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Gesundheitsreform
SPD will Seehofer unter Druck setzen
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ie SPD hat Bundesge- sundheitsminister Horst Seehofer ultimativ aufge- fordert, unverzüglich gesetzgebe- rische Maßnahmen zu ergreifen, um die Krankenversicherung vor einem drohenden Kollaps zu be- wahren. Seehofer und der Bonner Koalition fehle der Wille, die mit dem Lahnstein-Kompromiß von Ende 1992 zwischen CDU/CSU, FDP und SPD im Gesundheits- strukturgesetz eingeleitete Re- form konsequent und entschlos- sen umzusetzen. Dies zeige be- reits Wirkungen: Nach einem De- fizit der gesetzlichen Krankenver- sicherung (GKV) von 11 Milliar- den DM in 1992 drohe jetzt ein Jahresdefizit von mehr als drei Milliarden DM, wie die Kranken- kassen bereits vorgerechnet hät- ten. Ein Ausgabenschub und Beitragserhöhungen auf breiter Folge seien zu Beginn des kom- menden Jahres zwangsläufig, so die SPD-Gesundheitsaktivisten, Fraktions-Vize Rudolf Dreßler, Klaus Kirschner und die Gesund- heitsminister von Brandenburg und NRW, Regine Hildebrandt und Franz Müntefering, vor der Presse in Bonn. Das „Nichtstun"des Bundesgesundheitsministers mache ihn zum „Gefangenen der Interessenpolitik der Leistungser- bringer im Gesundheitswesen".
Die Bundesregierung stelle sich selbst ein Bein mit der Festle-
gung, die sektorale Budgetierung (für den niedergelassenen ärztli- chen, zahnärztlichen und den Arzneimittelbereich) über 1995 hinaus nicht zu verlängern. Es sei aus der Sicht der SPD politisch unverantwortlich, den Leidens- druck in der gesetzlichen Kran- kenversicherung (sprich: Ausga- benexplosion) so stark werden zu lassen, daß der Gesetzgeber in 1996 zwangsläufig handeln muß — ohne das Versprechen einzulösen, der Selbstverwaltung „Vorfahrt"
einzuräumen.
Die SPD-Gesundheits- und Sozialpolitiker, die sich rühmen, im ersten Lahnstein-Kompromiß 70 Prozent der sozialdemokrati- schen Positionen durchgedrückt zu haben, bleiben bei ihrer bisher verfochtenen Linie: Zunächst müßten alle strukturpolitischen Maßnahmen des Lahnstein-Kom- promisses (GSG) bis ins letzte Te- zett umgesetzt werden. Alles an- dere wäre „kalter Wortbruch", den die SPD öffentlich anprangern werde. Die SPD bietet vorderhand Verhandlungen unter ihren Vorga- ben an: Wenn die Positivliste ge- kippt wird, die in einem zustim- mungspflichtigen Gesetz beschlos- sen wurde, „gibt es keine Verhand- lungen mit uns", warnte Regine Hildebrandt als Sprecherin der SPD-regierten Länder.
Auch einen anderen „Seeho- fer-Trick" will die SPD verhin-
dern: Falls die Koalition in vier bis fünf der eigentlichen Reform vor- gezogenen Spezialgesetzen, die nicht zustimmungspflichtig seien, das Reformpaket zerstückeln oder Herzstücke daraus herauslösen wolle, so fahre sie damit bei der SPD gegen die Wand.
Soweit die Aussagen der SPD-Gesundheitspolitiker. Was die SPD als „konzeptionelle Ge- samtlösung" jetzt offeriert, ist we- nig originell und verspricht keine Abkehr von der sturen dirigisti- schen Kostendämpfung. Falls le- diglich von der sektoralen auf die globale Budgetierung und auf eine parlamentarisch/staatliche Etati- sierung der Kassenfinanzen umge- schaltet werden soll, dann ist das Kostendämpfung und Staatsbe- vormundung pur. Die verbal be- kundete gestärkte Selbstverwal- tung und die Autonomie der Kas- sen stünden dann nur noch auf dem Papier.
Die Forderungen der SPD, alles beim alten zu lassen, den Lei- stungskatalog der Krankenkassen üppig weiter ins Kraut schießen zu lassen, das Sachleistungsprinzip unbeeinträchtigt zu lassen und jeglichen Flexibilisierungsrege- lungen einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben, deuten ganz dar- auf hin, daß die SPD in einer letz- ten Endes steuerfinanzierten, staatlichen Einheitsversicherung das Heil sieht. HC Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 36, 8. September 1995 (1) A-2287