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roßbritanniens neuberufene Ge- sundheitsministerin Patricia Hew- itt hat sich bereits wenige Tage nach ihrer Amtseinführung bei den britischen Ärzten unbeliebt gemacht.Grund: Die 51-jährige Politikerin will die Rolle privater Lei-
stungsanbieter im staat- lichen Gesundheits- dienst (National Health Service, NHS) weiter stärken.
Hewitt, die nach den jüngsten Unterhaus- wahlen Gesundheitsmi- nister John Reid ablöste, kündigte an, die von Premierminister Tony Blair 1997 begonnenen NHS-Reformen „unbe- irrt weiterführen“ zu wollen. Blair hatte An- fang Mai zum dritten Mal in Folge die Unter- hauswahlen gewonnen.
Die Ministerin erklärte, innerhalb der nächsten fünf Jahre würden „rund 1,7 Millionen Operationen“, die eigentlich in staatlichen Krankenhäusern hätten ausgeführt werden sollen, von privaten Leistungsanbietern übernommen. Auf diese Weise sollen die NHS-Wartelisten verkürzt werden. Hewitt argumentierte, der Staatssektor sei nicht in der Lage, die notwendigen Kapazitäten bereitzustel- len, um Patienten rasch zu operieren.
Derzeit warten mehr als 700 000 NHS- Patienten auf eine Operation bezie- hungsweise auf eine fachärztliche Kon- sultation. Wichtigstes gesundheitspoliti- sches Ziel sei es, so die Ministerin, dass von 2008 an kein Patient länger als 18 Wochen auf eine Operation warten müs- se. Das Gesundheitsministerium werde
in den kommenden fünf Jahren drei Mil- liarden Pfund (4,8 Milliarden Euro) zu- sätzlich bereitstellen, um für die privaten Operationen zu bezahlen. Dabei handelt es sich vor allem um Routineeingriffe wie Hüftgelenksoperationen. Hier setzt die Kritik der Ärzteschaft an. Der britische Ärzte- verband (British Medical Association, BMA) be- fürchtet, dass sich private Klinikbetreiber die relativ leicht durchzuführenden Operationen aussuchen.
Der NHS werde dann für die komplizierten und mit einem höheren Kompli- kationsrisiko behafteten Operationen zuständig sein, so eine BMA-Spre- cherin. „Das ist ungerecht und wird nur dazu führen, dass sich die NHS-Behand- lungsstatistiken weiter ver- schlechtern.“ Die BMA verlangt von der Gesundheitsministerin
„ein klares Bekenntnis zum Prinzip staatlicher Gesundheitsfürsorge“.
BMA und andere Berufsverbände kündigten an, die Erfolge der Refor- men an drei Eckpunkten zu messen: 1.
an der Länge der NHS-Wartelisten, 2.
am Umfang der zusätzlich in den NHS fließenden staatlichen Gelder, 3. an der Reduzierung der Gesundheitsbürokra- tie und dem Fallenlassen von zu ehrgei- zigen Zielen der Patientenversorgung.
Große Versprechungen
Insbesondere Letzteres ist den briti- schen Ärzten wichtig. Als die Labour Party 1997 die Unterhauswahl gewann,
war Premierminister Blair mit großen Versprechungen angetreten. Die War- telisten sollten innerhalb von drei Jah- ren „drastisch abgebaut“ werden. Pati- enten sollten bei der Wahl des Kranken- hauses und des Facharztes mehr Mit- spracherechte erhalten. Das Gesund- heitsministerium setzte den lokalen Ge- sundheitsverwaltungen strenge Ziele.
So sollten beispielsweise Patienten in der Notaufnahme „maximal vier Stun- den warten“ dürfen. Inzwischen gibt es mehr als 100 Health Targets, also poli- tisch definierte Gesundheitsziele.
Die Ärzteschaft hat diese Ziele im- mer wieder kritisiert, weil sie zu un- flexibel sind und den fachärztlichen Entscheidungsspielraum einschränken.
Welch gefährliche Blüten die „Stati- stikwut“ (Times) treibt, zeigt das Bei- spiel großer Londoner Krankenhäuser.
Auf den Unfallstationen werden häufig nicht diejenigen Patienten zuerst be- handelt, bei denen dies medizinisch in- diziert wäre. Stattdessen haben die Kli- nikverwaltungen die Stationsärzte an- gewiesen, stets die Patienten zu versor- gen, die seit fast vier Stunden warten. So soll verhindert werden, dass die Warte- zeitstatistik negativ ausfällt.
Geld versickert in Verwaltung
Problem Finanzierung: Unter Labour stiegen die Ausgaben für Gesundheit um zweistellige Milliardenbeträge. Al- lerdings weisen Ärzte darauf hin, dass ein Großteil des Geldes in der NHS- Verwaltung versickere. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums stieg die Zahl der Krankenschwestern und -pfle- ger im NHS seit 2003 um drei Prozent, die der Krankenhausmanager dagegen um 6,5 Prozent. Unmittelbar nach sei- nem Wahlsieg versprach Blair Abhilfe:
In den nächsten Jahren sollen weniger Verwaltungskräfte und mehr Ärzte und Pflegepersonal eingestellt werden. Al- lein die Zahl der NHS-Primärärzte soll um „mindestens 2 000“ steigen.
Immerhin erhält die bisherige Ge- sundheitspolitik der Regierung Blair von den Patienten überwiegend gute Noten. 76 Prozent von 1 015 Befragten sagen, der NHS biete eine gute bezie- hungsweise sehr gute medizinische Ver-
sorgung an. Kurt Thomas
P O L I T I K
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A1490 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 2127. Mai 2005
Großbritannien nach der Wahl
Unmut über Kurs in der Gesundheitspolitik
Gesundheitsministerin Patricia Hewitt setzt auf private
Angebote, um die Wartelisten im staatlichen Gesundheitsdienst abzubauen und zieht sich damit den Zorn der Ärzte zu.
Patricia Hewitt will die von Premierminister Blair begon- nenen Reformen fortsetzen.
Foto:dpa