Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 3712. September 2008 A1869
S E I T E E I N S
D
ie Turbulenzen in der SPD zeigen, wie schnell sich Konstellationen in der Politik ändern kön- nen. Der überraschende Rücktritt des Parteivorsitzen- den Beck und die Nominierung des Kanzlerkandidaten Steinmeier mögen gesundheitspolitisch keine unmittel- baren Auswirkungen haben. Sie markieren aber den vorzeitigen Beginn des Wahlkampfs, was leider oft ge- nug bedeutet hat, dass keine oder zumindest keine ver- lässliche Politik betrieben wurde. Dabei ist die Groß- wetterlage für die Ärzteschaft zuletzt durchaus freund- lich gewesen. Denn die Große Koalition hat ein Dogma infrage gestellt, das länger als ein Jahrzehnt die Ge- sundheitspolitik bestimmt hat: die Beitragssatzstabili- tät in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das zeigt sich in den Beschlüssen zur Honorarreform der Ver- tragsärzte und auch in dem Ringen über die künftige Krankenhausfinanzierung.Nicht ohne Grund gab es Ende August nach dem Be- schluss über eine Honoraraufstockung für Kassenärzte von fast 2,7 Milliarden Euro verbitterte Kommentare der Kassenvertreter, die im Erweiterten Bewertungs- ausschuss überstimmt worden waren. Die Kassenärzt- liche Bundesvereinigung hatte sich durchgesetzt – mit Unterstützung des Bundesgesundheitsministeriums und der Koalition. Das ist bemerkenswert, weil die Honorar- reform rechnerisch eine Beitragssatzerhöhung um 0,28 Prozentpunkte erfordert. War nicht seit Jahr und Tag die Senkung der Sozialabgaben das Ziel Nummer eins in der Sozial- und Wirtschaftspolitik? Inzwischen setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine gute Gesundheits- versorgung in der Zukunft nicht mit weniger Geld er- reichbar ist, sondern mehr Mittel erfordert. Dass Poli- tiker auch dazu stehen, ist – in Zeiten eines drohenden wirtschaftlichen Abschwungs, ein Jahr vor der Wahl – nicht selbstverständlich, zumal sie sich heftigen Ärger mit Arbeitgebern und Gewerkschaften einhandeln.
Die Ärztinnen und Ärzte haben diesen Bewusstseins- wandel selbst bewirkt – mit den Protestaktionen des Jahres 2006, die von der Öffentlichkeit wohlwollend begleitet wurden und die sich auch in gesetzlichen Re- gelungen niedergeschlagen haben. Schon seit zehn Jah- ren haben Kassenärzte immer wieder deutlich gemacht, was eine gedeckelte Vergütung mit floatenden Punkt-
werten konkret bedeutet. Auch in Zukunft muss öffent- lich gesagt werden, dass für die Vertragsärzte längst nicht alle Probleme gelöst sind, wie die Kassen glauben machen möchten, und dass weiterhin nicht alle Leistun- gen vergütet werden. Es ist ja nicht einmal klar, ob jede Praxis an dem Zuwachs des bundesweit größeren Ho- norarkuchens partizipieren wird. Unstreitig sollte die überdurchschnittliche Anhebung der Vergütung in den neuen Ländern sein. Die sehr unterschiedlichen regiona- len Honorarsteigerungen sorgen bereits für Unmut (sie- he Beitrag „Heftige Katerstimmung“ in diesem Heft).
Die erreichten Fortschritte schmälert das nicht: Kas- senärzte erhalten für allerdings begrenzte Fallzahlen feste Preise. Honorarbudgets und Kopfpauschalen, die nur um die Zunahme der Grundlohnsumme angehoben wurden, sind abgeschafft. Das Morbiditätsrisiko geht auf die Kassen über. „Künftig steigt die Vergütung, wenn die Krankheitslast zunimmt, wenn die Praxis- kosten steigen“, hebt KBV-Vorstandsvorsitzender Dr.
med. Andreas Köhler hervor.
Auch bei den Krankenhäusern wird die Kopplung der Budgets an die Grundlohnentwicklung inzwischen infrage gestellt. Die jetzt in Aussicht gestellten Beträge bedeuten ebenfalls eine (notwendige) Abkehr von der Beitragssatzstabilität. Von einer verlässlichen Politik für die Krankenhäuser sind Bund und Länder aber weit entfernt. Bei der Demonstration am 25. September in Berlin ist Gelegenheit, die Verantwortlichen daran zu erinnern.
Heinz Stüwe Chefredakteur
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Abkehr von einem Dogma
Heinz Stüwe