L
ange Zeit ging ich davon aus, dass mein einge- trübter Blick auf die Dinge dieser Welt Aus- druck gravierender berufsbedingter Zerfallsprozesse sei. Ich vermute, Sie kennen dieses Gefühl, wenn man sich am Ende eines langen Arbeitstages fühlt wie ein altes abgeriebenes Stück Parmesan. Nur noch unscharf nahm ich in diesen Momenten wahr, wassich vor meinen geistigen als auch tatsächlichen Augen abspielte. Nun, er- leichtert war ich schon, als es sich als simple Degene- ration meiner Linse herausstellte, korrigier- bar durch fein säuberlich abgestimmte Dioptrien. Der daraufhin konsultierte, ebenso freundliche wie fachkundige Optiker erklärt mir nun, dass es opportun sei, für die unterschiedlichen Situa- tionen im Leben auch verschiedene Brillen zu tragen, um sich auf diese Augenblicke optimal visuell einstel- len zu können. Das verstehe ich nicht so ganz. Heißt das, dass mir während des Arbeitens andere Dioptrien auf die Sprünge helfen sollen als beispielsweise während des Autofahrens? „Genau, wir können das optimal auf Ihre Bedürfnisse einstellen, sodass Sie die für Sie wichtigen Dinge gestochen scharf erkennen können.“ Das ist ja fantastisch! Das ist ja unglaublich!
Da eröffnen sich neue Dimensionen selektiven Se- hens! Das heißt also, er könnte mir die Brille so auf- setzen, dass ich unter den vielen Kilometern eng be- schriebenen Papiers, die mir wöchentlich ins Haus flattern, die einzig relevanten Informationen auf einen Blick erkennen kann?! Gestochen scharf zwischen dem ganzen anderen Wortmüll? Der freundliche Op- tiker guckt mich reichlich befremdlich an, sagt aber nichts, also fahre ich fort. Dass mir endlich mal die schlimmen Passagen im Kleingedruckten von Verträ- gen sofort ins Auge springen? Dass ich in den medizi- nischen Fachartikeln sofort die Statistiken und Be- hauptungen herauslesen kann, die hinten und vorne nicht stimmen? Dass ich bei neuen Medikamenten zweifelsfrei die Nebenwirkung erkennen kann, die bei meinen Patienten zu schweren Schäden führt, obwohl die Pharmafirma davor die Augen verschließt? Mein Gegenüber fasst mich kritisch ins Auge, ich bin aber in meiner Begeisterung nicht mehr zu bremsen. Er kann mir also eine Brille konstruieren, die das Durch- lesen von sechsseitigen Krankenhausentlassungsbe- richten derart optimiert, dass ich die wesentlichen beiden Halbsätze beim ersten Hingucken erkenne?
Oder das Studium von 25-seitigen Berichten aus der Rehaklinik auf weniger als zehn Se- kunden verkürzt? Der Optiker wendet im Grausen seinen Blick ab, sagt aber immer noch nichts. Er könnte mir, so schlage ich ihm vor, eine Brille anpassen, die mir Arztbriefe, welche aufgrund völlig über- flüssiger Berichtspflicht erstellt werden, als solche sofort sichtbar machen. Damit ich sie genauso umgehend wie ungelesen abheften kann. Der Optiker schaut mich von schräg unten an. In mir keimt der Verdacht, dass er mich für allzu workaholisiert hält. Also wechsele ich die Problemzone und frage ihn, ob er mir das Seh- gerät so anfertigen kann, dass ich auf Autobahnen und Landstraßen meine Umgebung bei mehr als 200 Stun- denkilometern Geschwindigkeit endlich wieder scharf auf meiner Retina abgebildet kriege. Eine solche Hast sei schon mal erforderlich, wenn man dringend zu ei- nem Notfall eilen muss. Der Optiker schaut mich ent- setzt an: „Herr Dr. Böhmeke, das ist jetzt nicht Ihr Ernst!“ Nein, nein, versuche ich ihn zu beruhigen, da kann nichts passieren. Erstens bin ich Arzt, zweitens verfüge ich über eine belastbare Lebensversicherung und drittens einen Organspendeausweis. Insofern keinerlei Anlass zu Bedenken, für jede Eventualität sei gesorgt. Er blickt mich lange und bedächtig an und meint schließlich: „Herr Dr. Böhmeke, ich fürchte, Sie haben da etwas falsch verstanden. Wir sind für Proble- me zuständig, die sich vor der Netzhaut abspielen und nicht dahinter.“
Ist ja gut. Ich weiß, ich hab’s wieder ein bisschen übertrieben. Aber wäre es nicht schön, wenn es so ein Gerät geben würde?
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.
[116] Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 28–2914. Juli 2008
S C H L U S S P U N K T
VON SCHRÄG UNTEN
Selektives Sehen
Dr. med. Thomas Böhmeke