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Archiv "Psychiater sind nicht erste Anlaufstelle" (02.09.2013)

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600 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 35–36

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2. September 2013

M E D I Z I N

Forschungsbedarf

Wir danken den Autoren für die wertvolle Übersichtsar- beit (1), unterstreichen die Wichtigkeit der kontinuierli- chen therapeutischen Beziehungsgestaltung, und sehen dringenden qualitativen Forschungsbedarf zu komple- xen Störungen.

Erfahrungsgemäß exazerbiert der sonst harmlose Tinnitus häufig dann, wenn das eigene Leben „nicht mehr stimmig ist“. Ein Entwicklungsschritt steht an, und Stress ist Kennzeichen von ausgereizten Bewälti- gungsmöglichkeiten. Komplexe psychische Funktio- nen wie Selbst- und Weltbild, Identität und Konsistenz - erleben sind betroffen; aufwendige, aber beforschbare Größen (2).

In der zitierten überlegenen multiprofessionellen Be- handlung (3) kommen, wie die Autoren erwähnen, ne- ben Counseling und Psycho- auch Sozio-, Physio-, Be- wegungs- und Sprachtherapie zur Anwendung, entspre- chend der Komplexität von Störung und Patient. Auch unserer Erfahrung entspricht, dass neben verbaler Psy- chotherapie auch körper-, und sinnesorientierte Verfah- ren die multimodale Therapie wirksam machen. Ort des Symptoms ist ja das auditorische System als „Um- schlagspunkt“, wo äußere Welt im Sinnesreiz zu inne- rem, das heißt psychischem Erleben wird. Dort wird bei zunehmender Spannung und Diskrepanz zwischen der inneren und der äußeren Welt der quälende „Warnton“

Tinnitus erlebt.

So überrascht es, in der Zusammenfassung zu lesen, dass neben der Verhaltenstherapie insbesondere appara- tive Lösungen im Mittelpunkt der Forschung stehen.

Dies weckt Hoffnungen auf einfache Lösungen, impli- ziert aber ein reduktionistisches Krankheits- und Men- schenbild. Denn trotz konstanter Hörminderung schwankt Tinnitus erheblich in Abhängigkeit vom psy- chischen Befinden, was viele Arbeiten am (Tier-)Mo- dell nicht abbilden können.

Das Subjekt als eigentlicher Ort des Leidens mit Di- mensionen wie Entwicklung, Reife, Selbstbild, Sinn,

Authentizität und „Stimmigkeit“ darf nicht verloren ge- hen. Es ist medikamentöser und apparativer Behand- lung nur indirekt zugänglich, für die nachhaltige Gene- sung des nicht objektivierbaren Tinnitus jedoch die ent- scheidende Größe. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0600a

LITERATUR

1. Kreuzer PM, Vielsmeier V, Langguth B: Chronic tinnitus: an interdisci- plinary challenge. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(16): 278–84.

2. Fonagy P, Gergely G, Jurist E, Target M: Affektregulierung, Mentalisie- rung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta 2002.

3. Cima RF, Maes IH, Joore MA, et al.: Specialised treatment based on cognitive behaviour therapy versus usual care for tinnitus: a random - ised controlled trial. Lancet 2012; 379: 1951–9.

Dr. med. Tobias Roeckl HNO-Klinik Dr. Gaertner, München t.roeckl@gaertnerklinik.de

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Psychiater sind nicht erste Anlaufstelle In ihrer Übersicht (1) stellen die Kollegen aus der Psy- chiatrie fest, dass Patienten, die an Tinnitus leiden, sinnvoll behandelt werden können. Dabei sind die Be- handlungsansätze ähnlich vielfältig wie die betroffenen Patienten unterschiedlich. Hilfreich ist nach unserer langjährigen Erfahrung

eine grundlegende neurootologische Kompetenz, die die konkrete Hörwahrnehmung einbezieht

ein psychosomatisches Verständnis

und vor allem Empathie für das Symptom und den betroffenen Menschen.

Dann ist in der Regel eine störungsspezifische Be- handlung, die auf audiologischer Grundlage die mögli- chen Ursachen ebenso berücksichtigt wie – psychoso- matisch oder somatopsychisch – die aufrechterhalten- den Faktoren, erfolgreich (2, 3). Psychiatrische Hilfe- stellung kann angesagt sein, wenn relevante psychiatri- sche Erkrankungen das Tinnitusleiden bestimmen (3) – sicher aber ist der Psychiater nicht die erste Anlaufstel- le in der Tinnitustherapie.

Wenn die ambulanten Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, können für die „in Deutschland häu- fig übliche stationäre Psychotherapie“ hohe Effektstär- ken nachgewiesen werden, auch wenn diese – wie die Autoren feststellen „bisher nicht durch randomisierte kontrollierte Studien evaluiert“ wurde.

Es ist auch – anders als bei Untersuchungen zu appa- rativen Ansätzen oder Psychopharmaka – schwer vor- stellbar, behandlungsbedürftige stationär aufgenomme- ne Tinnituspatienten in eine psychotherapeutisch be- handelte und eine Placebo-Gruppe zu unterteilen.

Schaut man sich – in auch Psychiatern zugänglichen Publikationen – die Ergebnisse von dafür geeigneten psychosomatischen Kliniken ausweislich einer sowohl symptombezogenen als auch psychologischen Testdi- agnostik an, zeigen sich nicht nur deutliche und anhal- tende Symptomverbesserungen (4), sondern auch the- LITERATUR

1. Kreuzer PM, Vielsmeier V, Langguth B: Chronic tinnitus: an interdisci- plinary challenge. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(16): 278–84.

2. Goebel G, Hiller W: Tinnitus-Fragebogen (TF). Ein Instrument zur Er- fassung von Belastung und Schweregrad bei Tinnitus. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe Verlag für Psychologie 1998.

3. Hiller W, Goebel G: Rapid assessment of tinnitus-related psychologi- cal distress using the Mini-TQ. International Journal of Audiology 2004; 43: 600–4.

4. Goebel G: Psychische Komorbidität bei Tinnitus. Psychiatr Psychother Up2date 2010; 4: 389–408.

Dr. med. Ulrich Stattrop Prof. Dr. med. Gerhard Goebel Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer Schön Klinik Roseneck, Prien a. Chiemsee grempert@schoen-kliniken.de

Interessenkonflikt

Prof. Goebel erhält Tantiemen für den Tinnitus-Fragebogen vom Hogrefe Verlag.

Die beiden übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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rapeutisch stark wirksame Reduktionen der oft beglei- tenden Angst- und Depressionsanteile mit hohen Ef- fektstärken (3).

Hingegen lösen Therapieansätze (wie die Neuromo- dulation), die bei leidenden Patienten eine – apparative – Extinktion des Tinnitus in Aussicht stellen, meist ent- täuschte Hoffnungen aus, was auch eine ernsthafte Ne- benwirkung darstellt. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0600b

LITERATUR

1. Kreuzer PM, Vielsmeier V, Langguth B: Chronic tinnitus: an interdisci- plinary challenge. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(16): 278–84.

2. Hesse G: Die Neurootologisch psychosomatische Habituationsthera- pie. HNO 2009; 56: 686–93.

3. Schaaf H, Eichenberg C, Hesse G: Tinnitus und das Leiden am Tinni- tus. Ein Plädoyer für eine störungsspezifische Betrachtungsweise und ein differenziertes Vorgehen anhand 287 ambulanter und 128 stationär behandelter Tinnitus Patienten. Der Psychotherapeut 2010;

55: 225–32.

4. Goebel G, Kahl M, Arnold W, Fichter M: 15-year prospective follow- up study of behavioral therapy in a large sample of inpatients with chronic tinnitus. Acta Otolaryngol Suppl 2006; 556: 70–9.

Dr. med. Helmut Schaaf Prof. Dr. med. habil. Gerhard Hesse

Tinnitus-Klinik Dr. Hesse und Gleichgewichtsambuanz der Klinik Dr. Hesse im Stadtkrankenhaus Bad Arolsen

hschaaf@tinnitus-klinik.net

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Schlusswort

Es freut uns, dass viele der Diskussionsbeiträge die Be- deutung einer durchgängigen therapeutischen Bezie- hungsgestaltung und eines interdisziplinären Behand- lungsansatzes (1) mit der Bereitschaft zum wechsel - seitigen „Blick über den Tellerrand“ betonen. Kurz möchten wir einige der vorgebrachten Kritikpunkte kommentieren:

Korrekterweise weisen die Vertreter der Deutschen Tinnitus-Liga ebenso wie die in einer spezialisierten psychosomatischen Klinik tätigen Kollegen Dr. Stat- trop, Prof. Goebel und Prof. Voderholzer in überein- stimmender Formulierung darauf hin, dass „es sich [bei den derzeitig verfügbaren therapeutischen Optionen]

überwiegend um Tinnitusbewältigung und nicht um ei- ne Heilung“ handle. Dieser Feststellung stimmen wir zu, sind aber der Meinung, dass die Verfügbarkeit von Behandlungsansätzen zur Tinnitusbewältigung nicht daran hindern sollte, diese Ansätze weiter zu optimie- ren beziehungsweise an heilungsorientierten Techniken zu arbeiten.

Näher eingehen möchten wir auch auf die in diesem Zusammenhang getroffene Aussage, dass die „kognitive Verhaltenstherapie die einzige wirklich evidenzbasierte Therapie“ sei. Im vorliegenden Manuskript wurde zu al- len vorgestellten Therapieverfahren die vorliegende Evi- denz nach allgemein üblichen Kriterien angegeben. Die Argumentation, dass bestimmte Verfahren generell nicht in randomisierten, kontrollierten Studien untersuchbar

seien, halten wir in diesem Zusammenhang für ebenso- wenig zielführend wie die pauschale Ablehnung appara- tiver Verfahren. Zu berücksichtigen ist auch, dass die gängigerweise in klinischen Studien eingesetzten Frage- bögen zwar dazu geeignet sind, den Grad der Tinnitusbe- lastung im Behandlungsverlauf abzubilden, jedoch das Tinnitusperzept an sich darin keine Aufnahme findet. In der klinischen Versorgungsrealität wünschen sich jedoch viele Betroffene nicht nur Hilfen zur Tinnitusbewälti- gung, sondern auch eine tatsächliche Reduktion ihres Geräuscheindrucks. Was vor diesem Hintergrund als

„einzig wirklich evidenzbasiert“ zu gelten hat, überlas- sen wir der Entscheidung des Lesers.

Bezüglich der im Leserbrief der Herren Albert und Bergmann kritisierten Tinnituseinteilung nach Biesinger war es uns ein Anliegen, den in der Regelversorgung täti- gen hausärztlichen beziehungsweise HNO-ärztlich täti- gen Kollegen eine pragmatische Entscheidungshilfe an die Hand zu geben, um rasch zwischen Betroffenen so- wie höher belasteten Patienten zu unterscheiden. Nach unserer Erfahrung sind die unmittelbaren Patientenanga- ben im persönlichen Gespräch für eine klinische Beurtei- lung wesentlich zuverlässiger als die Gesamtpunktzahl in einem Selbstbeurteilungsfragebogen, die im Einzelfall ein verzerrtes Bild abgeben kann. Dies schmälert die Be- deutung der Fragebögen für wissenschaftliche Zwecke und zur Qualitätssicherung in keiner Weise. Aufgrund der gebotenen Kürze des Artikels konnten wir leider nicht auf die unterschiedlichen verfügbaren Selbst-Ra- ting-Skalen eingehen.

Die Tatsache, nicht näher auf Selbsthilfe-Angebote eingegangen zu sein, war im Wesentlichen Platzgrün- den geschuldet. Aus einer aktuellen Übersichtsarbeit (veröffentlicht im Juni 2013) (2), die zur Drucklegung des Artikels noch nicht verfügbar war, geht hervor, dass spezifische Selbsthilfe-Interventionen im Vergleich zu reiner Informationsvermittlung oder Diskussionsgrup- pen einen signifikanten Nutzen aufweisen.

Zum Einwand von Herrn Dr. Schaaf und Herrn Prof.

Hesse möchten wir anmerken, dass wir im gesamten Artikel keinerlei kategorische Unterscheidung zwi- schen psychiatrischer oder psychosomatischer Heran- gehensweise postulierten. Ohne auf gesundheitspoliti- sche Zusammenhänge näher eingehen zu wollen sind wir vielmehr der Meinung, dass die individuelle Erfah- rung des Therapeuten sowie dessen Bereitschaft zum interdisziplinären Dialog den entscheidenden Schlüssel zum Behandlungserfolg darstellen. Sicherlich fungiert üblicherweise weder ein psychosomatisch noch psychi- atrisch tätiger Arzt als erste Anlaufstelle für Tinnitusbe- troffene, sondern der Hausarzt beziehungsweise HNO- Arzt (3). Anders als im Beitrag von Stattrop et al. ver- merkt, ist es uns daher ein Anliegen, Counseling als be- ratendes und aufklärendes Gespräch nicht unter „psy- chologisch ausgerichteter Tinnitustherapie“ zu subsum- mieren, sondern dies vielmehr als integralen Bestand- teil jeglicher Tinnitusbehandlung zu verstehen. Den in der Regelversorgung tätigen Kollegen eine Übersicht über die derzeit verfügbaren evidenzbasierten Thera- pieoptionen als Orientierung für die klinische Entschei-

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