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Archiv "Tinnitus: Wenn Gewitter über die Hörnerven huschen" (05.05.2000)

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artin Luther, Jean-Jaques Rousseau, Francisco Goya, Ludwig van Beethoven, Friedrich Smetana. Sie alle hörten Tö- ne, die nicht durch Schall von außen verursacht wurden. Smetana hat sein Leiden im Streichquartett Nr. 1 e-moll

„Aus meinem Leben“ musikalisch dargestellt. Die fröhliche Volksmusik wird plötzlich durch ein lautes hohes E der ersten Violine unterbrochen, begleitet von einem dramatischen Tremolo der anderen Streicher.

Es hat das Symptom „Tinnitus“

also schon immer gegeben. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und be- deutet „Klingeln, Geklingel“, abge- leitet vom Verb „tinnire“. Als Tinni- tus werden gehörte Wahrnehmungen (Hörereignisse) bezeichnet, denen kei- ne tatsächlichen akustischen Signale aus der Umwelt (Schallereignisse) ent- sprechen und die keinen Informati- onswert für den Betroffenen besitzen.

Tinnitus ist nicht physikalisch mess- bar, er wird nur vom betroffenen Menschen wahrgenommen. Die Be- troffenen nehmen verschiedenartigste Geräusche wahr: Picken, Pochen, Brausen, Brummen, Summen, Rau- schen, Schwirren, Säuseln, Zischen, Kochen, Knarren, Knistern, Knacken, Läuten, Pfeifen, Singen, Klingen und dergleichen mehr.

In den letzten Jahren leidet eine zunehmende Zahl von Menschen an Tinnitus, oft in Verbindung mit Hör- sturz und Schwindel. Bei vielen be- steht gleichzeitig eine Überempfind- lichkeit gegen laute Töne oder Geräu- sche (Hyperakusis). Rund drei Millio- nen Menschen in Deutschland leiden nach der jüngsten Untersuchung der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL) an ständigen Ohrgeräuschen – die Hälfte

mittelschwer oder bis zur Unerträg- lichkeit. Der Tinnitus hat bei ihnen Schlaf- und Konzentrationsstörun- gen, Angstzustände, depressive Ver- stimmungen oder manifeste Depres- sionen zur Folge.

Wie stark ein Patient durch den Tinnitus beeinträchtigt wird, ist indi- viduell sehr unterschiedlich. Einige empfinden die Ohrgeräusche zwar als störend und unangenehm, werden da- durch jedoch nicht in ihrer Wahrneh- mungswelt und Leistungsfähigkeit be- einträchtigt (kompensierter Tinnitus).

Wird der Patient infolge der ständigen Wahrnehmung der Ohrgeräusche in seiner geistigen, psychischen und kör- perlichen Leistungsfähigkeit erheb- lich beeinträchtigt und unter Umstän- den krank und arbeitsunfähig, be- zeichnet man dies als dekompensier- ten Tinnitus.

Tinnitus kann sich plötzlich oder allmählich einstellen. Die leichteste Form des Tinnitus, der akute, vor- übergehende, kompensierte Tinnitus, ist als Ohrenklingen sehr verbreitet und harmlos. Die schwerste Form des Tinnitus ist der chronische dekom- pensierte Tinnitus. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es alle denkba- ren Zwischenstufen.

Viele niedergelassene Ärzte füh- len sich unsicher bei der Behandlung dieses komplexen Krankheitsbildes.

Dass nur wenige Ärzte bei Tinnitus bisher kompetente Hilfe anbieten können, geht aus einer von der Deutschen Tinnitus-Liga initiierten Studie hervor. Demnach beurteilen nur 39 Prozent der Betroffenen die ärztliche Unterstützung als hilfreich, 23 Prozent fanden sie wenig hilfreich und 38 Prozent unzureichend.

Systematische Anamnese per PC-Checksystem

Hilfe für niedergelassene Ärzte bietet das Checksystem Tinnitus, das die Firma Dr. Willmar Schwabe Arz- neimittel bei einem Kongress in Dresden vorgestellt hat. Das Infor- mationssystem auf CD-ROM für den Praxis-PC enthält für den niederge- lassenen Arzt handhabbare diagno- stische und therapeutische Richtlini- en und Empfehlungen für eine qua- litätsgesicherte Behandlung und Be- treuung des Tinnitus-Patienten. Das Checksystem umfasst einen Leitfa- den und Erfassungsbogen für eine systematische Anamnese, einen dia- gnostischen Stufenplan mit Checkli- sten und eine Zusammenfassung an- erkannter und alternativer Behand- lungsverfahren.

Außerdem zeigt es ein interdis- ziplinäres Tinnitus-Management auf, die optimale Zusammenarbeit zwi- schen Hausarzt, HNO-Arzt und Ärz- ten anderer Fachgruppen, wie sie vor allem beim chronischen Tinnitus wich- tig wird. Die CD-ROM enthält auch aktuelle Erkenntnisse zu den Ursa- chen und der Entstehung des Tinnitus.

A-1194 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 18, 5. Mai 2000

P O L I T I K MEDIZINREPORT

Tinnitus

Wenn Gewitter über die Hörnerven huschen

Höreindrücke ohne Schallereignis sind für die Patienten sehr belastend. Nach neueren Hypothesen handelt es sich hierbei um eine Störung zentraler Verarbeitungsprozesse.

M

Tinnitus-Formen

Akut:Ohrgeräusche treten plötzlich oder innerhalb kurzer Zeit auf.

Subakut:Ohrgeräusche beginnen all- mählich und werden erst mit der Zeit lauter, oder Tinnitus besteht länger als drei Monate.

Chronisch:wenn seit dem Auftreten der Hörgeräusche ein Jahr oder mehr vergangen ist.

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Bei der Entstehung des Tinnitus spielen häufig ein Hörsturz, Lärm, Durchblutungsstörungen oder Verän- derungen der Halswirbelsäule eine Rolle. Andere Auslöser können ein akuter Verschluss des Gehörgangs, eine Mittelohrentzündung, degene- rative Innenohrerkrankungen, Stress, emotionale Konflikte, Vergiftungen und Medikamente oder auch eine Meningitis sein. Ebenso wie der Tin- nitus entzieht sich der Hörsturz bisher eindeutiger ätiologischer und patho- genetischer Erklärungen. Bei bei- den Krankheitsbildern spielen wahr- scheinlich häufig Stress und andere psychische Faktoren als Auslöser eine Rolle.

Ein häufiges Feld von Ursachen für Stress und damit nicht selten auch für Hörsturz und Tinnitus sind emotionale Konflikte. Stressbehaftet sind vor allem die nicht eingestande- nen beziehungsweise nicht ausgetra- genen Konflikte. Stressbehaftet sind auch proportionale Ungleichgewich- te im Leben, zum Beispiel zwischen Sollen und Können, zwischen Bela- stung und Belastbarkeit. Oft findet man bei Patienten mit Hörsturz und Tinnitus so etwas wie ein inneres Krankheitsverbot.

Die Betroffenen können es sich nicht zugestehen, krank, erschöpft oder ruhebedürftig zu sein. Ihr oft übersteigertes Pflichtbewusstsein hin- dert sie daran, einmal zurückzutreten und auf die Erschöpfungssignale des Körpers zu achten. Diese Persönlich- keiten neigen zur Selbstüberforde- rung. Gehäuft finden sich bei diesem Personenkreis Existenz-, Zukunfts- und Verlassenheitsängste sowie uner- füllte Anlehnungs- und Geborgen- heitsbedürfnisse vor dem Hintergrund chronisch schwelender Konflikte im beruflichen oder privaten Bereich.

Das Chaos ist die Normalität

Denkt man daran, dass Tinnitus in allen Teilen des Hörorgans ein- schließlich der zentralen Wahrneh- mungsbahnen und -zentren entstehen kann, dann erscheint es sehr fragwür- dig, für alle diese verschiedenen Ursa- chen und Lokalisationen eine einheit- liche Pathogenese zu unterstellen. Er-

kenntnisse über die Signalverarbei- tung im Hörorgan erlauben es je- doch, sich eine pathophysiologische Vorstellung über die Entstehung von Tinnitus zu machen. Nach neueren Hypothesen handelt es sich beim Tin- nitus – unabhängig von der Entste- hungsursache – nicht um eine Störung im Innenohr oder eine Fehlfunktion der Hörnerven, sondern um eine Störung zentraler Verarbeitungspro- zesse und der unbewussten Wahrneh- mung des Gehirns.

Betrachtet man die Hörbahn als Datenkabel mit elektrischen Impul-

sen, so ist es zunächst erstaunlich, dass auch bei subjektiv absoluter Stille ein geradezu chaotisches Entladungsge- witter über die Hörnerven huscht.

Das Gehirn ist gewöhnt, dieses in Ru- he ungeordnete Entladungsmuster als

„Stille“ zu interpretieren. Erst eine Synchronisation der Impulse mehre- rer Hörnerven oder auch eine feste Frequenz auf einer Hörnervenfaser trägt einen Informationsgehalt, den das Gehirn als akustische Wahrneh- mung interpretiert.

Solch eine Synchronisation kommt naturgemäß zustande, wenn die Cochlea durch akustischen Reiz fre- quenzabhängige Entladungen erzeugt und damit die Information in eine Ordnung der Impulse auf den Hör- nerven transponiert. Das Auftreten allzu regelmäßiger oder pathologisch synchroner Impulse erzeugt eine Ord- nung im sonst bei Stille chaotisch- stochastischen Muster, die das Gehirn als Tinnitus-Ton oder Tinnitus-Ge- räusch interpretiert.

Unter anderem, weil die Patholo- gie noch nicht aufgeklärt ist, entzieht Tinnitus sich oft jedem Therapiesche- ma. Die Behandlung ist in vielen Fäl- len unbefriedigend. Dennoch hat sich bei den HNO-Ärzten in Deutschland die Meinung durchgesetzt, die Be- schwerden des Patienten zu lindern.

Dabei haben sich für den akuten und für den chronischen Tinnitus grund- sätzlich unterschiedliche Therapien entwickelt:

Bei akutem Tinnitus soll die Be- handlung möglichst umgehend einset- zen, um einen bleibenden Schaden zu verhindern. Die Er- fahrung hat gezeigt, dass ein schneller Beginn der Behand- lung bei akutem Tin- nitus in der Mehr- zahl der Fälle zum Erfolg führt. Un- ter der Vorstellung, dass in den meisten Fällen der Tinnitus und gegebenenfalls auch ein mit ihm gleichzeitig aufge- tretener Hörsturz auf Stoffwechselstö- rungen im Innenohr beruhen, insbeson- dere auf Durchblu- tungsstörungen und mangelhafter Sauerstoffversorgung des Corti-Or- gans, ist die Therapie der ersten Wahl die Durchblutungsförderung und die Unterstützung des Stoffwechsels.

Der subakute Tinnitus nimmt hier eine Zwischenstellung ein: Kau- sale Therapieversuche sind teilweise noch gerechtfertigt. Vor allem aber muss versucht werden, der Chronifi- zierung vorzubeugen beziehungswei- se ihren Folgen so früh wie möglich zu begegnen. Bei chronischem Tinnitus steht die Beratung im Vordergrund.

Der Patient muss spätestens jetzt ler- nen, mit seinem Tinnitus umzugehen und sich darauf einzustellen, dass er noch für lange Zeit, vielleicht sogar zeitlebens mit seinem Tinnitus wird leben müssen. Dabei können psycho- therapeutische Verfahren im weiteren Sinne, wie zum Beispiel Entspan- nungsverfahren (Biofeedback, auto- genes Training, progressive Muskelre- laxation nach Jakobsen) und Retrai- ning eingesetzt werden. ✁ A-1195

P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 18, 5. Mai 2000 MEDIZINREPORT

Tinnitus-Patienten nehmen die unterschiedlichsten Geräusche wahr, ohne dass diese physikalisch messbar sind. Quelle: Tinnitus-Forum (8/99)

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Unter Retraining versteht man einen Prozess des Umlernens und Umgewöhnens. Die Tinnitus-Retrai- ning-Therapie wurde von Jastreboff (USA), Hazle (England) sowie Hesse und Biesinger (Deutschland) ent- wickelt. In Deutschland wurde das Re- training-Konzept 1998 von der Ar- beitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und Neurologen als gülti- ges Therapieverfahren zur Behand- lung des chronischen Tinnitus fest- gelegt (Dt Ärztebl 1999; 96: A-2817–

2825 [Heft 44]).

Ambulant angewandt wird die TRT unter anderem im Tinnitus-Zen- trum Hamburg. Ein Team aus HNO- Ärzten, Diplompsychologen und Hör- akustikern erstellt dort gemeinsam für jeden Patienten ein bis zu 18 Monate dauerndes individuelles Trai- ningsprogramm. Es wird gegebenen- falls durch die Anpassung eines Noisers (Geräuschinstrument) unter- stützt, der ein leises breitbandiges Rauschen abgibt, wodurch der Tinni- tus subjektiv in den Hintergrund tritt.

Zur Tinnitus-Retraining-Therapie ge- hören eine psychologische Diagnostik mit individueller Erarbeitung mögli- cher Bewältigungsstrategien, um mit dem Ohrgeräusch und seinen häufi- gen Begleiterscheinungen wie Schlaf- störungen, Angstzuständen oder De- pressionen besser umzugehen und sie abzubauen.

Weiterhin umfasst das TRT das Erlernen von Entspannungstechni- ken, die helfen, den Teufelskreis „Tin- nitus-Stress“ schneller zu durchbre- chen, sowie Seminare zur Stressbewäl- tigung bei Tinnitus. Ziel der ambulan- ten Therapie ist es, das Ohrgeräusch von den damit verbundenen negati- ven Gefühlen zu entkoppeln. Durch die TRT soll eine kognitive Umstruk- turierung und eine neue Organisation der Hörverarbeitung trainiert wer- den. Der Patient lernt, seine Auf- merksamkeit auf andere akustische Reize zu lenken und Hörwahrneh- mungen wieder positiv zu erleben. So wird das lästige Ohr- oder Kopfge- räusch kaum noch oder gar nicht mehr wahrgenommen. Vera Stadie Checksystem Tinnitus. Kompetenz per PC.

Von Prof. Dr. med Peter Plath. Die CD (69 DM) kann bezogen werden bei der P: Connect GmbH, An der Wethmarheide 36, 44536 Lünen, Telefon: (0 23 06) 92 83 80.

A-1198 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 18, 5. Mai 2000

ie Wissenschaft bewegt sich mit gewaltigen Schritten vor- an, natürlich nur nach vor- ne . . .? Wer hätte vor einigen Jahrzehnten von Gentherapie, Klo- nierung oder Präimplantationsdiagno- stik (PGD = preimplantation genetic diagnosis) zu träumen gewagt?

Doch, diese Träumer gab es. Es lohnt einmal wieder, Aldous Huxleys

„Schöne Neue Welt“ aus dem Bü- cherschrank zu nehmen. Eine Grusel- fiktion der Zwanzigerjahre, visionär aus heutiger Sicht. Die Klonierung ist dort Routine, als „Bokanowsky-Ver- fahren“ standardisiert und gesell-

schaftlich (angeblich) akzeptiert. Ei- nen Schönheitsfehler hat das Ganze natürlich; anders als in der heutigen Realität verliert der Organismus beim Klonieren Kompetenz. Das Ideal also ist der ungeklonte Mensch, der, der nicht dem „Bokanowsky-Verfahren“

unterzogen wurde und seine Individu- alität erhalten durfte. Je mehr Klon- Kopien es gibt, desto niedriger die so- ziale und intellektuelle Intelligenz der Individuen – so weit Huxley.

Dahinter steht eine intellektuelle Attitüde, die der Individualität und dem Unterschied Raum lässt. Nicht die unterschiedslose Schönheit ist wahrhaft schön, sondern Schönheit kann man erst an der Bandbreite von hässlich bis göttlich wirklich ermessen.

Von diesem Ideal entfernen wir uns zusehends. Uniformität ist gefragt, Krankheit anstößig und absondernd;

nicht die Bandbreite menschlicher In-

dividualität, sondern ihre Konformität mit gesellschaftlichen Normen soll mit Technikeinsatz erzeugt werden.

Ein gutes Beispiel hierfür ist der

„Diskussionsentwurf zu einer Richtli- nie zur Präimplantationsdiagnostik“, den der Vorstand der Bundesärzte- kammer (BÄK) unlängst vorgelegt hat. Nun wäre es sicher unfair, der BÄK vorzuwerfen, sie fördere an die- ser Stelle den Technikeinsatz in der Medizin. Das tut sie nicht – sie rea- giert lediglich auf wissenschaftliche Entwicklungen und versucht sie in ethische Dimensionen vor dem Hin- tergrund rasanter gesellschaftlicher

Veränderungen zu stellen. Der An- trieb, der Impuls kommt von woan- ders – aus Forschertrieb, aus der Über- legung, kranken Menschen helfen zu wollen, aus Zukunftsgläubigkeit und auch aus materiellen Interessen.

Das Embryonenschutzgesetz ver- bietet die Präimplantationsdiagnostik;

die Manipulation an totipotenten Zel- len ist verboten. Zusätzlich ist es nicht zulässig, erzeugte Embryonen nicht zu übertragen, also zu verwerfen. Eine groteske Ironie wäre es also, in der PGD als „krank“ erkannte Embryo- nen gleichwohl übertragen zu müssen.

Bei wenigen erbgebundenen Krank- heitsbildern könnte PGD helfen.

Notwendig wäre eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes. Der Dis- kussionsentwurf schlägt darüber hin- aus „Ethikkommissionen“ der Selbst- verwaltung vor, die Genehmigungen

zur PGD erteilen. ✁

D

Schöne Neue Welt

Muss man alles machen,

was man kann?

Fortschritt allein genügt nicht, es kommt auch auf die Richtung an.

T H E M E N D E R Z E I T MEDIZINREPORT/KOMMENTAR

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Forschertrieb und Technikgläubigkeit

Seit einiger Zeit versucht die Wis- senschaft, den Zeitraum der Toti- potenz von Zellen für kürzer und kür- zer zu erklären. Forschergruppen be- haupten, schon ab dem 4-Zell-Stadi- um sei eine Totipotenz nicht mehr si- cher. Zugleich gewinnt die moderne Fortpflanzungsmedizin immer mehr Spielräume zum erfolgreichen Über- tragen von Embryonen, ein Fenster tut sich auf, die Zellen sind (angeb- lich) nicht mehr totipotent, die Über- tragung ist noch möglich.

Altruistische Ideale

Unter dem Eindruck der großen Trauer von Familien, die das Risiko ge- netischer Fehler in sich tragen und oft- mals schreckliche Leidensgeschichten von kranken oder sterbenden Kindern, späten Abtreibungen oder gar intra- uterinen Fetoziden hinter sich haben, wollen Ärzte helfen und diesen Fami- lien das Idealbild „gesunde Kinder“ er- füllen. Es handelt sich dabei um nur circa 100 Paare per annum bundesweit, bei denen unter dieser Indikation eine PGD infrage käme. Sie müssten, ob- wohl sie auf natürlichem Wege zeu- gungsfähig sind, eine im Reagenzglas erzeugte Schwangerschaft – mit allen Risiken – ertragen, nur um den Em- bryo einer PGD unterziehen zu kön- nen. Verkürzt gesagt: Die technischen Risiken der In-vitro-Fertilisation (IVF) und PGD stehen hier den menschli- chen (und auch ethischen) Problemen einer späten Abtreibung entgegen.

Wahrlich, eine Auswahl zwischen Beelzebub und Teufel! Auf die ein- fache Idee, den Paaren von weiteren Schwangerschaften abzuraten, kommt man offensichtlich nicht. Kinder- wunsch ist ein alle Mittel heiligendes Ziel – auch das ist angesichts der Irra- tionalitäten unserer Welt eine grotes- ke gesellschaftliche Entwicklung.

Finanzielle Auswirkungen

Und natürlich tut sich in der PGD ein gewaltiges ökonomisches Potenzial auf. IVF und PGD sind auf- wendige und teure Verfahren; sie

werden in anderen Ländern, wo sie zulässig sind, auch unter ökonomi- schen Aspekten sehr gewinnbringend angeboten.

Ethischer Deichbruch!

Würde der Diskussionentwurf zu einer Richtlinie zur PGD verab- schiedet und Wirklichkeit, käme dies in meinen Augen einem ethischen Deichbruch gleich. Auch wenn ich si- cher bin, dass die Autoren sich nur von den edelsten Motiven haben lei- ten lassen, so halte ich es doch für ausgeschlossen, die PGD auf die Paa- re begrenzen zu können, die erbge- bundene Krankengeschichten vor- weisen können. Vielmehr wird im Rahmen aller IVF-Maßnahmen die Frage gestellt werden müssen, inwie- weit das Risiko der iatrogenen Über- tragung „fehlerhafter“ Embryonen überhaupt vertretbar ist. Über kurz oder lang werden bei allen IVF-Maß- nahmen PGDs nötig sein. Und: Wie verweigert ein Arzt Paaren die PGD im Rahmen einer IVF? Müssen diese Paare erst selbst eine „genetische Lei- densgeschichte“ vorweisen, um in den

„Genuss“ der gewünschten exakte- ren Diagnostik zu kommen? Wäre es nicht – unter denselben pseudo- altruistischen Maximen – unmensch- lich, ihnen diese Diagnostik vorzu- enthalten?

Hier tut sich nicht nur ein gewal- tiger Markt für Ärzte auf – hier ent- stehen auch gewaltige Risiken für un- sere Gesetzliche Krankenversicherung – es wird auf Dauer nicht möglich sein, IVF zwar zu bezahlen, PGD aber nicht.

Schließlich: Sie haben es alle gele- sen, die Entschlüsselung des mensch- lichen Genoms steht kurz vor ihrer Vollendung. Damit aber liegt eine mindestens abstrakte Genkarte vor, in der Aberrationen, Variationen und Strickmusteranomalien des Menschen beschrieben sind. Wer glaubt, diese Karte prognostiziere mit hundert- prozentiger Sicherheit erbgebundene Krankheiten, der irrt. Einige wenige Krankheiten und ihre Ausprägung sind heute schon erkennbar, ganz überwiegend aber vermögen wir zwar die „Strickmusterfehler“ der Natur zu erkennen, ihre Relevanz für das le-

bende Individuum aber nicht einzu- ordnen. Jeder von uns ist Träger sol- cher Anomalien – auch der Gesünde- ste! Der Grundgedanke der geneti- schen Selektion aber, dieses „Nichts- mehr-dem-Schicksal-überlassen-Wol- len“, der dem gesamten Verfahren nun einmal innewohnt, wird zu einer natürlichen Ausmerzung aller An- omalien führen. Wir sind auf dem di- rekten Weg zum „qualitätsgesicherten Kind“.

Welchem Arzt könnte man einen Vorwurf machen, wenn er Eltern eher zur Abtreibung (oder in unserem Fall zur Nichtübertragung des Embryos) raten wird, als sie zu bestärken, die Risiken im Vertrauen auf eine star- ke Natur in Kauf zu nehmen? Der Bundesgerichtshof hat uns in seiner Rechtsprechung klargemacht, dass fehlerhafte genetische Beratung scha- densersatzpflichtig macht. Das kran- ke Kind wird zum „Schadensfall“ – nicht der bedauernswerten Eltern, sondern des Arztes!

Fortpflanzungsmedizin- gesetz

Der Diskussionentwurf der BÄK geht deswegen einen falschen Weg; in fehlgeleitetem Altruismus sprengt er ethische Dämme. Eine Begrenzung auf wenige Paare – wie vorgesehen – wird sich nicht durchhalten lassen.

Ungewollt wird der genetischen Se- lektion die Tür geöffnet. Fortschritts- gläubigkeit macht blind vor den Risi- ken. Noch ist es an der Zeit gegenzu- steuern. Deswegen hat der Vorstand der BÄK auch lediglich einen „Dis- kussionsentwurf“ vorgelegt. Am En- de der Diskussion kann also durchaus auch das Einstampfen des Papiers stehen.

Die Bundesregierung plant, das Embryonenschutzgesetz im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu überarbeiten. In einem Fortpflan- zungsmedizingesetz müssten dann auch Fragen der IVF und der PGD ge- regelt werden.

Ich plädiere für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik.

Dr. med. Frank Ulrich Montgomery Präsident der Ärztekammer Hamburg Vorsitzender des Marburger Bundes A-1200 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 18, 5. Mai 2000

T H E M E N D E R Z E I T KOMMENTAR

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