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ens Härtrich ist Arzt und mit seinem Job zufrieden – nette Kollegen, gute Bezahlung und immer wieder neue Herausforderungen. Doch mit seinem ursprünglichen Beruf hat seine Arbeit nichts zu tun. Der Kölner ist Anwen- dungsentwickler für einen IT-Dienst- leister. Eine Tätigkeit am Patienten kommt für ihn nicht infrage. Zu wenig kreativ und zu sehr von starren Hier- archien geprägt findet er den Arbeits- alltag im Krankenhaus. Zeit- und Ko- stendruck täten ihr Übriges.Härtrichs berufliche Laufbahn ist kein Einzelfall. Sie steht exemplarisch für Tausende junger Ärzte, die ihr berufliches Fortkommen immer häu- figer in nichtärztlichen Berufsfeldern suchen. Auf die Patientenversorgung werden sich die Folgen des Nachwuchs- schwundes noch verheerender auswir- ken als bislang angenommen. Dies zeigt die neueste Studie zur Altersstruktur und Arztzahlentwicklung von Bundes- ärztekammer (BÄK) und Kassenärzt- licher Bundesvereinigung (KBV). Dem- nach steht die Ärzteschaft vor einer bei- spiellosen Pensionierungswelle. Bis zum Jahr 2010 werden 40 340, bis 2015 sogar 74 449 der derzeit noch in Praxen und Krankenhäusern tätigen Ärzte aus Altersgründen ausscheiden. Das sind 17 219 Abgänge in den Krankenhäusern, 23 480 bei den Hausärzten und 33 750 bei den niedergelassenen Fachärzten.
„Wir entfernen uns Tag für Tag mehr von dem Anspruch, eine flächendecken- de und wohnortnahe Versorgung zu er- halten“, warnte der Präsident der Bun- desärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg- Dietrich Hoppe, bei der Vorstellung der Studie in Berlin. Und der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung, Dr. med. Andreas Köhler, ergänz- te: „Wenn in den nächsten zehn Jahren knapp 60 000 Vertragsärzte aus der am-
bulanten Versorgung aus- steigen, ist das fast die Hälfte aller niedergelas- senen Ärzte. Nachwuchs ist kaum in Sicht.“
Schon gar nicht in den ländlichen Regionen Ost- deutschlands. In elf von 99 Planungsbezirken der neu- en Bundesländer besteht schon jetzt keine ausrei- chende hausärztliche Ver- sorgung mehr. Und wenn doch, dann oft nur, weil etliche Hausärzte über das
68. Lebensjahr hinaus praktizieren; eine gesetzliche Sonderregelung für Ost- deutschland macht dies möglich. Zu ihnen zählt Dr. med. Hans-Jürgen Groh (69), Hausarzt in Atzendorf bei Magde- burg. Die Arbeit macht ihm Spaß; fünf Jahre will er noch weitermachen. Denn einen Nachfolger für seine gut gehende Praxis fände sich ohnehin nicht, ist Groh überzeugt. Für junge Leute biete das Landleben zu wenig. Es gebe kein kultu- relles Umfeld, und die Honorarsituation sei auch nicht berauschend. Schlimmer aber sei die überbordende Bürokratie, die vielen Medizinern die Arbeit in der eigenen Praxis verleide.
Das Interesse an der Medizin ist ungebrochen
Davon wissen die rund 50 000 Schulab- gänger, die sich im vergangenen Jahr um ein Medizinstudium beworben ha- ben, vermutlich wenig. Das Interesse an der Medizin ist ungebrochen. Durch- schnittlich fünf Bewerber drängeln sich um einen Studienplatz. „Nachdem im Jahr 1996 die Zahl der Interessenten mit 24 881 einen Tiefpunkt erreichte, steigt die Nachfrage wieder drastisch
an“, so Dr. rer. pol. Thomas Kopetsch, Leiter des Bundesarztregisters und Au- tor der Arztzahlstudie. Im Jahr 2004 ha- be es so viele Bewerber für einen Studi- enplatz gegeben wie zuletzt Mitte der 80er-Jahre. Allerdings sei der Schwund unter den Studierenden sehr hoch.
Hätten 1993 rund 11 500 Akademiker ihr Studium abgeschlossen, seien es im Jahr 2003 knapp 9 000 gewesen. Entspre- chend gesunken sei im selben Zeitraum auch die Zahl der Ärzte im Praktikum von 21 960 auf 17 460, berichtete Ko- petsch. Von den Absolventen des Jahr- gangs 2003 sei knapp ein Viertel nicht als Arzt tätig geworden.
Tatsächlich gibt es genügend finanzi- ell reizvollere Alternativen zum Arztbe- ruf, sei es in der pharmazeutischen Indu- strie, im Gesundheitsmanagement oder in der Verwaltung. Ein Klinikarzt, der im eigenen Haus ins Controlling wechselt, verdient mitunter doppelt so viel wie sei- ne Kollegen in der Patientenversorgung.
Und wer weder auf ein gutes Einkom- men noch auf eine ärztliche Tätigkeit verzichten will, geht nicht selten ins Aus- land. Nachweislich arbeiten rund 12 000 deutsche Ärztinnen und Ärzte außer Landes. Zwar würden bei den Ärzte- kammern Abwanderungen in der Regel P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 407. Oktober 2005 AA2669
Arztzahlstudie
Kaum Nachwuchs in Sicht
Die deutsche Ärzteschaft steht vor einer beispiellosen Pensionierungswelle.
Weil immer mehr Berufsanfänger dem Arztberuf den Rücken kehren, drohen massive Versorgungsengpässe.
12 000 10 000 8 000 6 000 4 000 2 000 Anzahl
Erstsemester Absolventen Zugang an Ärzten
1997 2003 im Praktikum 2003
Der Verlust an Medizinstudierenden im Verlauf des Studiums
Differenz: 2 145
} }
Differenz: 2 713
Quelle:BÄK,Statistisches Bundesamt
11 660
8 947
6 802
nicht registriert. Doch spreche vieles dafür, dass immer mehr Ärzte emigrie- ren, so Kopetsch. So sei in Hessen die Zahl der beantragten Unbedenklich- keitserklärungen, die Ärzte für eine Tätigkeit im Ausland benötigten, in den letzten fünf Jahren um das Zehnfache gestiegen. In Bayern habe sich die Zahl der abwandernden Ärzte in den letzten drei Jahren verdreifacht.Viele von ihnen lockt die bessere Bezahlung: In 48 Stun- den könne man im Ausland mehr verdie- nen als in 168 Stunden in Deutschland, berichtete Hoppe. Deshalb sei es berech- tigt, wenn die jungen Ärztinnen und Ärzte in den Universitätskliniken für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn stritten.
Dort erinnere die Arbeitssituation eher an preußische Feldlazarette als an moderne Krankenhäuser, beklagt der Vorsitzende des Marburger Bundes, Dr. med. Frank Ulrich Montgomery.
Marathon-Dienste von 30 Stunden am Stück, jährlich 50 Millionen unvergüte- te Überstunden und Gehälter auf dem Niveau von Schwellenländern wirkten beim Ärztemangel „als Brandbeschleu- niger“. Nur mit deutlich höherer Ent- lohnung und einer besseren Arbeitsor- ganisation ließen sich Ärztemangel und Ärzteflucht ins Ausland stoppen. Dies bestätigt auch eine vom Bundesgesund- heitsministerium in Auftrag gegebene Umfrage unter rund 10 000 Ärztinnen und Ärzten sowie Medizinstudieren- den. Befragt wurden sie nach ihren Be- weggründen, nicht im kurativen Be- reich arbeiten zu wollen. Das Ergebnis ist eindeutig: Schlechte Bezahlung, zu
lange Arbeitszeiten und Bürokratie verleiden Ärztinnen und Ärzten den Spaß an der Arbeit – sowohl im ambu- lanten als auch im stationären Sektor.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern
Diese Aussagen müsse man ernst neh- men und gegensteuern, forderte KBV- Chef Köhler. Für die ambulante Versor- gung verlangte er: „Weg mit den Budgets und keine floatenden Punktwerte. Wir fordern den Gesetzgeber dringend dazu auf, mit uns gemeinsam eine Vertragsge- bührenordnung in Euro zu etablieren und endlich mit dem Bürokratieabbau ernst zu machen.“ Zudem müsse umge- hend das Vertragsarztrecht dahingehend geändert werden, dass auch niedergelas- sene Kolleginnen und Kollegen Ärztin- nen und Ärzte in Teilzeit anstellen kön- nen. Damit würde gerade für Ärztinnen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf deutlich erleichtert. Das derzeit brach- liegende Potenzial von hoch qualifizier- ten Ärztinnen könnte so gehoben wer- den, ist Köhler optimistisch.
Insgesamt schätzt Studienautor Ko- petsch das Potenzial von Ärztinnen und Ärzten, die aus der kurativen Tätigkeit ausgestiegen sind, aber „reaktivierbar“
wären, auf maximal 42 Prozent. Hochge- rechnet bedeute dies in absoluten Zahlen etwa 37 000 Ärztinnen und Ärzte. Dabei betrage der Ärztinnenanteil 65 Prozent.
Der Ärztemangel könne also entschärft werden, wenn es durch attraktive Ange- bote gelänge, Ärztinnen wieder für die
kurative Patientenversorgung zu gewin- nen, prognostiziert Kopetsch.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt sieht dennoch keinen Hand- lungsbedarf für den Gesetzgeber. In einer ersten Reaktion auf die Arztzahl- studie forderte sie beim Deutschen Hausärztetag in Potsdam die Selbstver- waltung auf, stärker die mit dem GKV- Modernisierungsgesetz bereitgestellten Möglichkeiten zu nutzen. So ließe sich die ambulante Versorgung durch die Er- richtung Medizinischer Versorgungszen- tren mit angestellten Ärzten verbessern.
Zudem könnten in unterversorgten Re- gionen so genannte Sicherstellungszu- schläge zum Honorar gezahlt werden.
Doch monetäre Anreize allein rei- chen anscheinend nicht aus, um Ärzte kurzfristig aus den meist zulassungsge- sperrten Ballungsräumen aufs Land zu locken. Denn entsprechende Angebo- te der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) gibt es bereits. Beispiel Sachsen- Anhalt: Dort fördert die KV in be- stimmten Gebieten die Übernahme von Hausarztpraxen mit 15 000 Euro. Zu- sätzlich gibt es eine Sondervergütung von drei Euro je Behandlungsfall. Die KV Thüringen eröffnete in der Stadt Ohrdruf eine Eigeneinrichtung. Ärzte und Personal werden dort befristet di- rekt bei der KV angestellt. In Branden- burg bietet die KV Umsatzgarantien so- wie die Möglichkeit einer befristeten Anstellung in bestehenden Vertrags- arztpraxen. Doch am Ärztemangel hat all dies bislang nichts geändert.
Bundesärztekammer und Kassen- ärztliche Bundesvereinigung raten da- her, mehrgleisig vorzugehen. So müss- ten die Medizinerausbildung praxis- näher sowie die Arbeitssituation im ambulanten wie im stationäten Sektor attraktiver gestaltet werden. Nur so könne es gelingen, junge Menschen wieder stärker für den Beruf des Arz- tes zu interessieren. Geschehe dies nicht, werde es auf breiter Front zu Versorgungsengpässen in Deutschland kommen. Um dies zu verhindern, müssten Politik und Selbstverwaltung gemeinsam handeln. Samir Rabbata
Die vollständige Studie „Dem deutschen Gesundheitswe- sen gehen die Ärzte aus! – Studie zur Altersstruktur- und Arztzahlentwicklung, 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage“, kann unter der E-Mail-Adresse tkopetsch@
kbv.de angefordert werden.
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A2670 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 407. Oktober 2005
Anteil der Frauen auf den verschiedenen Stufen der medizinischen Berufskarriere
70,0 60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0
Anteil in %
Studien- ärztliche Examen Beginn Gebiets- berufs- Kranken- niederge- Dozenten Leitende Profes- anfänger Vorprü- als AiP anerken- tätige haus- lassene und Kranken- soren
fungen nungen Ärzte ärzte Ärzte Assi- haus-
insge- stenten ärzte
samt
61,3% 60,8% 52,4% 51,2% 39,0% 38,2% 38,1% 34,0% 30,3%
10,1 % 7,6%
Quelle:Statistisches Bundesamt,Bundesärztekammer,IMPP