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Archiv "Versorgung Älterer Patienten: Plädoyer für die Altersmedizin" (29.07.2011)

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A 1622 Deutsches Ärzteblatt

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29. Juli 2011

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inder werden im Krankenhaus von Kinderärzten behandelt, weil sich Kinder in vielen Aspekten von Erwachsenen unterscheiden: Sie sind vulnerabler, Erkrankungen prä- sentieren sich oft auf andere Art als im späteren Leben. Der Umgang mit Kindern erfordert Erfahrung und Wissen. Es gibt aber noch eine Gruppe, auf die Ähnliches zutrifft:

hochbetagte Menschen. Auch sie sind vulnerabel, Krankheitsbilder präsentieren sich komplex, und der Umgang mit ihnen ist oft schwierig.

Doch werden diese Patienten – gera- de in Krankenhäusern der Maximal- versorgung – meist von Ärzten be- handelt, die keine spezifische Aus- bildung haben. Ist das gerechtfertigt – oder brauchen wir eine spezifische altersmedizinische Versorgung?

Ein Editorial des „Lancet“ (1) spricht sich für einen Ausbau alters- medizinischer Betreuung aus. Bei dieser Einschätzung stützt sich der Autor auf eine Untersuchung zu pe- rioperativen Problemen älterer Pa- tienten (2). Zugrunde liegen die Da- ten älterer Patienten (ab 80 Jahre),

die von April bis Juni 2008 in einem britischen Krankenhaus operiert wur- den und innerhalb von 30 Tagen nach der OP starben. Ausgewertet wur- den 820 Patientenakten und etwa 2 000 Fragebögen, die von den be- handelnden Ärzten ausgefüllt wur- den. Die Gutachter kamen zu dem Schluss: Nur etwa ein Drittel (36 Prozent) der Patienten erhielt eine Behandlung, die sich als gut oder angemessen bezeichnen ließ. Klas- sische altersmedizinische Probleme wurden nicht dokumentiert: Ein schlechter Ernährungszustand wurde in 43 Prozent der Fälle übersehen, ei- ne kognitive Beeinträchtigung in 25 Prozent und eine bedeutsame Mobi- litätseinschränkung bei 20 Prozent.

43 Prozent der Patienten litten bereits vor dem Klinikaufenthalt an Ein- schränkungen bei einfachen Alltags- verrichtungen. Zwei Drittel der Pa- tienten wiesen die Kriterien von Ge- brechlichkeit (frailty) auf.

Alte Menschen sind anfälliger für Komplikationen

Die Gutachter verwiesen auf die Komplexität bei älteren chirurgischen Patienten: Nur vier Prozent waren bei Aufnahme frei von Begleitkrankhei- ten. Die Multimorbidität korrelierte wiederum mit einer Multimedikation.

So erhielten 62 Prozent der Patienten vor Aufnahme mehr als fünf Medika- mente, 20 Prozent sogar mehr als zehn. Die Gutachter bemängelten, dass weniger als ein Viertel der Pa- tienten von einem altersmedizinisch erfahrenen Arzt gesehen wurde.

Natürlich erlaubt diese retro - spektive Beobachtungsstudie keinen

Überblick über die stationäre Be- handlung älterer chirurgischer Pa- tienten. Doch sie lenkt den Blick auf die Schwachstellen. Die hier ge- schilderten Probleme beschränken sich wahrscheinlich nicht auf Groß- britannien und auch nicht auf chir - urgische Patienten. Auch bei hoch- betagten, internistischen Patienten werden ähnliche Schwierigkeiten bei der Behandlung auftreten. Wer die Versorgung älterer Patienten verbes- sern will, muss nach ihren Beson- derheiten fragen. Dazu zählen ins- besondere folgende Problemfelder:

Vulnerabilität, Komplexität und Ak- tivitäten des täglichen Lebens.

Das wesentliche Merkmal des Alters besteht in der Zunahme der Vulnerabilität. Je älter ein Mensch wird, desto schwieriger wird es, die Homöostase aufrechtzuerhal- ten. Unter normalen Bedingungen reicht die funktionelle Kapazität der Organsysteme auch beim älteren Menschen. Anders sieht es unter Belastung aus – und jede Kranken- hausaufnahme bedeutet eine Belas- tung. Kann ein jüngerer Mensch auf Reserven und Ressourcen zurück- greifen, so stehen diese dem älteren Menschen nicht mehr zu Verfügung, da die maximalen Organkapazitäten abnehmen. Das macht ältere Patien- ten anfälliger für Komplikationen aller Organsysteme.

Die eingeschränkten Reserven sind bei stationären Aufnahmen äl- terer Patienten meist nicht offen- kundig. Der Blick richtet sich auf das akute Problem, wie beispiels- weise auf eine Fraktur oder ein aku- tes Abdomen. Dabei werden vorbe-

Medizinisch- Geriatrische Klinik, AGAPLESION Frankfur-

ter Diakoniekliniken:

Priv.-Doz. Dr. med.

Püllen Lehrstuhl Geriatrie, Universität Ulm, AGAPLESION Bethesda Klinik Ulm: Prof.

Dr. med. Nikolaus

Foto: Superbild

VERSORGUNG ÄLTERER PATIENTEN

Plädoyer für

die Altersmedizin

Die heutige Medizin ist durch eine organbezogene Spezialisierung geprägt. Davon können ältere Patienten aber nur profitieren, wenn die Behandlung in eine umfassende geriatrische Versorgung eingebettet ist.

Rupert Püllen, Thorsten Nikolaus

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hen, wie zum Beispiel eine leichte kognitive Beeinträchtigung oder ei- ne Gangstörung. Unter dem Stress der Akuterkrankung und der Klinik - aufnahme können sich die Organ- systeme in ihrer Funktion ver- schlechtern. Dann treten die für äl- tere vulnerable Patienten so typi- schen Komplikationen auf: Die ko- gnitive Funktion verschlechtert sich bis hin zum Delir. Die Gangstörung führt zu Stürzen. Oftmals gelingt es zwar, das akute medizinische Pro- blem zu beheben. Der Verlauf wird jedoch bestimmt durch die Dekom- pensation anderer Organsysteme mit funktionellen Defiziten wie Verwirrtheit oder Immobilität. Die- ser Umstand kann dazu beitragen, dass ein älterer Patient trotz erfolgreicher Akutbehandlung nicht mehr nach Hause zurückkehren kann, sondern pflegeabhän- gig wird.

Viele Fortschritte in der Medizin sind einer Spezialisierung zu ver- danken. Immer mehr Ärzte beherr- schen hochspezialisierte Prozedu- ren. Diese Fertigkeiten bedeuten eine große Hilfe für Patienten mit genau diesem einen Problem. Die Wirklichkeit hochbetagter Patienten sieht anders aus: Multimorbidität und Multimedikation. Dies bedingt eine große Komplexität. Sie wird durch den individuellen psychoso- zialen Kontext gesteigert. Doch wird diese Komplexität bislang im Krankenhaus wenig berücksichtigt, nicht zuletzt, weil sie die Grenzen des einzelnen – meist organbezoge- nen – Fachgebietes sprengt.

Multimorbidität macht die Behandlung komplex

Wie wenig gerade hochspeziali - sierte Kliniken auf die Komplexi- tät vorbereitet sind, erkennt man, wenn solche Patienten stationär aufgenommen werden. In welche Fachabteilung kommt ein gebrech- licher, hochbetagter Patient mit ko- gnitiven Beeinträchtigungen, aus- geprägter Gangstörung und Ge- wichtsabnahme? Ist es ein Zeichen für gute Medizin, wenn schließlich ein leicht erhöhter Kreatininwert dazu führt, dass ein solcher Patient

in eine nephrologische Abteilung kommt? Evidenzbasierte Leitlinien geben Hilfe beim Umgang mit ein- zelnen Erkrankungen. Doch ist es sinnvoll, bei einem 85-jährigen Pa- tienten mit sechs behandlungsbe- dürftigen Krankheiten tatsächlich sechs Leitlinien zu anzuwenden?

Ärzte müssen geriatrisch geschult werden

Hauptsache gesund – dieser oft zi- tierte Wunsch verliert für ältere Menschen an Bedeutung. Ab ei- nem bestimmten, individuell unter- schiedlichen Alter findet man bei je- dem medizinisch gut untersuchten Menschen mindestens eine Erkran- kung. Die meisten älteren Men-

schen sind realistisch genug, zu wissen, dass viele Krankheiten sie auf Dauer begleiten werden. Etwas anderes ist ihnen wichtiger: Unab- hängigkeit und Selbstständigkeit – trotz ihrer Erkrankungen. Eine pa- tientenorientierte Medizin muss sich an diesem Wunsch orientieren. Für ältere Patienten heißt es deshalb:

Hauptsache selbstständig.

Der klinische Alltag vieler Kran- kenhäuser berücksichtigt diesen Wunsch wenig. Hier geht es mehr um Krankheiten als um Defizite bei den Aktivitäten des täglichen Le- bens (ADL). Natürlich sind klinisch chemische Parameter wie das Ge- samtcholesterin, das Blutbild und der arterielle Blutdruck wichtig.

Aber ebenso wichtig ist die Frage nach Alltagsaktivitäten: Kann ein älterer Mensch allein aufstehen, ge- hen, essen und die Toilette benut- zen? Der medizinische Betrieb ist sehr auf Diagnosen ausgerichtet.

Das Vergütungssystem für stationäre Leistungen basiert auf den Diagnosis Related Groups (DRGs). In Studium und Weiterbildung werden Krank- heiten vermittelt. Bei Visiten hoch- betagter Patienten achtet man eher auf den Verlauf der Akuterkrankung und weniger auf den funktionel- len Status. Entlassbriefe zahlreicher

Kliniken bieten oft viele Befunde zu Krankheiten, lassen aber nicht erkennen, ob ein Patient überhaupt gehen oder stehen kann.

Das Dilemma wird durch die im- mer noch unzureichende Veranke- rung in der universitären Lehre ver- stärkt. Zwar ist das Querschnitts- fach Altersmedizin im Curriculum des Medizinstudiums mittlerweile Pflicht. Vielfach gibt es jedoch kei- ne geriatrischen Fachabteilungen oder akademisch ausgebildete Ger- iater als Dozenten. Versorgungsfor- schung sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit geriatri- schen Syndromen und Besonder- heiten im Alter sind nur an wenigen Universitäten etabliert. Bei einer

repräsentativen Umfrage an den deutschen Hoch- schulen Ende der 90er Jahre existierten an vier Standorten geriatrische Lehrstühle und an einer Universität eine Honorar- professur. Seither ist an den 37 Fa- kultäten nur ein Lehrstuhl hinzuge- kommen (3, 4).

Die Medizin muss sich an den Bedürfnissen der Patienten orien- tieren. Folgende Punkte können zu einer besseren Versorgung älterer Patienten beitragen:

stärkere Berücksichtigung al- tersmedizinischer Inhalte in Aus- Weiter- und Fortbildung

geriatrischer Konsildienst und Etablierung geriatrischer Fachab- teilungen an Krankenhäusern, die hochbetagte Patienten behandeln

Schwerpunkt Geriatrie in der Inneren Medizin unter Beibehal- tung der Zusatzweiterbildung Ger- iatrie für Ärzte anderer Gebiete

Zertifikate für Ärzte, die älte- re Patienten betreuen (zum Beispiel Pflegeheimmedizin für Hausärzte)

Verankerung der Geriatrie an den Universitäten.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2011; 108(30): A 1622–3

Anschrift für die Verfasser Priv.-Doz. Dr. med. Rupert Püllen, Chefarzt der Medizinisch-Geriatrischen Klinik AGAPLESION Frankfurter Diakoniekliniken Holzhausenstraße 72–92, 60322 Frankfurt Rupert.Puellen@fdk.info

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit3011

Hauptsache gesund – dieser Wunsch verliert für alte Menschen an Bedeutung.

Hier heißt es: Hauptsache selbstständig.

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LITERATIRVERZEICHNIS HEFT 30/2011, ZU:

VERSORGUNG ÄLTERER PATIENTEN

Plädoyer für

die Altersmedizin

Die heutige Medizin ist durch eine organbezogene Spezialisierung geprägt. Davon können ältere Patienten aber nur profitieren, wenn die Behandlung in eine umfassende geriatrische Versorgung eingebettet ist.

Rupert Püllen, Thorsten Nikolaus

LITERATUR

1. Respect and care for the older person. Edi- torial. Lancet 2010; 376: 1711.

2. An Age Old Problem. A review of the care received by elderly patients undergoing sur- gery. A report by the National confidential Enquiry into patient outcome and death, 2010. http://www.ncepod.org.uk/2010re port3/downloads_EESE_fullReport.pdf 3. Nikolaus T. Geriatrie in Forschung und Wis-

senschaft. Internist 2000; 41(6): 504–7.

4. Nikolaus T. Forschung und Lehre in der Geriatrie an deutschen Universitäten und Hochschulen. Z Gerontol Geriatr. 1998;

31(4): 277–80.

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Referenzen

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