A1884 Deutsches ÄrzteblattJg. 104Heft 2629. Juni 2007
P O L I T I K
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ind Krankenhäuser die Ka- thedralen des 21. Jahrhun- derts? Ist das Streben nach Gesund- heit zu einer Ersatzreligion gewor- den? Dr. med. Manfred Lütz, Theo- loge und Chefarzt des Kölner Alexi- aner-Krankenhauses, beantwortet beide Fragen mit „Ja“. In seiner Festrede zur Eröffnung des 10.Hauptstadtkongresses „Medizin und Gesundheit“, der vom 20. bis zum 22. Juni in Berlin stattfand, be- schrieb Lütz mit bissigem Witz die Steigerung des Gesundheitskults in eine säkularisierte Form von Reli- gion. Der Begriff „Sünde“ werde nicht mehr in der Kirche, wohl aber im Zusammenhang mit Sahnetorte verwendet. Gesundheit gelte als herstellbares Produkt: „Wer stirbt, ist selber schuld: Und so rennen die Leute durch Wälder, essen Körner und Schrecklicheres.“ Lütz hält diese Form von Gesundheitsreligion
„für albern, anstrengend und teuer“.
Bemerkenswert ist, dass Kon- gresspräsident Ulf Fink ausgerech- net Lütz zur Eröffnungsveranstal- tung eingeladen hatte. Denn der Hauptstadtkongress gilt mit seinen mehr als 6 000 Teilnehmern, rund 150 Ausstellern und 100 Einzelver- anstaltungen als eines der größten Treffen der Gesundheitswirtschaft in Deutschland. Kritiker bemän- geln, dass die Neuordnung des Ge- sundheitswesens in erster Linie von Gesundheitsökonomen und Ge- schäftsleuten diskutiert werde. Auch
die launige Festrede des Arztes und Theologen Lütz konnte man als Kritik an der Gesundheitswirtschaft verstehen, die letztendlich von dem von ihm beschriebenem Gesund- heitskult profitiert.
Doch stellte Fink klar, dass sich die Gesundheitswirtschaft nicht verstecken müsse. Sie biete mehr als vier Millionen Menschen in Deutsch- land Arbeit. Der Hauptstadtkon- gress habe maßgeblichen Anteil daran, dass das Gesundheitswesen nicht mehr nur als Sorgenkind und Kostenfaktor, sondern zunehmend als Zukunftsbranche wahrgenom- men werde, sagte Fink bereits im Vorfeld der Tagung.
Gesundheitswirtschaft lebt nicht nur von Privatpatienten
Auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) unterstrich die Bedeutung der Branche. Das deut- sche Gesundheitswesen sei besser als sein Ruf. Deshalb sollte positiver über das geredet werden, was tag- täglich von den Leistungserbringern geleistet werde.Häufig werde zudem übersehen, dass in Deutschland sehr viel mehr Geld für medizinische Innovationen zur Verfügung gestellt werde als in anderen Ländern. Auch sei es ein Trugschluss zu meinen, die breite Masse der Bevölkerung würde vom medizinischen Fortschritt abgekop- pelt: „Teure Arzneimittel, moderne Prothesen oder aufwendige Diagno-
severfahren stehen nicht nur Privat- patienten zur Verfügung, sondern allen Versicherten.“ Dies müsse sich auch die Gesundheitswirtschaft vor Augen führen. „Sie lebt nicht nur von den zehn Prozent Privatpatien- ten. Der größte Teil ihrer Einnah- men stammt von gesetzlich Versi- cherten“, merkte Schmidt an.
Tatsächlich geben die Deutschen rund 240 Milliarden Euro jährlich für ihre Gesundheit aus. Mehr als die Hälfte der Gesamtkosten (57 Prozent) bringt die gesetzliche Krankenversicherung auf. Hinzu kommen private Ausgaben für Fit- nessstudios, Wellnesseinrichtungen und Lifestyleprodukte. Doch für Systemkritiker Lütz ist „Lebenslust“
(so auch der Titel seines neuen Buchs) nicht der tägliche Besuch des Fit- nessstudios oder das Streben nach der idealen Figur. In seinem Vortrag plädierte er für ein Menschenbild, das nicht vom Zwang zur Schönheit und Gesundheit geprägt ist. Seiner Meinung nach kann Lebenskunst nur bedeuten, dass man auch in den Grenzsituationen menschlicher Exis- tenz Quellen des Glücks findet.
Doch die Gesundheitsreligion er- fasse wie jede andere Religion das gesamte Leben. „Es gibt Menschen, die leben von morgens bis abends nur noch vorbeugend und sterben dann gesund“, sagte Lütz. Und er fügte hinzu: „Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot.“ n Samir Rabbata
HAUPTSTADTKONGRESS „MEDIZIN UND GESUNDHEIT“
Zukunftsmarkt Gesundheitswesen
Ulla Schmidt lobte zur Eröffnung des Hauptstadtkongresses ungewohnt deutlich die Arbeit von Ärzten und anderen Leistungserbringern. Ein Arzt hingegen nahm den „Gesundheitskult“ aufs Korn.
„Das Gesundheitswesenist besser als sein Ruf. In vielen Bereichen ist Deutsch- land anderen Industrienationen weit voraus“, sagt Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD).
Foto:dpa