Mehr Vertrauen
Zu dem Beitrag „Statt Programm- Medizin: Mehr Vertrauen in die ärzt- liche Urteilskraft“ von Prof. Dr. med.
Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe in Heft 14/2005:
Kinder ihrer Zeit
Die Medizin und der Medizi- ner waren schon immer auch Kinder ihrer Zeit. Mit den Er- folgen der angewandten Natur-
wissenschaft nahm der Einfluss des rechnerisch-messenden Denkens in der Medizin ent- sprechend zu. Heute dominiert er die Schulmedizin. Erfreulich ist es, dass der Präsident der deutschen Ärzteschaft eine kri- tische Rückbesinnung auf den ursprünglichen Kern medizini- scher Praxis unternimmt. Er stellt deutlich heraus, dass der Kern aller ärztlichen Tätigkeit der Mensch als Individuum ist, zwar mit allen seinen Bezügen
nach außen, aber diese Bezüge besitzen nur eine ärztliche Re- levanz im Hinblick auf das menschliche Individuum selbst.
Allgemeine Aspekte, wie „der Mensch an sich, die Gesell- schaft, der Staat usw.“, haben nur reflexiv auf das Individuum bezogen für den Arzt eine Be- deutung. Aus diesem Grund ist die freie Berufsausübung für die an der Würde des Men- schen orientierte ärztliche Tätigkeit eine Conditio sine qua non. Weil die Begründung einer ärztlichen Handlung nie ausschließlich allgemeiner Na- tur sein darf, sondern sich im- mer auch am konkreten Men- schen festmachen muss, finden wir auch heute noch bei vielen ärztlichen Kollegen ein latentes Misstrauen gegenüber Tätig- keiten unter einem behördli- chen Diktat (Polizeiarzt, Ge- fängnisarzt, Kassenarzt?). Die- ses entspricht eben ganz und
gar nicht dem ärztlichen Ideal, gleichwohl deren „Notwendig- keiten“ oft respektiert werden.
Der kranke Mensch sollte eben einen Anspruch auf einen un- abhängigen und freien Arzt ha- ben. Neben den äußeren Ver- waltungs- und Politzwängen bestehen auch innere Gedan- kenzwänge und Einengungen ärztlichen Denkens. Hierhin gehören auch der von Prof.
Hoppe angedeutete Evidenz- und Evaluationswahn. Man sollte sich im Klaren darüber sein, dass die wertvollsten ärzt- lichen Leistungen nicht unbe- dingt naturwissenschaftlich messbar sind. Den Menschen zu erklären ist Aufgabe der Na- turwissenschaft, den Menschen verstehen kann sie nicht, das ist jedoch die zusätzlich bleibende Aufgabe des Arztes.
Dr. med. J.-F. Peulen, Am Mühlentor 28–30, 41179 Mönchengladbach B R I E F E
Leserzuschriften werden von der Redaktion sehr beachtet. Sie geben in erster Linie die Meinung des Briefschreibers wieder und nicht die der Redaktion. Die Veröffentlichungsmöglichkeiten sind leider beschränkt; der Redaktion bleibt oft keine andere Wahl, als unter der Vielzahl der Zuschriften eine Auswahl zu treffen. Die Chance, ins Heft zu kommen, ist umso größer, je kürzer der Brief ist. Die Redaktion muss sich zudem eine – selbst- verständlich sinnwahrende – Kürzung vorbehalten.
LESERZUSCHRIFTEN
Entmenschlichung
Wegen dieses Artikels über die ärztliche Urteilskraft bin ich Herrn Professor Dr. med.
Hoppe sehr dankbar. Diesem Artikel ist nichts hinzuzufü- gen. Wenn die Ärzte ihre be- ruflichen und zwischen- menschlichen Erfahrungen ei- ner reinen naturwissenschaft- lichen Medizin opfern, die natürlich ebenso ihren Stellen- wert hat, unterliegen sie dem allgemeinen Trend der Ent- menschlichung und des Werte- verfalls unserer Gesellschaft.
Warum werden denn immer noch gerne ältere Ärzte von den Patienten aufgesucht?
Warum ist der Arztberuf einer der wenigen, bei denen über 40-Jährige eingestellt werden?
Wohl, weil das reine naturwis- senschaftliche Wissen nicht das einzige Kriterium für den behandelnden Arzt ist.
Daniel Kaufmann,Am Schubstein 19, 35091 Cölbe
Wie eine Befreiung
Der Appell von Prof. Hoppe zu mehr Eigenverantwortung wirkt wie eine Befreiung in ei- ner zunehmend rationierten, budgetierten und evidenzba- sierten Medizin. Natürlich ist die Medizin keine Naturwis- senschaft, und natürlich han- delt auch jeder Arzt im Einzel- fall nicht leitliniengetreu – zum Glück; es redet aber kei- ner darüber, weil er als „Nest- beschmutzer“ angesehen wer- den könnte. In dem Beitrag wird sehr präzise aufgezeigt, wo die EbM und die Leitlinien ihren Platz haben, und wo sie an ihre Grenzen kommen.
Dass Willkür und Ignoranz ge- genüber neuen Erkenntnissen durch diese Maßnahmen (EbM, Leitlinien und DMP) reduziert werden, ist sicherlich unbenommen, verhindern las- sen sie sich allerdings auch da- durch nicht. Nur darf das Ab- weichen von den Leitlinien, die natürlich auch immer nur der kleinste gemeinsame Nen- ner einer Expertengruppe sind, nicht automatisch als Ig- noranz oder Kunstfehler ange- sehen werden. Der Mut, indi-
viduelle Lösungen mit und für den Patienten zu finden, muss erhalten bleiben und darf nicht aus Angst vor forensi- schen Konsequenzen oder durch fachärztliche Regulie- rung unterbunden werden.
Man würde dem Patienten nicht gerecht. Gerade in der Allgemeinmedizin hat man es häufig mit dem Problem zu tun, dass eine evidenzbasierte Medizin im Einzelfall nicht mit den Möglichkeiten eines Patienten zu vereinbaren ist.
Hier muss ein individueller Zuschnitt erfolgen. Der kommt den Patienten mei- stens viel mehr zugute als ein starrer Therapieplan, der man- gels Compliance nicht umge- setzt wird. Ein weiteres Pro- blem, das viel zu wenig gese- hen wird, ist die unmenschli- che Seite des DRG-Systems.
Es ist unethisch und medizi- nisch unter Umständen schäd- lich, einen Patienten für einen Tag zu entlassen, mit aller Or- ganisation und erheblichem Kostenaufwand, der dahinter steht, um ihn am nächsten Tag unter einer anderen Diagnose wieder aufzunehmen. Die Krankenhäuser werden aber zu einem solchen Verhalten gezwungen, weil sie sonst mit erheblichen Mindereinnah- men rechnen müssen . . . Es ist beruhigend zu sehen, dass es Menschen gibt, die, an expo- nierter Stelle stehend, sich nicht scheuen, den Glauben an die Wunderwirkung derartiger Neuerungen zu erschüttern und an die eigentlichen ärztli- chen Grundsätze erinnern. Ich bin froh, einen solchen Men- schen an der Spitze der Bun- desärztekammer zu wissen.
Dr. med. Daniel Moos, Ender Talstraße 110, 58313 Herdecke
Danke, Herr Kollege Hoppe!
Gott sei Dank, es gibt ihn noch! Einen gewählten Vertre- ter der deutschen Ärzteschaft, der den Blick auf die ureige- nen Aufgaben des Arztes nicht verloren hat. Nun gilt es, auch der Politik und den Kranken- kassen dieses Thema zu ver- deutlichen und den anschwel-
lenden Verwaltungs- und Ho- norierungsdschungel zu ver- hindern. Danke, Herr Kollege Hoppe.
Dr. Ralf Kartzinski,Marienstraße 34, 49733 Haren
Fehlgeburten
Zu der Meldung „Gegen Pflicht zur Bestattung“ in Heft 9/2005:
Nicht anderes als Menschenleben
Warum nur wehrt sich der Prä- sident der Bayerischen Ärzte- kammer gegen die generelle Bestattungspflicht von gestor- benen oder getöteten Embryo- nen und Feten, wenn sie nur wenige Monate alt waren? Die moderne Embryologie und der immer präzisere Ultraschall
zeigen doch, dass es sich um nichts anderes als Menschenle- ben handelt. Nach der Verfas- sung kommt auch dem Unge- borenen Menschenwürde zu, und sicherlich nicht erst dann, wenn er ein Körpergewicht von 500 Gramm erreicht hat. In Ausnahmefällen werden er- wünschte Frühgeborene ab 250 Gramm heute mit aller medizi- nischen Sorgfalt behandelt, während die nicht Überleben- den unter ihnen weiter im Kli- nikmüll verschwinden sollen – ist das rational und ethisch rich- tig beurteilt? Oder soll unsere bisherige (historische) gedan- kenlose Nachlässigkeit im Um- gang mit ihnen dadurch aus- gelöscht werden, dass wir unse- re Gewohnheiten unreflektiert immer weiter praktizieren?
Auf Elternwünsche lässt sich in der Praxis doch ganz indivi- duell eingehen. Nur das uns
verpflichtende Faktum bleibt:
auch der Nasziturus ist Mensch.
Dr. Maria Overdick-Gulden, Markusberg 24 e, 54293 Trier
Betroffene sollen selbst entscheiden
Die diskutierte Pflicht zur Be- stattung lässt außer Acht, dass Menschen verschiedene Wege haben, Leid zu bewältigen.
Uns ist selber nach jahrelanger Kinderlosigkeit das ersehnte Kind in der Schwangerschaft gestorben. Manche mögen die- ses Trauma besser an einem Grab bewältigen, andere nicht.
Diese Erfahrungen sind zu schrecklich, um vordergründi- gen Überlegungen Platz zu bieten. Sie dürfen uns glauben, man denkt auch ohne Grab oft genug an das Geschehene.
Aber unsere Entscheidung hat es uns leichter gemacht, einem später geborenen Kind ein glückliches Umfeld zu bieten.
Dr. R. Z.,Köln
Stichverletzungen
Zu dem Beitrag „Nadelstichverlet- zungen: Der bagatellisierte ,Massen- unfall‘“ von Dr. med. Karsten Mülder in Heft 9/2005:
Der Rufer im eigenen Lande
Der Artikel von Dr. Mülder hat mir aus der Seele gespro- chen. Genau die beschriebe- nen „Nachlässigkeiten“ und Wissensdefizite sieht man im Alltag immer wieder. Schade, dass das begleitende Bild so schlecht ausgewählt war. Aus- gerechnet zu dieser Thematik A
A1508 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 2127. Mai 2005
B R I E F E
Foto:dpa