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Archiv "Was Blüms Reform fehlt: Kostendämpfung durch Gesundheit" (12.05.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

H. H. Kornhuber

Was Blüms Reform fehlt:

Kostendämpfung durch Gesundheit D

er Referentenentwurf (RE)

des „Gesundheitsreformge- setzes" (39) spart zwar nicht mit Bekenntnissen zur Humanität, aber wenn er so Gesetz wird, ver- schlechtert er die Lage der Kran- ken, besonders die der Schwer- kranken und Alten. Alle Beteilig- ten sind gegen Vergeudung knapper Mittel, aber gegen die Zerstörung von Leben und Ge- sundheit finden sich im RE nur Lippenbekenntnisse. Liest man nach, woher das Bundesarbeits- ministerium die Mehrzahl der po- sitiven Vorschläge wie Qualitäts- kontrolle, Prävention, häusliche Krankenpflege hat (23), so wird klar, daß die dort vorgeschlagene wichtigste und wirksamste Maß- nahme, die überdies alle diese guten Pläne auch finanzierbar ge- macht hätte, nicht aufgegriffen wurde:

or der längst überfälligen

• Einführung des Verursacher- prinzips in das Gesundheitswe- sen scheut der Minister zurück;

statt dessen werden die Mittel für die Kranken rücksichtslos an die Grundlohnsummenentwicklung gebunden - ein Vorhaben, das in der Tat nicht durchführbar ist, schon gar nicht mit Humanität;

denn allein die Zunahme der Al- ten, die häufiger und schwerer krank werden, erfordert mehr Mittel, dazu kommen medizini- sche Fortschritte, Arbeitszeitver- kürzung, AIDS usw. Die zuneh- menden Alten tragen nichts zur Grundlohnsumme bei, aber sie müssen versorgt werden, und zwar viel mehr als die Lohn- und Gehaltsempfänger. Geplant ist im Ergebnis trotz gegenteiliger Be- teuerung die Entsolidarisierung,

die Minderversorgung jener Al- ten, die die Krankenkassenbeiträ- ge gezahlt haben, als die heutigen Politiker Kinder waren.

TE

uch aus ökonomischer Sicht Mo ist der RE töricht, so daß man sich über den Beifall der Wirtschaftsverbände nur wun- dern kann. Denn wir leben be- kanntlich wie alle fortgeschritte- nen Zivilisationen mit einer Dienstleistungsgesellschaft, de- ren Grundtendenz seit über 100 Jahren der relative Anstieg der Ausgaben für personalintensive Dienstleistungen an der Brutto- wertschöpfung wie an der Be- schäftigung ist. Daß Minister Blüm meint, diese gesetzmäßige Ent- wicklung gerade in dem Bereich beenden zu können, der am we- nigsten der maschinellen Rationa- lisierung zugänglich ist und des- halb auch in Ländern mit freierer Marktwirtschaft wie den Verei- nigten Staaten von Amerika die gleiche Dynamik zeigt wie bei uns, läßt mehr Eifer als Einsicht erkennen. Da er wirksame Maß- nahmen gegen Vergeudung ge- rade dort ausschließt, wo sie am nötigsten und humansten wären, sind schlimme Folgen für die Pa- tienten programmiert. Es werden Tausende von Arbeitsplätzen ver- nichtet, vor allem von Kranken- schwestern, die ohnehin schon überlastet sind.

W

ie man dem Gesundheits- wesen die notwendigen Mittel zuführt, ohne die Lohnne- benkosten zu steigern, ja auf eine Weise, die der Wirtschaft nützt und uns leistungsfähiger macht, dieses scheinbare Wunder wird im folgenden erklärt.

Vermeidbare Folgekosten von Alkohol und Zigaretten

Hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs des Zigarettenrau- chens mit Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Raucherbein, chroni- scher Bronchitis, Schädigung von Kindern im Mutterleib usw. herrscht jetzt Übereinstimmung. Für Tabak- waren werden z. Zt. in der Bundes- republik Deutschland jährlich etwa 26 Milliarden DM ausgegeben. Die Folgekosten des Zigarettenrauchens wurden von der Bundesregierung schon 1974 auf über 20 Milliarden DM in der Bundesrepublik Deutsch- land geschätzt (4); heute betragen sie etwa 35 Milliarden DM. Der Zi- garettenkonsum pro Kopf unserer Bevölkerung ist von etwa 500 Stück in 1950 auf rund 2000 Stück ange- stiegen, und seit der falschen

„Emanzipation" leiden bereits die ungeborenen Kinder unter dem Rauchen.

Was unserer Bevölkerung aber bisher zu wenig bewußt ist, sind die noch größeren Schäden infolge des überhöhten Alkoholkonsums, wo- von der größte Teil nicht auf den Hochdosis-Alkoholismus (etwa 3 v. H. der Bevölkerung), sondern auf den „normalen" Alkoholkonsum (24) entfällt, unter dem gewöhnlich ein täglicher Konsum verstanden wird, der nicht zu Trunkenheit führt (ein Problem von mehr als 90 v. H.

der Männer und zunehmend auch der Frauen, die nur ein Drittel der Männer-Dosis vertragen).

Eine kardioprotektive Wirkung

„normaler" Alkoholdosen ist Wunschdenken; es beruht darauf,

daß in einer Gesellschaft von Nied- rigdosisabhängigen sich nur jene zur völligen Abstinenz entschließen, die Ärztebi. 85, Heft 19, 12. Mai 1988 (29) A-1347 Dt.

(2)

bereits einen ernsten Gesundheits- schaden und infolgedessen eine er- höhte Mortalität haben (36). Die HDL-Erhöhung durch Alkohol be- trifft nur das biologisch inaktive HDL:J (12, 13) und hat nicht jene kardioprotektive Wirkung wie ein aus genetischen Gründen hohes HDL etwa bei vielen Frauen vor dem Klimakterium. In der Tat bes- sert sich das LDL/HDL-Verhältnis nach Beendigung des , ,normalen'' Alkoholkonsums (2).

Alkohol ist die Hauptursache der meisten Fälle von , ,essentieller'' Hypertonie (21, 25, 26, 37), Überge- wicht (27) sowie Prädiabetes und Typ II Diabetes beim Mann (27, 34), von bestimmten Formen der Hyper- lipidämie, Schlaganfall bei Männern

(26, 28) und vor allem von Unfällen

(22) ~.owie eine wichtige Mitursache von Osophagus-, Darm- und Brust- krebs (24, 46).

Wir haben in der Bundesrepu- blik Deutschland über 100 Milliar- den DM Unfallfolgekosten jährlich, wovon bei zurückhaltender Schät- zung 30 Milliarden Folgen von Alko- hol-Unfällen sind (22). Weiter ha- ben wir mindestens 20 Milliarden DM andere Alkehol-Folgekosten- eine Summe, in der die hohen be- triebswirtschaftlichen Schäden noch nicht enthalten sind.

~ Zusammen mit den Ausga- ben für alkoholische Getränke ( 45 Milliarden) und den Kosten und Fol- gekosten der Zigaretten kommt man auf 156 Milliarden, worin 43 Milliar- den an Zigaretten-, Alkohol- und Biersteuern enthalten sind, so daß die reinen Kosten und Folgekosten von Alkohol und Zigaretten in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit jährlich mindestens 113 Milliar- den betragen. Zum Vergleich: Die Kosten des Waldsterbens, gemessen am Holzpreis, sind 0,5-{),7 Milliar- den DM.

Handwerk und Industrie blicken auf die Lohnnebenkosten, vergessen dabei aber, daß es sich großenteils um vermeidbare Folgen von Alko- hol und Zigaretten handelt. Die Häufigkeit von Herzinfarkt als To- desursache hat sich bei uns in den zwei Jahrzehnten nach 1950 verdop- pelt, jeder zweite stirbt an Kreislauf- krankheiten ( 44); auch vorzeitige

Berentungen gehen in der Hälfte der Fälle auf Kreislaufkrankheiten zu- rück; Hauptursachen: Alkohol und Zigaretten. Dies gilt auch für den Krebs und die Leberzirrhose, die die nächsten Plätze in der Todesursa- chenstatistik belegen. Unter den Ur- sachen verlorener Lebensjahre ste- hen die Unfälle an erster Stelle, weil Unfallverletzte großenteils junge Leute sind. Bei einer Untersuchung von Berufsunfällen im Hamburger Hafen fand sich in 9 von 10 Fällen ein Blutalkohol über 1 Promille (38). Die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verkehrsunfalls bei 1 Pro- mille Blutalkohol ist 7fach erhöht, bei 2 Promille bereits hundertfach.

Nach Untersuchungen in den USA ist bei nicht tödlichen Unfällen in je- dem dritten Fall, bei tödlichen in je- dem zweiten Alkohol die Hauptursa- che (5, 32, 35). Die amerikanischen Daten wurden für Westdeutschland, wo der Pro-Kopf-Konsum deutlich höher ist als in den USA, vom ADAC Saar bestätigt (1).

Pro 300 Lebend- geborene ein Fall von Alkohol- embryopathie

t>

Bei Politikern herrscht viel-

fach die irrige Vorstellung, daß diese enormen Schäden, die unsägliches Leid (auch bei den Angehörigen) einschließen, naturgegeben und un- abänderlich seien. Tatsächlich ha- ben wir Deutschen aber ein Jahr nach der Währungsreform (als wir also bereits nicht schlecht lebten) nur ein Viertel des Pro-Kopf-Kon- sums an Alkohol und Zigaretten ge- habt wie heute. Auch im internatio- nalen Vergleich ist unser Konsum an Alkohol fast doppelt so hoch wie der der Engländer und etwa dreimal so hoch wie der der Norweger (16).

Seit 1968 trinken auch die Jugendli- chen und die Frauen; deshalb haben wir heute doppelt so viel Alkoholembryopathie wie Mongo- lismus (vor Einführung der pränata- len Diagnostik).

Dazu ist zu bemerken, daß Mongolismus früher das häufigste angeborene Leiden bei Neugebore- A-1348 (30) Dt. Ärztebl. 85, Heft 19, 12. Mai 1988

nen und daß Alkoholembryopathie vor 1968 so selten war, daß sie der Aufmerksamkeit der Wissenschaft weltweit entging; die erste Veröf- fentlichung kam 1968 (30). Ein Fall von Alkoholembryopathie auf 300 Lebendgeborene gegen 1 Fall Down-Syndrom auf 600 Lebendge- borene (3, 33) diese Zahlen machen klar, wo wir heute gesundheitlich stehen. Niemand kann uns einreden, daß dies unabänderlich sei. Wenn wir nur 10 Prozent vernünftiger leb- ten, würden wir 11 Milliarden DM sparen. Warum könnten wir aber hinsichtlich des Alkoholkonsums nicht leben wie die Norweger, die ein reiches Volk sind und keinen schlechten Lebensstil haben?

Der Hauptzeuge jener, die für Einschränkung der Therapie sind, ein Anatom, rät uns, die älteren Menschen nicht mehr zu behandeln, weil ihre Veränderungen irreversi- bel seien. Das ist nachweislich falsch. Es ist nie zu spät, mit dem Zi- garettenrauchen und Alkoholtrin- ken aufzuhören. Viele Patienten set- zen nach gründlich behandeltem Schlaganfall ihre Arbeit erfolgreich fort. Der Maler Lovis Corinth z. B.

ist nach einem Schlaganfall zu einer vorher nicht erreichten Expressivität der Farben und Großzügigkeit der Landschaft gelangt.

Auch diagnostischer Nihilismus ist unbegründet. Ein erheblicher Teil der Schlaganfälle zum Beispiel beruht nicht auf irreversibler Arte- riosklerose, sondern auf Hirnblutun- gen infolge behandelbaren Hoch- drucks, auf anders zu behandelnden Embolien oder auf wieder anders er- folgreich therapierbarer Arteriitis (15).

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In der Gesellschaft von mor-

gen wird die Erfahrung und damit das Alter noch wichtiger. Es wird immer mehr Menschen geben, die wie Leonardo oder Adenauer wich- tige Werke im Alter vollbringen.

Was uns Blüms Reform bringt, kann man schon heute in Schweden stu- dieren: Unterversorgung vor allem im Krankenhaus. Die gleichen Vor- schläge, die heute von jenem deut- schen Anatomen kommen, hören wir auch von dort; der Vatikan hat dazu kommentiert: "unfaßbar und unmenschlich" (11).

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(3)

Die Ursachen der Aufblähung des destruktiven Konsums

..,.. Die Hauptursache unseres unheilvollen Zustandes sind falsch gesetzte Rahmenbedingungen, die den destruktiven Konsum von Alko- hol und Zigaretten fördern, hinge- gen den konstruktiven Konsum, z. B. für das Aufziehen von Kin- dern, vernachlässigen.

Der Grundvorgang seit der Währungsreform 1949, der zu der starken Zunahme der "Zivilisations- krankheiten" führte, war nicht eine Zunahme der kalorischen Nahrungs- aufnahme: In der Tat essen und trin- ken die dickeren Männer insgesamt weniger Kalorien als die dünnen (27, 29), sie haben sich, wenn man von den wenigen von Natur Adipösen absieht, lediglich ihre Fettdepot- regelung, die durch nutritive Ther- mogenese erfolgt (17), durch den to- xischen Einfluß der täglichen "nor- malen'' Alkoholdosen geschädigt (25).

Der Grundvorgang seit 1950, besonders seit 1968 bestand in Deutschland aus ärztlicher Sicht in einer gewaltigen Umschichtung vom konstruktiven zum destruktiven Konsum. (22)

..,.. Der Aufblähung des destruk- tiven Konsums haben die Politiker weitgehend tatenlos zugesehen. Sie hätten bei wachsendem Volksein- kommen den Realpreis (gemessen am verfügbaren Einkommen) von Alkohol und Zigaretten mindestens konstant halten, besser sogar stei- gern müssen. Statt dessen ließen sie eine immer weitere Senkung des Re- alpreises dieser frei zugänglichen Drogen zu. Wenn man Mark gleich Mark setzt, hat sich das Pro-Kopf- Einkommen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950 verdreizehn- facht, wogegen der Preis einer Fla- sche Bier nur um 60 Prozent stieg.

Unser Alkohol Nummer Eins kostet heute real also nur etwa 10 Prozent des Preises von 1950. Es ist grotesk, dies nicht zu ändern, statt dessen aber die Krankenversorgung zu ver- schlechtern.

Was in anderen Bereichen von Recht und Wirtschaft längst üblich ist, z. B. bei der Reinhaltung des Wassers: das Verursacherprinzip, wurde von den Politikern auf die Gesundheit seltsamerweise nicht an- gewandt.

Nun könnte man meinen, in ein , , Gesundheitsreform-Gesetz'' ge- hörten keine Paragraphen über Ge- sundheitsabgaben auf Alkohol und Zigaretten, abführbar an die Kran- kenkassen (18, 23), aber die Tatsa- che, daß Blüm die Gesundheitsaus- gaben hart an die Grundlohnsumme bindet, zeigt, daß er keine solche Abgaben will. Dem entspricht, daß es noch keine einzige Umfrage zur Akzeptanz von Gesundheitsabgaben gibt, obwohl doch eine solche Um- frage das erste ist, was ein Politiker macht, wenn er ernsthaft zu denken anfängt. Hat Minister Blüm, der sich gern als mutigen Mann darstellen läßt, Angst vor der Alkohol- und Zi- garettenlobby?

In diesem Zusammenhang ist an den Reemtsma-Prozeß zu erinnern, der ergab, daß die etablierten politi- schen Parteien von diesem Alkohol- und Zigarettenkonzern gegen Spen- denquittungen unversteuerte Mittel in Multimillionenhöhe erhalten ha- ben.

Die SPD allein bekam mehr als sechs Millionen DM, alles in bar (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Februar 1986) (9). Auch die CDU-Sozialausschüsse waren unter den Spendenempfängern wie die Frankfurter Rundschau am 13. Fe- br!:lar 1986 berichtete (10). Der , ,Arztliche Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit'' richtete deshalb im Februar 1986 einen offenen Brief an alle Bundestagsabgeordneten, in dem wohlbegründet dargelegt wur- de, daß die Reemtsma-Manager nicht nur wegen Steuerhinterzie- hung, sondern auch wegen Beste- chung politischer Parteien anzukla- gen seien ( 43).

Vielleicht macht dieser Hinter- grund verständlicher, warum wir Arzte mit Ausreden abgespeist wer- den, wenn wir Maßnahmen zur Ge- sunderhaltung verlangen, zum Bei- spiel, daß Werbung für Zigaretten nicht mehr steuerlich absetzbar sein soll, daß Zigaretten nicht durch Au- A-1350 (32) Dt. Ärztebl. 85, Heft 19, 12. Mai 1988

tomaten Kindern zugänglich ge- macht werden oder daß Bier in Gasthäusern den Jugendlichen nicht marktwidrig billiger als Sprudel an- geboten werden darf.

Warum soll in Deutschland un- möglich sein, was nicht nur im Ruß- land Gorbatschows, sondern auch in einigen EG-Ländern üblich ist: weit höhere Abgaben auf Alkohol und Zigaretten als bei uns?

In der Bundesrepublik Deutsch- land zum Beispiel beträgt die Bier- steuer nur etwa 0,1 DM pro Liter, in England hingegen 0,8 DM, in Däne- mark 1,0 DM und in Irland 2,7 DM pro Liter (6, 33a, 40). Infolge des ge- ringen Preises trinkt bei uns der Mann im Durchschnitt täglich 50-60 g Alkohol. Über 80 v. H. der Män- ner haben folglich eine Fettleber (14) und einen entsprechenden Hy- perinsulinismus (34, 42), der die re- nale Natriumrückresorption steigert (7), die Adrenalinausschüttung er- höht (41), also Bluthochdruck macht (21) und die Arteriosklerose und den Schlaganfall beschleunigt (26, 28, 45). Wir sollten deshalb die Chance der Kostendämpfung ergrei- fen, uns auf das geeinte Europa im Punkt Gesundheitsabgaben vorzu- bereiten.

Plädoyer für das Verursacher- prinzip auch im Gesundheitswesen

C> Die Marktwirtschaftler prei-

sen mit Recht den Markt als ein au- tomatisches Regelsystem, das nicht an Symptomen, sondern an Ursa- chen kuriert: es ändert die Produk- tion. Eine solche automatische Rückkoppelung fehlt aber bisher für die Ursachen der "Zivilisations- krankheiten" und für die Mittel der Krankenkassen.

C> Die Einführung des Verursa-

cherprinzips in das Gesundheitswe- sen würde diese Lücke schließen: je höher der Gesundheitsschaden durch unsere Gewohnheitsdrogen, desto größer die Einkünfte der Kas- sen für die Heilung. Es zeigt die Scheinheiligkeit jener Markt-Adep-

(4)

ten, daß sie im Gesundheitswesen das Verursacherprinzip nicht anwen- den wollen.

Ein weiterer Grund, den Weg der Ursachen-Eindämmung zu wäh- len, ist ein politischer: Der Wähler zahlt schon zu viel Steuern und will nicht noch mehr. Geht das Geld aber an die Krankenkasse, so hat er nichts dagegen, weil er weiß, daß es ihm wieder zugute kommt. (Bisher jedenfalls ist es so; ob es dabei nach Blüms Reform bleibt, wenn die Ver- folgung der Patienten durch die Kas- sen beginnt? Die Kassen haben dies bei ihrer Zustimmung nicht genü- gend bedacht.)

...,. Damit kommen wir zum Kardinalfehler der falsch verstande- nen liberalen Wirtschaftspolitik. Sie hält allen Konsum für gleich gut, ob nun für Zigaretten, für Alkohol oder für Kinderschuhe, denn sie ist der Meinung, daß der Verbraucher selbst am besten weiß, was ihm frommt.

Dies mag wohl sein, wenn es um den Kauf der Schuhe geht, aber es trifft nicht zu, wenn Abhängigkeit ins Spiel kommt. Inhalierendes Zi- garettenrauchen führt durch den ho- hen Nikotinblutspiegel gewöhnlich zu einer schweren Sucht. Auch beim , ,normalen'' täglichen Alkoholkon- sum entsteht eine (Niedrigdosis-) Abhängigkeit ähnlich wie bei Ha- schisch.

Die jungen Leute probieren zu- nächst aus Neugier und auch, um mit den Erwachsenen mitzuhalten, dann aber sind sie plötzlich abhängig und konsumieren deshalb täglich weiter; daß dies ein Genuß sei, ist vielfach widerlegt und wird auch von den Betroffenen selbst nicht mehr behauptet, sobald sie befreit sind.

Entwöhnte Raucher empfinden ihre Befreiung als so wichtig, daß sie sich noch nach Jahren an das Datum der Entwöhnung erinnern.

Hinsichtlich des Alkohols ergab jüngst eine Erhebung an Ulmer Stu- denten, daß jene, die im Selbstver- such vier Wochen ohne Alkohol le- ben, sich glücklicher fühlen als jene, die weiterhin ihrem , ,normalen'' Konsum frönen - die alte Weisheit der Fastenzeit. Alkohol ist etwas für seltene Feste (in mäßiger Dosis), höchstens einmal pro Woche in ge-

ringerMenge (wie die Juden es hal- ten), aber nichts für jeden Tag.

Die Entstehung der Abhängig- keit in der Jugend ist der Grund, warum eine Selbstbeteiligung an Krankheitskosten zwar vielleicht kurzfristig kostendämpfend wirken mag, aber die Leute nicht gesünder macht; denn die .Abhängigkeit be- ginnt in einem Alter, in dem die jun- gen Leute noch keine Verantwor- tung für eine Familie tragen.

Rahmen-

bedingungen, die das wirtschaftende Volk gesund erhalten

Von der Wirtschaft, die hinter den extremen Kostendämpfungsplä- nen steht, aber bishertrotzder enor- men Schäden keinen Sinn für die Notwendigkeit einer Eindämmung des destruktiven Konsums zeigt, wird übersehen, daß es nicht nur hu-

ZITAT

Aufforderung an den

Gesetzgeber

"Zu prüfen ist ... , ob über Steuerzuschläge oder ähnliche Abgaben die Fol- gen gesundheitsschädi- genden Verhaltens zum Beispiel durch Alkohol- und Tabakmißbrauch, mit Zweckbindung für das Ge- sundheitswesen von den Verursachern stärker mit- getragen werden können, um so eine Entlastung der gesetzlichen Krankenver- sicherung und der Ge- samtheit ihrer Beitragszah- ler zu erreichen.''

Dr. Karsten Vilmar, Präsi- dent der Bundesärztekammer, auf dem 90. Deutschen Ärztetag, Karlsruhe, im Mai 1987

maner, sondern auch wirtschaft- licher wäre, durch Verminderung der Zerstörung die Menschen länger gesund zu erhalten.

Schon heute fehlen erfahrene Fachkräfte, in wenigen Jahren wer- den die Leute schon deshalb länger arbeiten müssen, weil infolge man- gelnden Nachwuchses die Renten nicht mehr gezahlt werden können:

die Menschen länger gesund zu er- halten, haben wir auch wirtschaftlich allen Grund. Während ein Arzt sieht, daß konstruktiver Konsum (für das Aufziehen von Kindern, für das Erziehungs- und Ausbildungs- wesen, für das Gesundheitswesen usw.) auch wirtschaftlich günstige Folgen hat, hingegen destruktiver Konsum (zum Beispiel Alkohol, Zi- garetten, Haschisch, Kokain usw.) auch wirtschaftlich destruktiv wirkt, ist dieser Punkt vielen Politikern und Wirtschaftlern offenbar nicht klar.

Im großen Meyer und in derEn- cyclopedia Britannica gibt es gar kei- ne Hinweise auf das Problem, und in der zwanzigbändigen Brockhaus- Encyclopädie findet man unter dem Stichwort Social Costs lediglich:

, ,Kosten im Sinne von Schäden und Verlusten, die von Unternehmen verursacht, jedoch von Dritten oder der Allgemeinheit getragen werden (z. B. Wasser- oder Luftverschmut- zung durch Unternehmen)". Die Folgekosten unseres privaten ~On­

sums sind im Bewußtsein der Oko- nomen noch nicht angekommen, ob- gleich sie um den Faktor 100 höher sind als die Folgen des Waldster- bens.

[> Allgemein gilt: Wir brauchen

Mittel für unsere Zukunftsaufgaben, und Kapitalbildung geschieht durch Konsumverzicht. Wo immer wir aber sparen, ob an der Ferienreise, an der Ausbildung oder an der Bundeswehr:

wir reduzieren dadurch einen Wirt- schaftszweig, unsere Fähigkeiten oder unsere Sicherheit.

Von diesem Zusammenhang gibt es nur eine Ausnahme: Das ge- sundheitsrelevante Verhalten ist der Bereich unseres Lebens, in dem wir sparen können an dem was

uns

ka- putt macht, ohne zu schaden; im Ge- genteil werden wir leistungsfähiger.

Dieser Artikel stammt nicht von ei- Dt. Ärztebl. 85, Heft 19, 12. Mai 1988 (35) A-1351

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nem Gegner, sondern einem Freund der Marktwirtschaft. Den Markt muß man aber tiefer durchdenken als einige Verbandsfunktionäre es heute tun. Marktwirtschaft braucht beispielsweise ein Kartellamt, denn sie hält sich nicht von selbst in Ord- nung. Ähnlich braucht sie auch Rah- menbedingungen, die das wirtschaf- tende Volk gesund erhalten!

Gesundheitabgaben auf Alko- hol und Zigaretten haben nichts mit Prohibition zu tun. Prohibition nützt nur der Mafia, wie der Versuch in den Vereinigten Staaten von Ameri- ka gezeigt hat. Wir wissen aber aus jahrzehntelangen Beobachtungen in Kanada und USA, daß infolge der Abhängigkeit zwar keine volle Preis- elastizität besteht, bei Erhöhung des Realpreises um 2,5 v. H. aber der Pro-Kopf-Konsum um 1 v. H. zu- rückgeht (31). Daß keine volle Ela-

Wann werden die Politiker den Menschenschutz entdecken?

Die hier gemachten Vorschläge sind weit entfernt, unrealistisch zu sein. Zu den häufig vorgebrachten Einwänden ist folgendes zu sagen:

1. Man soll die Staatsquote nicht er- höhen. Richtig, aber die Staatsquote bleibt bei Gesundheitsabgaben gleich, weil die Krankenkassenbei·

träge gesenkt werden. Längerfristig wird die Staatsquote sogar niedriger infolge besserer Volksgesundheit.

2. Man darf die Zigarettenproduzen- ten, Bierbrauer und Weinbauern nicht in Panik bringen. Bei Gesund- heitsabgaben auf Alkohol würde mehr alkoholfreies und alkoholar- mes Bier getrunken, wahrscheinlich bliebe der Biermarkt konstant oder würde sogar wachsen, da man von alkoholfreiem Bier mehr trinken kann. Die Weinbauern würden mehr Qualitätswein produzieren, bessere Preise erzielen und Erfolg auf dem Weltmarkt haben. Falls dies zur Stabilisierung ihrer Einkommen nicht reicht, würden sie direkte Zah-

stizität besteht, wird den Bundesfi- nanzminister beruhigen: er wird, wenn wir allmählich die Gesund- heitsabgaben erhöhen, noch längere Zeit Steuereinnahmen in ähnlicher Höhe haben wie jetzt: danach aber wird er durch konstruktives Wirt- schaftswachstum Mittel auf anstän- digere Weise in die Kasse bekom- men als jetzt.

...,. Der Staat darf an hohem destruktivem Konsum nicht interes- siert sein, wie man auch Abgeordne- te, Parteien, Wissenschaftler und Medien gesetzlich davor bewahren sollte, durch finanzielle Beziehun- gen zur Alkohol- und zur Zigaret- tenlobby korrumpiert zu werden.

Der Staat sollte die Abgaben aus Al- kohol und aus Zigaretten nicht für seine Zwecke abschöpfen, er sollte sie den Opfern geben, den Kranken und den Verletzten.

Iungen erhalten für die · Land- schaftspflege und Hilfen zum Über- gang auf andere Erwerbstätigkeiten (das wäre viel billiger als die jetzigen Alkoholfolgen). Die Zigarettenher- steller würden sich auf Zigarren und Pfeifen- und Schnupftabak umstel- len; gesundheitlich wäre dies wün- schenswert, denn das nicht inhalie- rende primäre Zigarre- und Pfeife- rauchen hat ein Gesundheitsrisiko, das sich vom Nichtrauchen nur we- nig unterscheidet (8, 19).

Die Ärzteschaft selbst muß mehr für Prävention und Qualitätssi- cherung tun. Nicht nur systemati- sches Screening (wie z. B. die Blut- hochdruckvorsorge schon über die Schulen) (20), sondern auch die täg- liche Nutzung der Gesundheits-An- sprechbarkeit, mit der der Patient zum Arzt kommt, damit ihm gründ- licher geholfen werde, wären besser als bloße Kostendämpfung. Ansatz- punkte sind Blutdruckerhöhung, Herzrhythmusstörung, Adipositas, Alkohol-Migräne, Raucherkatarrh, Alkoholunfall, Tremor, Berufspro- bleme, Alkohol-Fußmykose, Reti- na-Sklerose usw., laborchemisch u. a. Blutzucker, Serumlipide und die Leberenzyme. Auch bei den An- gehörigen muß man die Risikofakto- ren normalisieren, denn die Patien- A-1352 (36) Dt. Ärztebl. 85, Heft 19, 12. Mai 1988

ten brauchen gesunde Angehörige.

Die Beitragsrückvergütung an Ver- sicherte, die zufällig gesund geblie- ben sind, wird wenig bringen; dage- gen sollte eine gezielte Belohnung des Gesundbleibens und des Gesün- derwerdens im Bereich der heute üblichen Selbstzerstörung eingeführt werden (23).

Den Schutz der Tiere haben un- sere Parlamentarier kürzlich ent- deckt (mit Effekten gegen die ärzt- liche Forschung zum Wohl der Men- schen): Wann werden sie endlich den Schutz der Menschen entdek-

ken, der Mütter, Kinder, der Unge-

borenen vor Folgen von Alkohol und Nikotin? Wann ziehen sie Kon- sequenzen daraus, daß unsere ge- samte Rechtsordnung auf die Ach- tung vor der Menschenwürde ge- gründet ist? , ,Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" (Art. 1 Grund- gesetz).

Daß man zur Wahrung der Menschenwürde gegen Alkohol- Hirntraumen, Alkohol-Schlaganfäl-

le, Alkohol-Embryopathie, Nikotin-

Fetopathie usw. viel tun könnte oh- ne Zwang, ohne Bürokratie, markt- wirtschaftlich und sogar mit der Fol- ge, daß die Menschen fröhlicher werden: wann werden unsere Volks- vertreter sich dies eingestehen?

C> Kommt die Einsicht, werden

sie auch merken, daß das "Gesund- heitsreform-Gesetz'' schlechtere Krankenversorgung, mehr Bürokra- tie und eine sinnlose Arbeitsplatz- vernichtung in einer Wachstums- Branche bringt. Man darf hoffen, daß Späth, Bangemann u. a. dem Mehr an Bürokratie nicht zustim- men und daß Dregger und Kohl sich um faire Behandlung der Alten und Schwerkranken kümmern, das heißt die Bindung an die Grundlohnsum- me streichen. Mut, meine Herren:

Bei solcher Gesundheitspolitik stün- den wir Ärzte an Ihrer Seite!

Literatur beim Sonderdruck

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. h. c.

Hans Helmut Kornhuber Ordinarius für Neurologie Steinhövelstraße 9

7900 Ulm

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