DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
F
rüher war es der Vertrau- ensärztliche Dienst (VäD), heute scheint es der Medi- zinische Dienst der gesetzlichen Krankenversicherung (MDS) zu werden: ein beliebter Zankapfel in der sozialen Selbstverwaltung, bei Kassenverbänden und Politi- kern. Kaum hatten die Kassen- verbände Ende 1990 füllige„Richtlinien über die Zusam- menarbeit der Krankenkassen mit den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung" (87 DIN-A5-Seiten!) fertiggestellt, schon wurden Befürchtungen laut, der Medizinische Dienst könne sich zu einer „Super- Überprüfungsbehörde für die ambulante kassenärztliche Ver- sorgung" auswachsen — so jeden- falls der sozialpolitische Experte der F.D.P.-Fraktion, Dieter-Ju-
Medizinischer Dienst
Beliebter Zankapfel
lins Cronenberg. Sein (weiteres) Monitum: Die Möglichkeiten, Aufträge auch an niedergelasse- ne Ärzte zu vergeben, seien zu restriktiv formuliert worden. Für widersinnig und anrüchig hält Cronenberg die Auflage, zu- nächst den Personalrat fragen zu müssen, ehe Externe eingeschal- tet werden dürfen.
Kein Wunder, daß die Kran- kenkassenverbände, die den MDS als einen „großen Schritt nach vorn auf dem Weg zur Wei- terentwicklung des Medizini- schen Dienstes" loben, prompt reagierten: Für Dr. med. Eckart
Fiedler, Geschäftsführer der Er- satzkassenverbände, ist der neu- formierte Medizinische Dienst keine „Super-Überprüfungsbe- hörde". Vielmehr sollten die Be- gutachtungen durch eine geziel- te Auswahl auf das notwendige Maß beschränkt werden.
Daß der MDS aber zu einer Art „gesundheitsökonomischem Dienst" umfunktioniert werden könnte, dafür könnte die über- zogene Aufgabenzuweisung durch den Gesetzgeber sprechen (§ 282 SGB V): Als denkbare Beratungsfelder im Auftrag der Krankenkassen werden die
„Konzeption und Realisierung von Informationssystemen der Marktbeobachtung" und die ge- zielte „Entwicklung medizini- scher und ökonomischer Orien- tierungsdaten" genannt . . . HC
D
ie „Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte" sieht sich veranlaßt, „in die gegenwärtige Debatte über die Auswirkungen medizinischer und naturwissen- schaftlicher Technik auf den Umgang mit behindertem Leben entschieden einzugreifen". Die raschen Entwicklungen in Medi- zin und Naturwissenschaften er- forderten ein erhöhtes Maß an Verantwortung, ethischem Be- wußtsein und praktizierter Soli- darität insbesondere denjenigen gegenüber, die dem gesellschaft- lich verbreiteten Bild des gesun- den, leistungsstarken, perfekten Menschen nicht entsprächen.Die Bundesvereinigung ver- öffentlichte deshalb jetzt „Ethi- sche Grundaussagen", die das Recht auf Leben in jeder Phase der menschlichen Existenz be- kräftigten: Menschliches Leben entstehe mit der Zeugung, und alle Menschen seien gleichwer- tig. Für behindertes und nicht behindertes menschliches Leben müsse der gleiche Lebensschutz gelten. Jeder Mensch sei einzig- artig und unverwechselbar. Der Entwicklungsstand einer Per- sönlichkeit könne nicht als Kri- terium für Menschsein herange- zogen werden.
Behinderte
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Recht auf Leben
Das Recht auf Leben sei un- antastbar. Das Tötungsverbot dürfe durch das Selbstbestim- mungsrecht des einzelnen nicht aufgehoben werden. Die Grund- rechte unserer Verfassung müß- ten uneingeschränkt für alle Menschen gelten. Menschliches Leben dürfe auch vor der Ge- burt „nicht geopfert" werden.
Allen Abgrenzungsversuchen über Lebenswert und Lebens- recht sei eine entschiedene Ab- sage zu erteilen. Auch schwerst- geschädigte Neugeborene dürf- ten nicht getötet werden.
Die „Bundesvereinigung Lebenshilfe" hält ihre Stellung- nahme deshalb für nötig, weil es zur Zeit eine „neue Euthanasie- Diskussion" gebe, und sie beruft sich dabei unter anderem auf die Auseinandersetzung mit den Thesen des Australiers Peter Singer. Dessen Auffassungen haben sich auch in einer lebhaf- ten Diskussion im Deutschen Ärzteblatt niedergeschlagen. In einer Betrachtung über aktive und passive Euthanasie (Heft
16/1990) hatte Helga Kuhse, ei- ne Mitarbeiterin Singers, den
„bioethischen" Standpunkt Sin- gers vorgestellt, der zwischen
„lebenswertem" und „lebensun- wertem" Leben unterscheidet.
Für Patienten, die für immer das Bewußtsein verloren haben, oder für Kinder, die ohne oder fast ohne Gehirn zur Welt ge- kommen sind, habe das Leben keinen subjektiven Wert. Es be- stehe daher normalerweise kein patientenbezogener Grund, die- se Patienten am Leben zu erhal- ten. Einen aufgeklärten Patien- ten solle ein Arzt dann sterben lassen, wenn vom Gesichtspunkt des Patienten her sein durch un- heilbares Leiden bestimmtes Le- ben nicht mehr lebenswert sei.
Der Artikel hat eine heftige und umfangreiche Leserbriefdis- kussion ausgelöst (Heft 37 und 38/1990). Vor allem die Begriffe
„lebenswert" und „lebensun- wert" stießen auf Kritik. In ei- nem Schlußwort (Heft 38/1990) setzte sich die Autorin mit die- sen Vorwürfen auseinander. Sie wies darauf hin, daß eine Lösung der von der modernen Medizin aufgeworfenen Fragen nur in freier und vernünftiger öffentli- cher Diskussion gefunden wer- den könne. Kli
Dt. Ärztebl. 88, Heft 8, 21. Februar 1991 (1) A-513