[72] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 22–23|
4. Juni 2012U
nsere Berufung hat viele Zierden, nicht nur die empathische Be- gleitung notleidender Men- schen zurück zum Glück der Gesundheit, nein, auch die Wei - tergabe unseres unschätzbar wertvollen Wissens an hoff- nungsvolle Adepten gehört dazu, genau wie das Skalpell zum Abszess oder der Zeige- finger zur Prostatadiagnostik.Ich habe mich heute einer ganz besonderen Her -
ausforderung der medizinischen Lehre gestellt: Ich versuche, meinen frechen Neffen, die wie so viele andere
Jugendliche durch die moderne Technik in einen selbst verschuldeten Autismus abdriften, die faszinierenden Facetten der medizinischen Welt zu eröffnen.
„Onkel Thomas, was fällt dir ein, wir sind im fünften Level, das geht gar nicht!“ Ruhe! Ich nehme euch jetzt mit in die reale Welt, wir gehen einfach mal in die Stadt, und ich werde euch lehren, was ein geschultes Auge erkennen kann, wenn es einen Blick auf die Men- schen statt auf den Bildschirm wirft! „Ja, wirf du mal, du Blindschleiche.“ Mosernd folgen sie mir nach drau- ßen. Da! Auf der rechten Spur steht ein Fahrzeug, der Fahrer hat regungslos den Kopf gesenkt! Ein kardialer Notfall? Gar eine Subarachnoidalblutung? Wir müssen helfen! „Ach, Onkel Thomas, das ist doch Blödsinn.
Dem sein Navi hat keinen Empfang.“ Wir gehen weiter.
Dort! Ein junger Mann steht zuckend an der Bushalte- stelle, wirft die Arme unkontrolliert um sich. Leidet er an einer Friedreich-Ataxie? Oder liegt eine hypoglyk- ämische Agitiertheit vor? „Nee, nee, Onkel Thomas.
Der hat einen Knopf im Ohr und hört Heavy Metal.“
Guckt mal, da, das junge Mädchen! Ganz regungslos sitzt es dort, in sich gekauert, starrt vor sich hin. Es scheint nichts von seiner Umgebung wahrzunehmen.
Ein ketoazidotisches, gar hepatisches Koma? Ein post - iktaler Dämmerungszustand? „Quatsch, die ruft ihre Simse ab.“ Aber hier! Ein junger Mann läuft gestiku - lierend durch die Straße und beschimpft vorbeikom- mende Patienten. Ein Tourette-Syndrom? „Ach was.
Dem sein Handy hat ’n Bluetooth Headset, der ist am Telefonieren.“
Mir reicht’s, den Neffen auch. „Siehst du, Onkel Thomas, für alle deine Fehldiagnosen gibt es eine tech- nische Lösung!“ Das mag sein. Trotzdem, wenn diese Menschen dem Genuss modernster Technologie frö- nen, warum sehen sie alle so hilfsbedürftig aus?
VON SCHRÄG UNTEN
Lehre
Dr. med. Thomas Böhmeke
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.