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Archiv "Abschiebung: Hartes Urteil für Psychiater" (24.02.2006)

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iner der Anwälte findet als Erster Worte: „Das müssen wir erst mal verdauen.“ Der Rest der kleinen Gruppe vor Saal 504 des Berliner Straf- gerichts schweigt. Der Schreck über das gerade gesprochene Urteil

sitzt tief. Zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilte der Richter den Arzt Dr. B., wenn auch zur Be- währung. Seine ebenfalls ange- klagte Ehefrau, die auch Ärz- tin ist, sprach er frei.

Das Gericht sah es als erwie- sen an, dass der Berliner Psych- iater in den Neunzigerjahren bei etlichen Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugosla- wien ohne ausreichende Un- tersuchungen posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) attestiert hat. Diese Zeugnisse dienten den Migranten zur Ver- längerung ihrer Aufenthaltser-

laubnis in Deutschland. Bei Frau B. konn- te das Gericht nicht zweifelsfrei feststel- len, ob sich die Allgemeinärztin ebenfalls eines Vergehens schuldig gemacht hat.

Der Fall ist von grundsätzlicher Be- deutung. Denn es steht der Vorwurf von Flüchtlingsorganisationen im Raum, die Politik wolle die Medizin mit dem Ziel einer schnelleren Abschiebung von Flüchtlingen instrumentalisieren – zu- mindest sich von Ärzten dabei nicht be- hindern lassen.Für Dr.B.ist die Intention der Staatsanwaltschaft klar: „Hier soll ein Exempel statuiert werden, um andere Ärztinnen und Ärzte einzuschüchtern.“

Tatsächlich warf die Berliner Innen- verwaltung Fachärzten in den vergange- nen Jahren immer wieder vor, den aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen- den Flüchtlingen massenweise posttrau- matische Belastungsstörungen zu atte- stieren. In der Folge wies der damalige

Berliner Innensenator Eckart Werthe- bach (CDU) seine Behörde an, Kriegs- flüchtlinge zur Zweitbegutachtung vor Polizeiärzten antreten zu lassen. In vielen Fällen wurde ihnen eine Traumatisierung

abgesprochen. Mit zum Teil haarsträu- benden Begründungen seien reihenweise psychisch kranke bosnische Kriegsflücht- linge gesundgeschrieben worden, berich- tet der Psychiater Dr. med. Ferdinand Haenel vom Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin. Vor Gericht hatten diese Zweitbegutachtungen durch den polizeiärztlichen Dienst jedoch nur selten Bestand. Ronald Reimann, Rechtsanwalt der angeklagten Frau B., wertet den Pro- zess gegen die Eheleute deshalb auch als Retourkutsche dafür, dass die Polizeigut- achter unter Beschuss geraten sind.

So befand das Gericht im Fall von Dr.

B., dass eine erhebliche Diskrepanz zwi- schen der Patientendokumentation und der inhaltlichen Ausführung in den er- stellten fachärztlichen Attesten besteht.

Daher folgte es in wesentlichen Punkten der Auffassung der Staatsanwaltschaft, wonach die meisten Atteste vorsätzlich

ohne jede Untersuchung ausgestellt wur- den. „Das Wesen eines ärztlichen Atte- stes kann nicht auf die Stufe einer Tatsa- chenbekundung des betroffenen Flücht- lings gestellt werden“, begründete der Richter sein Urteil.Andernfalls bräuchte man hierfür keinen Arzt aufzusuchen.

Doch konnten die Beschuldigten die Anschuldigungen kaum durch entlasten- de Zeugenaussagen aus der Welt räumen.

Denn die Staatsanwaltschaft hat nur die Fälle zur Anklage gebracht, bei denen die betroffenen Patienten entweder verstor- ben sind (einige durch Suizid) oder sich mit unbekanntem Aufenthalt im Ausland aufhalten. „Somit hat die Staatsanwalt- schaft dieses Verfahren zielgerichtet ge- steuert, um Verteidigungs- möglichkeiten der Ange- klagten zu vereiteln“, kriti- siert Anwalt Reimann.

Seiner Auffassung nach müssten beim Vorwurf der lückenhaften Dokumenta- tion in den Patientenakten auch die damaligen Um- stände betrachtet werden.

So strömten nach dem Zerfall Jugoslawiens mehr als 35 000 Migranten nach Berlin.Nach dem Friedens- schluss von Dayton be- schloss die Innenminister- konferenz 1996, dass nur noch diejenigen Flüchtlin- ge geduldet werden soll- ten, die eine kriegsbedingte PTBS glaub- haft machen konnten.

„Wir sprechen beide Serbo-Kroatisch.

Dies war wohl der Grund, warum wir da- mals in unserer Praxis von den Flüchtlin- gen aus dem ehemaligen Jugoslawien re- gelrecht überrollt wurden“, erinnert sich Frau B. heute. Deshalb habe man der Be- handlung der Patienten absolute Priorität eingeräumt. In den Patientenunterlagen hätten sie nur das Notwendigste notiert.

Nach Ansicht von Dr. B. sei eine umfang- reiche Dokumentation aber auch nicht notwendig: „Schließlich handelte es sich um Atteste und nicht um Gutachten.“

Dr. B. will das Urteil nicht hinnehmen und geht in Berufung. Er werde in seiner Arbeit auch künftig mit ähnlichen Fällen konfrontiert und hoffe auf Rechtssicher- heit. In Berufung geht aber auch die Staatsanwaltschaft. Ihr fiel das Urteil zu

milde aus. Samir Rabbata

P O L I T I K

A

A452 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 8⏐⏐24. Februar 2006

Abschiebung

Hartes Urteil für Psychiater

Ein Berliner Arzt wurde verurteilt, weil er Flüchtlingen ohne angemessene Untersuchung Kriegstraumata attestiert haben soll. Die Verteidigung sieht den Prozess politisch motiviert.

Nach Ausbruch der Bürgerkriege auf dem Balkan flüchteten Hunderttau- sende Zivilisten vor den Kriegsgräueln ins Ausland. Allein in Deutschland kamen mehr als 350 000 Migranten unter.

Foto:dpa

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