

Kolb:„Gesundheit als Men- schenrecht“ könnte ich mir als Motto vorstellen. Darunter könn- te man viele Themen fassen, die sowohl in Deutschland als auch International relevant sind.

3 FRAGEN AN…

Stephan Kolb, IPPNW-Mitglied und Mitorganisator des Kongresses „Medizin und Gewissen“

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