• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Was ist therapeutische Erfahrung?" (26.09.1991)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Was ist therapeutische Erfahrung?" (26.09.1991)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Was ist

therapeutische Erfahrung?

Die historische Entwicklung der Therapiebewertung zwischen subjektiv sicherem Wissen und objektiv

wahrscheinlichen Kenntnissen

Ulrich Tröhler

n der Bewertung des Erfolgs therapeutischer Maßnahmen gibt es heute eine gewisse Ratlo- sigkeit. Einerseits sind die kontrollierten kli- nischen Versuche seit dem zweiten Weltkrieg in stetiger Weiterentwicklung der Methodik bis hin zu Meta-Analysen zur Richtschnur, zum me- thodischen Paradigma für den zum Teil vom Gesetz geforderten Wirksamkeitsnachweis geworden. Ande- rerseits erkennt man nun in der Rückschau, daß ran- domisierte klinische Studien oft keine eindeutigen oder adäquaten Daten für konkrete Behandlungsent- scheidungen abgeben, daß selbst solchermaßen eta- blierte Wirksamkeitsnachweise die Behandlungspro- bleme in der klinischen Praxis oft (noch) nicht lösen, ganz zu schweigen von den häufig anders gearteten der niedergelassenen Ärzte. Auch hat sich ihre An- wendung in der Chirurgie und allgemein bei chroni- schen Krankheiten als problematisch erwiesen; und die AIDS-Problematik mit ihrem Behandlungsnot- stand läßt das Paradigma der randomisierten Studie ebenfalls in neuem Licht erscheinen. Die nie ganz ver- stummte Kritik an diesen Studien aus theoretischer und ethisch-weltanschaulicher Sicht erhält somit aus der praktischen Perspektive neuen Auftrieb.

In dieser Situation scheint es angebracht, sich die historische Entwicklung der therapeutischen Evalua- tion bewußtzumachen. Welches waren die Alternati- ven? Vielleicht kann ein solches Bewußtsein als Ori- entierungshilfe dienen. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Begriff der therapeutischen Erfahrung, zumal es ja heute auch eine sogenannte Erfahrungs- medizin gibt.

Sichere Theorie versus trügerische Erfahrung

Bereits in der Antike haben sich zwei Ansätze in der Therapeutik herausgebildet: der theoreti- sche, damals allerdings „dogmatisch" benannte, und der empirische. Dem Theoretiker ging es vor allem um die Kenntnis der Krankheitsursachen, weil sich daraus durch logische Ableitung die einzi- ge korrekte Therapie rational bestimmen ließ, die deswegen auch keiner Überprüfung mehr bedurfte.

< Der Empiriker hingegen schritt ungeachtet patho-

A-3218 (48) Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991

genetisch-pathophysiologischer Überlegungen zur praktischen Therapie, über deren Wert ihn allein der bei diesem Ansatz allerdings unerläßlich zu prüfende Erfolg oder Mißerfolg, also seine Erfah- rung, belehrte. Während die zentrale Frage des Theoretikers bezüglich der Therapie lautete:

„Kann sie überhaupt wirken?", hieß die des Empi- rikers: „Wird sie wirken?" Der zur Beantwortung letzterer Frage angewandte sogenannte empirische Dreifuß — eigene Beobachtung, Vergleich mit der Literatur, Analogieschluß — geriet allerdings schon in der Antike in Vergessenheit. Hippokrates (ca.

450-370 v. Chr.) hielt in seinem ersten Aphorismus die (empirische) Erfahrung für „unzuverlässig"

oder „täuschend". Gefragt war mithin mehr und mehr das von unverrückbaren (spekulativen) Grundannahmen logisch abgeleitete und daher „si- chere Wissen", welches der theoretisch-dogmati- sche Ansatz zu versprechen schien, während der Empiriker als „Versuchsarzt", den Quacksalbern gleichgestellt, in Verruf geriet. Das Aufwands- und Erfolgsdenken spielte eine vergleichsweise unterge- ordnete Rolle und, wenn schon, Mißerfolge konn- ten immer wegrationalisiert werden (zu späte oder unvollständige Behandlung etc.), während „Erfol- ge" natürlich die Theorie bestätigten.

In der Folge galt bis ins 16. Jahrhundert nicht nur in Therapeutik und Medizin die Sicherheit des Wis- sens, ausgedrückt in der Weisheit der Alten, in Über- einstimmung mit der göttlichen Vorsehung und er- worben durch die scholastisch-deduktive Logik als entscheidendes Kriterium für Wissenschaftlichkeit.

Die „geregelte" Erfahrung des 17. Jahrhunderts

Ein epistemischer Wandel setzte im 17. Jahr- hundert ein: Die seit der Renaissance aufkommen- de Erkenntnis, daß die mittelalterliche Scholastik mit dem antiken Erbe selektiv umgegangen war, und die beginnende, auf eigener Beoachtung beru- hende Beschreibung der Welt zum Lobe Gottes setzten anstelle der Weisheit der Alten die eigene Erfahrung als Kriterium von Wissenschaftlichkeit.

Der englische Lordkanzler, Philosoph und Essayist Francis Bacon (1561-1627) formulierte den neuen

(2)

Wissenschaftsbegriff: Er bezeichnete eine aufgrund des klassisch-empirischen Dreifußes gewonnene Erfahrung als „ungeregelt", weil sie auf zwar be- wußt, aber bloß zufällig gemachter und daher sub- jektiver Beobachtung beruhte. Die neue Baconsche Erfahrung dagegen sollte auf kunstvoller Befragung der Natur gemäß gewissen methodischen Kriterien gründen. Diese umfaßten insbesondere die geplan- te, wiederholte Anstellung von vergleichenden Be- obachtungen (Experimenten), die lückenlose Auf- zeichnung der Ergebnisse auf Papier (und nicht länger nur im Gedächtnis) und ihre rechnerische Auswertung. Sie wäre deshalb im heutigen Sinn ob- jektiv. Er nannte sie „geregelte Erfahrung", experi- entia ordinata. Es ging bei diesem epistemischen Wandel also um einen Wechsel von einem theore- tisch-dogmatischen zu einem empirischen, und zwar zu einem neuen empirischen Ansatz, wobei aber sogleich erkannt wurde, daß dieser zwar objek- tive, aber nur wahrscheinliche Kenntnisse zu ver- mitteln vermochte.

Therapeutische Pseudoerfahrung im 18. Jahrhundert

In der Therapeutik kam der neue Erfahrungs- begriff allerdings erst in der zweiten Hälfte des 18.

Jahrhunderts zögerlich zur Anwendung, und zwar vorerst in England. Der Zeitverzug hatte medizini- sche und außermedizinische, vor allem soziale Gründe: In der Medizin selbst gab es kaum neue therapeutische Möglichkeiten, die mit traditionel- len Methoden zu vergleichen sich angeboten hätte.

Sozial gesehen, war das geforderte wiederholte the- rapeutische Experimentieren schwierig durchzu- führen, da sich die Medizin traditionellerweise mit dem Einzelpatienten befaßte, die studierten Ärzte, von klar definierten Ausnahmen abgesehen, vor al- lem mit Angehörigen der Oberschicht. Und diese Wohlhabenden konsultierten sie weniger als Fach- experten denn als allgemeine Ratgeber. Dafür reichte die psychologische Lebenserfahrung, ange- reichert durch fachliche, zwar meist ungeordnete, aber deswegen Sicherheit versprechende und durch ärztliche Autorität gestützte Erfahrung aus.

Im 18. Jahrhundert erkannten einzelne akade- mische Ärzte diese so oft angerufene therapeuti- sche Erfahrung, gemessen an den Baconschen Richtlinien, als Pseudoerfahrung, als nichts anderes als gewöhnliche Routine und/oder als ein Hinein- fallen auf den post hoc-ergo propter hoc-Trugschluß.

Sie forderten daher eine Uberprüfung überlieferter Methoden, wie Aderlaß und Brechmittel bei dem häufigen Schiffs- und/oder Kindbettfieber, im Ver- gleich zum natürlichen Krankheitsverlauf einerseits und zu den neuen Behandlungen mit Chinarinde andererseits. Und, was mehr war, sie führten solche Studien retro- und prospektiv durch.

Kontrollierte klinische Studien im 18. Jahrhundert

Aufstrebende Militär- und Schiffschirurgen so- wie Ärzte und Chirurgen neugegründeter Kranken- häuser, Massenärzte also, verglichen alte und neue Behandlungs- und Operationsmethoden (Skorbut;

Blasensteinschnitt, Staroperation, Amputation, ge- burtshilfliche Eingriffe). Die Indikation zur Ampu- tation beziehungsweise deren Zeitpunkt wurden retrospektiv, ja sogar prospektiv-experimentell überprüft, wobei nicht länger über ausgewählte Einzelfälle, sondern über statistisch erfaßte, unse- lektierte Patientenkollektive publiziert wurde.

Auch Placebostudien lassen sich zu Ende des 18.

Jahrhunderts nachweisen.

In England hieß es, solche Studien sollten die theoretisch-dogmatische Medizin empirisch refor- mieren, endlich auf die epistemische Ebene der üb- rigen Naturwissenschaften heben oder ganz einfach auf die Stufe der abrechnungspflichtigen Kaufleute und Seefahrer bringen. Dadurch sollte der alte Ge- gensatz zwischen Theorie und Empirie bewußt überbrückt werden. Für die neue Gruppe der Kran- kenhausärzte diente dieses Vorgehen auch zum Nachweis ihrer Effizienz gegenüber den Geldge- bern für die neuen Behandlungseinrichtungen, wo- mit sie sich wiederum soziale Respektabilität er- hofften. Nicht zuletzt hatten sich für das Wohlerge- hen ganzer Bevölkerungsgruppen verantwortlich fühlende private oder staatliche Organe (Armee, Handelsflotte, Krankenhäuser) ein Interesse am Einsatz möglichst wirksamer und billiger Maßnah- men in ihren Einrichtungen. Wie für die Verzöge- rung, so waren also auch für die Förderung der Ba- conschen Erfahrung in der Therapie medizinische und soziale Gründe verantwortlich.

Widerstände im 19. Jahrhundert

Die Opposition, welche sich in Paris in den 1830er Jahren gegen die Anwendung objektivie- rend-statistischer Methoden artikulierte, argumen- tierte hingegen im Namen einer altehrwürdigen

„ärztlichen Kunst", deren Subjektivität 1835 in ei- nem Redeschwall von sieben aufeinanderfolgenden Sitzungen der Pariser Aca&mie Royale de M6deci- ne offenbar wurde. Es hieß, Gruppenversuche be- raubten die Patienten ihrer Individualität, und mit den daraus hervorgehenden Wahrscheinlichkeiten ließen sie die Medizin zum Glücksspiel verkom- men. Die alte (subjektive) Sicherheit könne doch nicht durch Wahrscheinlichkeit ersetzt werden. Als

„moderne" Einwände wurden ethische vorgebracht (Vernachlässigung der Minderheiten bei den obli- gaten Mehrheitsbefunden) sowie die pragmatische Schwierigkeit, die benötigten großen vergleichba- ren Patientenkollektive zu finden, und die Irrele- vanz von solchen stammender Daten für den indivi- A-3220 (50) Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991

(3)

duellen Arzt, der sich ja nicht einer Gruppe, son- dern einem Individuum gegenübersähe — sofern er nicht Hygieniker war.

So kam man schließlich um die Jahrhundert- mitte zu dem Kompromiß, daß die Statistik für die Hygiene- und Sozialmedizin, wo Gruppeninteres- sen in Frage standen, taugte, nicht aber für die wah- re wissenschaftliche Grundlagen- und klinische Me- dizin. Der Kliniker Armand Trousseau schrieb 1861: „Die Statistik tötet die medizinische Intelli- genz", und der Physiologie- und Medizintheoreti- ker Claude Bernard formulierte 1865: „Die Statistik kann nur wahrscheinliche Resultate liefern, was wir aber wollen, ist sicheres Wissen."

Klarerweise ging es bei diesen Auseinanderset- zungen nicht nur um die Methode an sich, sondern

— die sozialen Hindernisse und Förderungsmotive zeigen es klar — auch um das ärztliche Selbstver- ständnis, und vielleicht um die Bewahrung der Indi- vidualität des Patienten.

Neue „Sicherheit" dank Technologie und

einseitiger Statistik

Die Opposition der Kliniker wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß die Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf zwei Wegen nach neuer theoretischer Sicherheit unter- wegs war: einmal auf dem Weg der Objektivierung

der Erklärung von Krankheitsursachen und der Diagnosestellung. Dieser Weg führte zur Anwen- dung von Labormethoden in Forschung und Klinik

— von der Urinuntersuchung über die Bakteriologie zu Funktionstests — beziehungsweise zum Einsatz von diagnostischen Apparaten — vom Stethoskop via die optischen „Skope" zu Röntgenbild und Elektrokardiogramm. Der zweite Weg bestand in der Absicherung der Erfahrung mittels Statistik.

Als Beispiel für dieses Streben nach Sicherheit in der Therapeutik sei hier als neues Feld die dank Anästhesie, Anti- und Asepsis sich im letzten Drit- tel des 19. Jahrhunderts ständig erweiternde, mo- derne Chirurgie angeführt. Nach dem alten theore- tisch-dogmatischen Prinzip „causa tollitur" trachte- te sie, Krankheiten wie Krebs oder chronische In- fektionen nun planmäßig wegzuoperieren. Eine Evaluation der sich stets erweiternden operativen Möglichkeiten erfolgte zwar; in diesem Sinn gab es keinen streng theoretisch dogmatischen Ansatz mehr, aber sie erfolgte nicht nach Baconschen Richtlinien, sondern einseitig: Immer größere Fall- zahlen enthaltende Statistiken sollten die zuneh- mende Sicherheit der Eingriffe dokumentieren und dadurch das Vertrauen der nichtoperierenden Ärz- te und Patienten in die moderne Chirurgie gewon- nen werden. Dieses Vorgehen war gewiß zur Selbst- kontrolle der Chirurgie wichtig, sagte aber häufig

nichts über die eigentliche Wirksamkeit von Opera- tionen, besonders bei chronischen Krankheiten aus.

Diese wurde trotzdem oft daraus extrapoliert, weil man von der theoretisch-dogmatischen Meinung ausging, es existiere keine andere Behandlungs- möglichkeit und die Chirurgie sei besser als keine Behandlung. Als dann um 1900 therapeutische Al- ternativen, zum Beispiel Strahlenbehandlung des Krebses, Heliotherapie der Knochen- und Gelenks- tuberkulose, aufkamen, wurde das Problem der ver- gleichenden Erfolgsbewertung von neuem erkannt, doch nur ganz vereinzelt unter Einbeziehung ver- gleichender Statistiken angegangen.

Vergleichend gemessene Erfahrung als Maßstab

In der Zwischenkriegszeit stellten der Psy- chiater E. Bleuler in seinem „Autistisch-undiszipli- nierten Denken in der Medizin" (1. Aufl. 1919) und der Internist P. Martini in seiner „Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Forschung" (1931) die Illusion mancher bisher auf ungeregelter Erfahrung als „Erfolg" bewerteter Maßnahme klar dar. Sie zeigten auch Wege zu deren Überwindung. Endlich wurde damit im deutschen Sprachgebiet das Pro- gramm des englischen 18. Jahrhunderts, natürlich auf modernstem mathematischen Stand, aufgenom- men.

Die Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg verlief allerdings, zumal in Deutschland, keines- wegs geradlinig, wobei die Statistiker hierzulande unter sich über die Anwendbarkeit der small sample theory uneinig waren, die Ärzte, zum Beispiel die Chirurgen, aber unter Kommunikationsschwierig- keiten mit den weiter fortgeschrittenen Angelsach- sen, unter sich sowie mit den Statistikern litten. Zu den alten sozialen Hemmnissen kamen wiederum ethische und neuerdings auch rechtliche Bedenken, wobei die ethischen wegen der hier während der nationalsozialistischen Herrschaft durchgeführten abscheulichen Menschenversuche besonders im Blickfeld waren. Durch die Schaffung der soge- nannten Ethikkommission, welche Forschungspro- jekte am Menschen gemäß der mehrfach revidier- ten Deklaration des Weltärztebundes von Helsiniki (1964) zu begutachten haben, wird diesen Beden- ken seit gut zehn Jahren entgegengetreten.

Wechselnde Akzeptanz

Hier kann nicht weiter auf die Gründe für das Öffnen des Baconschen Methodenfächers für die Therapiebewertung und die Überbrückung des Ge- gensatzes von Theorie und Empirie im 18. Jahrhun- dert, die Stagnation, ja sogar die Rückfälle in die reine Theorie im 19. Jahrhundert und das Wieder- öffnen des Fächers nach dem zweiten Weltkrieg Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991 (53) A-3221

(4)

eingegangen werden, als das bisher geschehen ist.

Zusammenfassend soll dazu jedoch festgehalten werden, daß der Objektivierung der therapeuti- schen Erfahrung Zeiten und Bestrebungen förder- lich waren, die ihr Augenmerk in der Medizin nicht nur auf das individuelle Wohl, sondern auch auf dasjenige von Bevölkerungsgruppen richteten, wie die merkantilistische Staatsphilosophie des aufge- klärten 18. Jahrhunderts oder im 20. Jahrhundert das Konzept des Wohlfahrtsstaates. Der Objekti- vierung standen aus medizinimmanenten wie auch aus äußeren, das heißt sozialen und ethischen Gründen große Schwierigkeiten entgegen, wobei nicht zuletzt auch der Umgang mit der damit ver- bundenen Wahrscheinlichkeit der Aussagen ein Problem bildete. Das hat unter anderem damit zu tun, daß das Sicherheit vortäuschende post hoc-ergo propter hoc-Denken so alt und im Publikum, wie lei-

der auch noch bei Ärzten, weit verbreitet ist. Die probabilistische Natur der geregelten Erfahrung dagegen ist relativ neu. Die alte Sicherheit wäre vie- len lieber. Das war und bleibt genau das Verspre- chen alternativer theoretisch-dogmatischer Syste- me, die sich neuerdings erst noch mit einer werbe- textlich genialen Sprachschöpfung als „Erfahrungs- medizin" bezeichnen. Beide, der an der Universität ausgebildete Arzt und der „Erfahrungsmediziner", sprechen von Erfahrung — nur verstehen sie, wie wir gesehen haben, darunter nicht dasselbe. Auch ist weder die alte Spannung zwischen Kollektiv und Einzelfall gelöst, noch sind es die statistisch-metho- dischen Probleme. Ferner war und ist es bis heute nicht in jedem Fall nötig, und gar nicht durchführ- bar, die Erfahrung mit dem gesamten methodisch- technischen Aufwand der jeweiligen Zeit zu objek- tivieren.

Ein neuer Erfahrungsbegriff?

Wir scheinen bei der Bewertung der Therapie eingespannt zu sein zwischen theoretischem und verschiedenen Arten von empirischem Denken.

Die heutige Frage ist aber nicht mehr die eines Ge- gensatzes zwischen theoretischem und empirischem Ansatz. Dieser ist überbrückt worden; beide Fra- gen, ob eine Therapie wirken kann und ob sie wir- ken wird, werden sequentiell gestellt und mit mög- lichst guten Analysen und kontrollierten klinischen Studien zu beantworten versucht. Heute wie in Zu- kunft wird ausschlaggebend sein, wie wir beide An- sätze vermischen. Darin liegt eine Herausforderung unserer durch die Vergangenheit bestimmten Ge- genwart und Zukunft, nicht etwa im Zurück- oder gar Abgleiten auf die Stufen eben dieser Vergan- genheit. Dafür bestehen allerdings mit der zuneh- menden unkritischen Verwendung unkonventionel- ler Heilmethoden bedenkliche Anzeichen. Dabei ist zu beachten, daß sowohl das theoretische Ursa- chendenken wie auch der empirische Ansatz noch

zu erheblichen Erweiterungen fähig sind. Erinnert sei an die Molekularbiologie einerseits, das clinical judgement in der Art A. Feinsteins andererseits. Die gewisse Enttäuschung über die Ergebnisse der „Ob- jektivierungswelle" der letzten 40 Jahre beruht ne- ben den eingangs diskutierten Gründen auch noch darauf, daß gerade in dem Maße, in dem die Ent- wicklung der theoretischen und klinischen Wissen- schaften objektive Schwierigkeiten des therapeuti- schen Fortschritts in manchen Fällen verminderte, in der alltäglichen Anwendung subjektive Hinder- nisse besonders auffallen: Die Vertreter der Objek- tivität, die eine methodisch validierte therapeuti- sche Erfahrung vertretenden Ärzte, und der Sub- jektivität, also vorab die Patienten, sprechen eine Sprache, die gegenseitig weniger und weniger ver- standen wird.

So müßte der empirische Ansatz, und das wäre historisch neu, erweitert — nicht etwa ersetzt — wer- den durch einen allerdings bewußten und kunstge- recht definierten Einbezug subjektiver Elemente von Arzt und Patient in die Interpretation der durch die unverzichtbaren Methoden geregelter Erfah- rung gewonnenen Daten. Dafür gibt es erste, aus der Hermeneutik stammende Hinweise. Eine ei- gentliche medizinische Interpretationskunst unter Berücksichtigung von kulturellen Elementen und Wertsystemen von Arzt und Patient in unserer plu- ralistischen Gesellschaft bleibt aber noch zu erar- beiten. Als neuer, den Anforderungen unserer Zeit gemäßer Erfahrungsbegriff entstünde dann derjeni- ge der integrierten Erfahrung.

Literatur

1. Armitage, P.: Trial and errors: The emergence of clinical stati- stics, J. R. Stat. Soc., Ser. A (General) 146 (1983) 321-334 2. Feinstein, A.: Clinical Judgment, Baltimore, Williams and Wil-

kins, 1967

3. Hellman, S.; Hellman, D. S.: Of mice but not man. Problems of the randomized clinical trial. N. Engl. J. Med. 324 (1991) 1584-1589

4. Lilienfeld, A. M.: Ceteris paribus: the evolution of the clinical trial. Bull. Hist. Med. 56 (1982) 1-18

5. Lorenz, W.; Röher, H. D.: Entwicklung wissenschaftlicher Aus- sagen, in : H. W. Schreiber und G. Carstensen: Chirurgie im Wandel der Zeit 1945-1983. Berlin—Heidelberg—New York, Springer (1983) 28-35

6. Passamani, E.: Clinical trials are they ethical? N. Engl. J. Med.

324 (1991) 1589-1591

7. Tröhler, U.: Die Gewißheit der Chirurgie: Grundlagen klinisch- therapeutischer Bewertungen um 1750. Schweiz. Rundschau Med. (Praxis) 76 (1987) 958-961

8. Tröhler, U.: The crooked path towards the objectivation of the- rapeutic experience. Rec. Res. Cancer Research 111 (1988) 1-5 Detailliertere Quellenangaben beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Ulrich Tröhler, Ph. D.

Institut für Geschichte der Medizin der Universität Göttingen

Humboldtallee 11 W-3400 Göttingen A-3222 (54) Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Der Konzern soll mindestens vier Studien zur Wirkung von Pa- roxetin auf Kinder und Ju- gendliche verheimlicht und nur eine Studie veröffentlicht haben, die gemischte Auswir- kungen

Der For- derung, die Wirksamkeit einer Therapie durch klinische Studien nachzuweisen, halten Befürworter und Anwender sol- cher Therapien häufig entgegen, ein Stu- diennachweis

Eine ClinicalTrials.gov vergleichbare Datenbank gibt es in Europa nicht; nur Ansätze sind erkennbar. Dafür mag es manche Gründe geben. Wer jemals die Analyse einer Studie durch

Wahl nur ungenügend ansprechen, konnte gezeigt werden, daß 25 Prozent dieser bisher schwer therapierbaren Pati- enten anfallsfrei wurden und weitere 26 Prozent eine

In diesem Fall richtete sich die Gewalt also nicht nur gegen einen Arzt, sondern wurde auch von einem Arzt aus- geübt.. Tatmotiv war die Krän- kung, von einem Kollegen als

❃ Die Symptome können durch nicht aggressive therapeutische Maßnahmen (PUVA für CTCL beziehungsweise An- tibiotika bei einigen Fällen von CBCL) in klinisch komplette Remission

Eine Dokumenta- tion in fünf europäischen Ländern einschließlich Deutschland (4) ergab, dass nicht einmal die Hälfte der Arznei- mittel einer pädiatrischen Allgemein-

Psycholo- gen, die aufgrund ihrer Aus- bildung nur Psychotherapie leisten können, werden jetzt besser gestellt als Fachärzte für Kinder- und Jugendpsych- iatrie oder andere Fachärz-