Von Gregor Schoeler, Giessen
Renä Wellek und Austin Waeren haben in ihrem Buch Theorie
der Literatur auch dem Problem der literarischen Gattung ein Kapitel
gewidmet. Nach ihnen ist die hterarische Gattung ,,kein bloßer Name,
denn die ästhetische Konvention, an der ein Werk teilhat, formt dessen
Eigenart. Literarische Gattungen 'können als institutionelle Imperative
betrachtet werden, die einen Zwang ausüben und auf die, umgekehrt,
auch vom Dichter Zwang ausgeübt wird'"*. Die Verfasser schließen sich
Karl Vietoe an, der den Vorschlag gemacht hat, den Begriff ,, Gattung"
nicht auf die ,,drei mehr oder minder letzten Kategorien" Lyrik, Epik,
Drama, sondern auf ,, historische Arten" wie die Tragödie und Komödie
anzuwenden^. ,,Die Gattung sollte unserer Ansicht nach als eine Grup¬
pierung literarischer Werke verstanden werden, die theoretisch auf der
äußeren Form (Metrum, Struktur) wie auch auf der inneren Form
(Haltung, Ton, Zweck — grober gesagt, Gegenstand und Publikum)
fußt. Die offensichthche Grundlage kann die eine oder die andere sein
(z.B. 'Pastorale' oder 'Satire' für die innere Form; dipodischer Vers oder
pindarische Ode für die äußere)"*.
Obwohl Wellek und Warren ihre Beispiele aus der europäischen
und speziell aus der antiken Literatur entnommen haben, Uegt es ihnen
fern, den ,, absoluten Charakter der griechisch-römischen Arten zu ver¬
teidigen". ,,Jede 'Kultur' hat ihre Gattungen, die Chinesen, die Araber, die alten Iren"*. Da die Verfasser diese Tatsache im Auge gehabt haben, ist der von ihnen entwickelte Gattungsbegriff auch auf außereuropäische
Literatiu:en anwendbar. Es ist wohl kaum eine Literatur denkbar, die
nicht in irgendeiner Weise nach Merkmalen der äußeren und inneren
Form der sie konstituierenden Werke eingeteüt werden könnte. Was
aUerdings jeweüs unter ,, äußerer" und ,, innerer Form" genau zu ver¬
stehen ist, kann sich nur aus der Eigenart der jeweihgen Literatur er¬
geben.
* Wellek-Wabbbn: Theorie, S. 202; mit einem Zitat aus dem Aufsatz
von N. H. Pbabson: Literary Formes and Types. In: English Institute
Annual 1940 (1941), S. 59ff., bes. S. 70.
2 A.a.O. S. 204.
» A.a.O. S. 208.
* A.a.O. S. 211.
10 Grbgob Schoeler
Nachdem wir mit Wellek und Waeeen Vertreter der modernen
Literaturwissenschaft zur Frage der hterarischen Gattungen haben zu
Wort kommen lassen, wollen wir nun aufzuzeigen versuchen, wie die
klassisch-arabischen Dichtungstheoretiker ,,ihre" Dichtung eingeteilt
haben. Dabei dürfen wir natürhch nicht a priori annehmen, daß die
arabischen Philologen von vornherein einen dem der modernen Literatur¬
wissenschaft genau entsprechenden Begriff vom Wesen einer poetischen
Gattung gehabt haben. Vielmehr geht es zunächst darum, die von ihnen
angewandten Einteilungsprinzipien zu erkennen und sie aus der Eigen¬
art der arabischen Dichtung zu verstehen. Es wird dann freihch interes¬
sant sein festzustellen, ob bzw. inwieweit die von den Arabern erarbeite¬
ten Kategorien sich dem Gattungsbegriff der (allgemeine Gültigkeit an¬
strebenden) modernen Literaturwissenschaft fügen.
Zur Einteilung der Dichtung durch die arabischen ,, Ästhetiker" hat
sich schon Wilhelm Ahlwaedt in seiner Abhandlung Über Poesie und
Poetik der Araber geäußert^. Die Liste, die er gibt, ist aber ganz unvoll¬
ständig und enthält nicht einmal die Namen der Autoren. — Es ist das
Verdienst Amjad Teabülsi's, in seinem Buch La Critique PoHique des
Arabes zum ersten Mal die überlieferten Klassifikationen mit einiger
Vollständigkeit zusammengestellt und kommentiert zu haben*. Wir
werden jeweils in den Fußnoten vermerken, ob die zu behandelnde Liste
schon bei Teabtjlsi zu finden ist.
-4 Ta'lab
_|_ Der erste arabische Pbüologe, der sich um eine differenziertere Ein¬
teüung der Dichtung bemüht hat, ist Ta'lab (815—904)'. In seinem Werk
QawäHd aS-Si'r definiert er als ,, Fundamente" oder ,, Stützen" der
Dichtung die vier Aussageweisen Befehl, Verbot, MitteUung und Frage.
—l Diese ,, Elemente" (usül) unterteüt er dann wieder in Lob (madh), Spott
, (higä'), Klagen (maräti), Entschuldigung (iHidär), Ausdruck der Liebe
(ta&bib), Vergleich (ta&bih) und Darlegung von Kunden (iqtisäs ahbär;
Teabulsi: developpements pseudo-historiques, Heinbichs: Bericht,
Beschreibung^). Nach der Aufzählung dieser Gruppen führt Ta'lab für
jede einzelne von ihnen einen oder mehrere Belege an. Aus einem Gedicht
zitiert er jeweUs nur einen oder höchstens zwei Verse.
^ Ahlwardt: Poesie, S. 31—32.
» Trabulsi: Critique, S. 215—220.
' Ta'lab: Qawä'id, S. 35—40; Teabulsi: Critique, S. 215—220.
' Vgl. Heineichs: Dichtung, S. 26 f., wo der Terminus „iqtisäs ahbär"
ausführlicher besprochen wird.
Zunächst gilt es, sich klarzumachen, in welchem Verhältnis die
,, Fundamente" (qawä'id) zu ihren Untergruppen stehen. Ganz offen¬
sichthch kann jede Untergruppe an allen vier ,, Fundamenten" teilhaben,
eine Zuordnung von einzelnen Untergruppen zu jeweils einem ,, Funda¬
ment" wird nicht vorgenommen.
Wie ist Ta'lab nun zu dieser, für unser Empfinden zunächst wenig
einleuchtenden Klassifizierung gekommen? Um das zu verstehen,
müssen wir kurz auf einige Wesenszüge der altarabischen Poesie eingehen.
Denn ausschheßlich die altarabische Poesie hat der konservative Philo¬
loge bei seiner Einteilung vor Augen gehabt; das beweisen die Zitate
nicht nur dieses Kapitels, sondern des Werks insgesamt.
Hauptausdrucksform der altarabischen Dichtung ist die Qaside, ein
aus mehreren Teilen zusammengesetztes Gedicht. Die sog. ,,Normal-
qaside"* besteht aus drei Teilen: einer erotischen Einleitung (nasib),
einer Schilderung einer Wüstenreise (ralyil) und einem panegyrischen
Schluß (madili). Nach diesem Schema, das als erster der Philologe Ibn
Qutaiba (st. 889) beschrieben (und zur ,,Norm" erhoben) hat*", sind
allerdings bei weitem nicht alle (und wahrscheinhch nicht eimnal die
meisten) Qasiden gebaut; es exemplifiziert aber zumindest ein wesent¬
liches Kennzeichen der Qasidenform, ihre Mehrteihgkeit.
Ein weiteres Merkmal der altarabischen Poesie ist ihre ,, molekulare
Struktur"**, d.h. jeder Vers eines Gedichts bildet syntaktisch und
inhalthch ein Ganzes, ein ,, Molekül" ; Enjambements sind äußerst selten.
Der Sinnzusammenhang eines Verses mit dem vorausgehenden und nach¬
folgenden Vers kann sehr locker sein.
Dichtungen solcher Art hatte Ta'lab also bei seiner Einteilung vor
Augen. Die thematische Vielfalt der einzelnen Qaside auf der einen Seite
und die Aufsphtterung eines Themas in autonome Einzelverse auf der
anderen Seite mußten das Finden eines bestimmenden Gegenstandes,
eines bezeichnenden Themas als Einteilungsprinzip für das Gesamt¬
gedicht verhindern*^. Dagegen bot sich der (autonome) Einzelvers zur
Analyse an. Die erste Einteilung, die Ta'lab vornimmt, ist eine syntak-
' Ausdruck übemommen von Gbunebaum: Naturauffassung, S. 29.
*" Ibn Qutaiba: Si'r, S. 14—15. Übersetzung in Nöldeke: Beiträge,
S. 18—19.
** Der Terminus stanunt von T. Kowalski. Vgl. Heinbichs: Dichtung,
S. 20ff.
*2 Sohon Nöldeke hat in seiner Anzeige von C. Schiapabelli: L'arte
poetica di . . . Ta'lab. In: ZDMG 44 (1890), S. 711ff. bemerkt: „Es handelt
sich hier nicht um die Gattungen ganzer Gedichte oder auch nur größerer
Stücke von solchen, sondem um einzelne Verse oder Verspaare verschiedenen Inhalts ..."
12 Gbegob Sohobleb
tische nach der Aussageweise. Ta'lab hat die vier Kategorien Befehl,
Verbot, Mitteilung und Frage einfach aus der Syntax übernommen und
danach seine Vers-„Moleküle" klassifiziert.
Ta'lab's Prinzip bei der weiteren Auffächerung ist der Inhalt, das
Thema des jeweüigen Verses. Danach kann ein Vers enthalten: ein Lob,
Spott, eine Klage, eine Entschuldigung, den Ausdruck von Liebe, einen
Vergleich, einen ,, Bericht". — Noch deuthcher wird die Konzeption des
arabischen Phüologen vielleicht, wenn man als Einteüungsprinzip die
Haltung zu Grunde legt, die der Dichter in einem Einzelvers zu seinem
,, Vorwurf" einnimmt: Ein Dichter kann sich gegenüber der Person oder
Sache, von der sein Vers handelt, verhalten: lobend, spottend, (sie) be¬
klagend, sich entschuldigend, seine Liebe ausdrückend, (sie) charakteri¬
sierend durch Vergleich, (von ihr) berichtend.
Gewiß könnte man, wenn man wollte, innerhalb der Ta'lab'schen
Klassifikation UnVollständigkeiten oder gar Inkonsequenzen aufzeigen.
Darauf kommt es hier aber nicht an. Entscheidend ist in unserem
Zusammenhang, daß Ta'lab bei seiner Einteüung keine Gedichtganz¬
heiten vor Augen gehabt hat (und auch schwerhch haben konnte) imd
daß seine Kategorien daher nicht als ungeschickt oder falsch klassifizierte
Gedichtgattungen (im Sinne der modernen Literaturwissenschaft) be¬
urteüt werden dürfen**.
Qudäma b. Ga'far
Der nächste Theoretiker, der sich mit der Einteüung der Dichtung
beschäftigt hat, ist Qudäma b. öa'far (st. 922 oder 948 oder 958) in
seinem Kitäb naqd aS-Si'r^*. Qudäma sagt in dem Abschnitt „Die Quali¬
täten der (dichterischen) Gedanken {ma'äni), die die Dichtung aus¬
drückt"*^: ,,In summa ist dazu zu sagen, daß der (dichterische) Gedanke
{ma'nä) auf das erstrebte Anhegen {garad) ausgerichtet sein soll und
nicht von dem beabsichtigten Zweck {amr) abweichen darf. Da nun die
Arten {aqsäm) der (dichterischen) Gedanken, bei denen man dieser
Charakterisierung bedarf, unzählig sind und es unmöghch wäre, sie alle
aufzuzählen und dabei zum Ende zu kommen, habe ich es für gut be¬
funden, davon (nur) das Hauptsächhche (sadran) zu erwähnen, welches
von sich selbst Kunde gibt und für das andere, das ich nicht erwähne,
Beispiel und Kriterium ist; (ferner habe ich es für gut befunden,) dies
(nur) bei den Hauptanhegen der Dichter {fi 'l-a'läm min agräd aä-Su'arä')
" Diesen methodischen Fehler begeht Tbabulsi: Critique, S. 215f., dem
die NöLDEKB'schen Ausführungen (vgl. Anm. 12) entgangen sein müssen.
** Qudäma: Naqd, S. 23—70; Tbabulsi: Critique, S. 216.
*« Qudäma: Naqd, S. 23; S. 28.
zu tun und bei dem, was sie am meisten bearbeiten und was die größte
Dauer hat: Das ist das Lob (madih), der Spott (higä'), die Klagen
(m/iräti), der Vergleich (taSbih), die Beschreibung (wasf) und die Liebes¬
rede (nasib)."
Nach einer Abschweifung faßt er noch einmal zusammen: ,,Da ich
nun vorausgestellt habe, was ich vorausstellen wollte, laßt uns nun
zurückkehren zur Erwähnung jedes einzelnen der sechs (dichterischen)
Gedanken (ma'äni), von denen ich gesagt habe, sie seien die Haupt¬
anhegen der Dichter bei den (dichterischen) Gedanken ..."
Qudäma verwendet in seinen Ausführungen zwei Begriffe, die bei
TaTab nooh keine Rolle spielten, die aber in der späteren Dichtungs¬
theorie von überragender Bedeutung sein werden: die Begriffe ma'nä
(Plural: ma'äni) und garad (Plural: agräd). Wir haben sie wörthch mit
,, (dichterischer) Gedanke" und ,, Anliegen" wiedergegeben. — Aus dem
ersten Satz ergibt sich, daß ma'nä und garad in einer sehr engen Bezie¬
hung zueinander stehen, daß der ,, Gedanke" dem ,, Anliegen" irgendwie
entsprechen muß. Der ma'äni — so heißt es im folgenden — sind un-
zähhg viele, Qudäma will nur ausgewählte Beispiele dafür geben; und
das nicht einmal für alle agräd, sondern nur für die wichtigsten, ge-
bräuchhchsten und zeitlosesten. — Was versteht Qudäma nun genau
unter ma'äni'i Aus dem bisherigen kann man schließen: Sie sind die
einzelnen — zuerst nur gedachten, dann auch formulierten — Gedanken,
die das ,, Anhegen" des Dichters ausdrücken, es recht eigenthch kon¬
stituieren. — Aus dem zweiten zitierten Absatz wird aber deutlich, daß
die agräd selbst ma'äni sind. Der Begriff hat also eine engere und eine
weitere Bedeutung. Im engeren Sinne meint er : ma'nä = Gedanke bzw.
Ausdruck, der einen garad mitkonstituiert; im umfassenderen Sinne:
ma'nä (=garad) = Summe dieser Gedanken bzw. Ausdrücke. In praxi
treten aber keine terminologischen Schwierigkeiten auf: Qudäma ver¬
wendet im folgenden im umfassenderen Sinn stets garad.
Ein Passus aus dem Kapitel ,,Die Qualität des Lobes (madih)", der
das Verhältnis ma'nä — garad an einem Beispiel verdeutlicht, möge be¬
stätigen, daß wir Qudäma's Auffassung der beiden Termini richtig
wiedergegeben haben: ,,Wie herrlich ist doch, was 'Umar b. al-
Hattäb ... in einer Charakterisierung Zuhair's gesagt hat, nämUch : Er
pflegte einen Mann nur in dem zu loben, was dem Manne (auch tatsäch¬
Uch) zukam. Denn in diesem Ausspruch Uegt, wenn er (recht) verstanden
und angewandt wird, ein allgemeiner Nutzen, und der ist die Einsicht,
daß, wenn es nötig ist, die Männer nur in dem zu loben, was ihnen (tat¬
sächUch auch) zukommt und was (wirkhch) in Urnen hegt, es ebenso
notwendig ist, — abgesehen von ihnen — (auch) ein Ding nur in dem zu
loben, was ihm zukommt und in ihm liegt, was zu ihm paßt und ihm
14 Gregor Schoeler
nicht widerspricht ; und noch ein weiterer, zweiter Nutzen (hegt in diesem
Ausspruch), nämhch eine Bestätigung dessen, was wir zu Beginn unserer
Ausführung über die (dichterischen) Gedanken (ma'äni) gesagt haben,
und zwar, daß sie auf das erstrebte Anhegen (al-garad al-matlüb) in einer
diesem (Anhegen) entsprechenden Weise (alä Ijuqqihl) zielen sollen und
ein Abweichen von ihm zu dem hin, was ihm nicht gleicht, unterlassen
müssen"*".
Also : Der garad (das Anhegen) des Dichters ist das Lob des Mannes
oder des Dinges ; die einzelnen ma'äni sind die die (tatsächhch vorhan¬
denen) guten Eigenschaften getreuhch widerspiegelnden Gedanken, die
sich dann in den panegyrischen Versen, poetisch formuhert, manifestieren und das Lob recht eigentlich konstituieren.
Soviel zum Verhältnis ma'äni — garad. Wir müssen noch einmal auf
den Begriff garad zurückkommen. Unsere bisherige Definition lautete :
Der garad ist die Summe der einzelnen dichterischen Gedanken bzw.
der poetischen Formulierungen dieser Gedanken, die die vom Dichter
gewollte Aussage konstituieren. Wir konnten den Begriff deshalb mit
„Anhegen" übersetzen. Nun ergibt sich aber aus der Bemerkung, die
»?ia'äm sollten auf den erstrebten garcK^ in einer diesem entsprechen¬
den Weise ('alä haqqihi; wörthch: gemäß seiner Wahrheit bzw. Wirk¬
hchkeit) zielen, daß dieser garad nicht nur das (subjektive) Anliegen des
Dichters ist, sondern auch der Gegenstand selbst, den der Dichter so
genau wie möglich durch die ma'äni zu erfassen hat, der also selbst einen
Anspruch stellt. Zuhair's Lob ist nach 'Umar b. al-Hattäb eben deshalb
gut, weü der Dichter seinem Gegenstand, den Charakteren der zu loben¬
den Männer bzw. diesen Männern selbst, durch wahrheitsgetreue poetische
Darstellung gerecht wurde. — Vielleicht gibt das deutsche Wort „Vor¬
wurf" in seiner Bedeutung als ,, Gegenstand künstlerischer Bearbeitung"
diesen Aspekt des Qudäma'schen garad am treffendsten wieder. Wenn
wir im folgenden als normale Übersetzung des Begriffs den Terminus
,, Anhegen" beibehalten, so wollen wir dabei nie vergessen, daß Qudäma
— neben dem subjektiven ,, Anliegen" (z.B. ,,Lob") — auch gelegenthch
mehr den objektiven „Vorwurf" (z.B. Charakter des zu Lobenden bzw.
diesen selbst) im Auge haben kann.
Qudäma wül nur die sechs ,, Hauptanhegen" angeben, er erhebt also
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er nennt: Lob, Spott, Klagen, '
Vergleich, Beschreibung und Liebesrede. — Die Unterscheidung von
Beschreibung und Vergleich macht keine Schwierigkeiten : Beschreibung
ist eine direkte Aussage über einen Gegenstand (,, Erwähnung eines
Dinges gemäß dem, was in ihm ist an Umständen [a^todl] und Formen
" A.a.O. S. 28.
[hai'ät]"), der Vergleich dagegen illustriert einen Gegenstand durch
einen anderen, der mit dem ersten bestimmte Eigenschaften gemeinsam
hat (,,... ein Vergleich findet indessen zwischen zwei Dingen statt, die
teilhaben an Eigenschaften [ma'änil], die ihnen beiden gemeinsam sind
und durch die sie beide beschrieben werden")*'.
Die Beispiele, die Qudäma für die sechs Gruppen gibt, enthalten, im
Gegensatz zu den Ta'lab'schen Belegen, häufig schon eine beträchthche
Anzahl von Versen. Das Hegt daran, daß der Ausdruck eines Qudäma'¬
schen ,, Anhegens" oft (aber nicht immer) mehrere Verse in Anspruch
nimmt, während Ta'lab's ,, Elemente" sich ihrem Wesen gemäß niu: in
kleinen Einheiten darstellen. Der Qudäma'sche garad steht somit der
,, Gattung" der modernen Literaturwissenschaft schon bedeutend näher
als die Ta'lab'schen qawä'id, ist aber keineswegs mit ihr identisch.
Schon allein die Tatsache, daß Qudäma den Vergleich, der sich ja immer
nur über wenige Verse erstrecken kann, als eigene Kategorie beibehalten
hat, beweist zur Genüge, daß der Dichtungstheoretiker bei seiner Ein¬
teilung noch keine vollständigen Gedichte vor Augen hatte.
Nach welchem Prinzip hat nun Qudäma seine agräd eingeteilt? Doch
ganz offenbar wieder nach dem behandelten Gegenstand oder Thema
des Verses oder der Versgruppe, bzw. der Haltung des Dichters diesem
Gegenstand gegenüber. Wenn Qudäma also genau das gleiche Klassifi¬
kationsprinzip wie Ta'lab benutzt, so befähigt ihn aber sein neuer
Oberbegriff für die durch die Einteilung entstandenen Kategorien,
größere Teile eines Gedichts zu klassifizieren. Ein weiterer Fortschritt
Qudäma's — Fortschritt im Hinbhck auf die spätere Entwicklung der
Lehre von der Einteilung der Dichtung — besteht darin, dieBeschreibung,
den wasf, als eigene Kategorie herausgestellt zu haben. Möghcherweise
hat schon Ta'lab, wie Heineichs vermutet**, unter seinem iqtisäs ahbär
etwas ähnhches wie ,, Beschreibung" verstanden, jedoch scheint ihm der
von Qudäma dargelegte entscheidende Unterschied zu ,, Vergleich" noch
nicht aufgegangen zu sein, da sein Belegvers, zumindest in seiner zweiten
Hälfte, die Vergleichspartikel ka-anna-mä enthält, also nach der Qudäma'¬
schen Definition ein Vergleich ist.
Hinzuweisen bleibt noch auf zwei Einzelheiten. Da ist einmal Qudäma's
Versuch, einige Kategorien mit anderen zu verbinden bzw. einige aus
anderen herzuleiten. So ist ihm der higä' die Umkehrung des madih^^,
die maräti sind der madih eines Toten^", und der nasib ist der madih der
1' A.a.O. S. 62; S. 55.
*» Heinbichs: Dichtung, S. 20—27.
*» Qudäma: Naqd, S. 44.
2» A.a.O. S. 49.
16 Gbegob Schoeleb
Frauen*!. Damit hat er die Gruppen, deren Thema ausschheßheh der
Mensch ist, zusammengefaßt und von denjenigen, die hauptsächhch
Dinge behandeln, abgegrenzt.
Zum andern ist die Unterscheidung zwischen nasib und gazal bemer¬
kenswert, die Qudäma einführt**: ,,Der Unterschied zwischen beiden
besteht darin, daß das gazal der Gedanke {ma'nä) ist, der, wenn der
Mensch ihn in der Zuneigung {sabwa) zu den Frauen gefaßt hat, dadurch
Liebesverse an sie (sc. die Frauen) entstehen läßt; der nasib ist gleich¬
sam die Erwähnung des gazal, das gazal der Gedanke {ma'nä) selbst, das
gazal ist somit die Liebesneigung {tasäbi) und die Leidenschaft bei den
Liebesverhältnissen mit den Frauen."
Die europäische Arabistik pflegt unter nasib nur die erotische Ein¬
leitung der Qaside (charakteristisches Thema: Liebesklage) zu verstehen,
während sie mit gazal das selbständige Liebesgedicht meint, etwa wie es
bei 'Umar b. abi Rabi'a vertreten ist (charkteristisches Thema: galante
Plauderei). Eine solche Unterscheidung kennt die arabische Literatur¬
theorie jedoch nicht. Meistens werden dort die beiden Begriffe einfach
als Synonyme gebraucht; wenn Unterscheidungen gemacht werden, so
betreffen sie nie die selbständige oder unselbständige Behandlung des
Themas**. Der Unterschied, den Qudäma einführen will, schließt offen¬
sichthch gazal als garad aus ; gazal ist für ihn die Liebesleidenschaft selbst bzw. der (noch nicht formulierte) poetische Gedanke , ,Liebesleidenschaft' ';
erst der nasib ist die manifest gewordene Dichtung.
Der bei uns gebräuchliche Begriff gazal für das selbständige arabische
Liebesgedicht ist sicherlich eine „Rückanwendung" des persischen Begriffs gazal, der ja stets ein selbständiges Gedicht bezeichnet, auf das Arabische.
Durch die Dichtung von Häfi? war man ja in Europa viel früher auf das
persische gazal aufmerksam geworden als auf sein arabisches Gegenstück.
Ishäq b. Ibrähim b. Sulaimän b. Wahb al-Kätib
Der dritte Theoretiker, mit dessen Klassifikationen wir uns zu be¬
schäftigen haben, ist Qudäma's Zeitgenosse Ishäq b. Ibrähim (st. ?).
ä> A.a.O. S. 28.
" A.a.O. S. 65.
Vgl. Heinbichs: Dichtung, S. 13: ,, Diese Neuerungen (sc. 'Umar b. abi
Rabi'a's) sind, eben weil sie das Gedicht als formales und inhaltliches Ganzes
betreffen, in den arabischen literaturtheoretiscben Werken nirgends ange¬
messen beschrieben, dafür fehlte offensichtlich das Interesse und folglich
eine geeignete Fachterminologie."
Der Titel seines Buches lautet al-Burhän ji wugüh al-bayän. Es galt
früher für ein Werk Qudäma's und war unter dem Namen Naqd an-
natr bekannt**.
In dem Kapitel über „Die Zusammensetzung des Sprachausdrucks"*^
erfahren wir: „Die Dichtung wird in Gruppen (aqsäm) eingeteilt. Dazu
gehören: der qasid, das ist die schönste und den Verfahrensweisen der
Dichtung angemessenste (Gruppe) ; ferner der ra^az, das ist die leichteste
(Gruppe) ... Der rägiz ist (eigentlich) der Tränker, der Wasser zu trinken
gibt, und der Ursprung der rog'oz-Verse war der, daß der Tränker mit
dergleichen (die Arbeit) seines Eimers begleitete, wenn er ihn hinunter¬
ließ, dann übernahmen die Dichter ihn (sc. den ragaz), so daß er sich der
Dichtung (im eigenthchen Sinn; qasid) anschloß. (Zur Dichtung) gehört
auch der musammat, d.h. der Dichter bringt fünf Verse mit (gleich¬
bleibendem) Reim; dann bringt er einen Vers mit einem anderen Reim
als dem bisherigen, dann bringt er fünf Verse mit (wieder) anderem (aber
in sich gleichbleibendem) Reim, dann bringt er wiederum einen Vers, der
auf den ersten (alleinstehfenden) reimt, und so fort bis zum Ende des
Gedichts. (Zur Dichtung) gehört auch der muzdawi^, d.h. (eine Dichtung,
die) paarweise bis zum Ende des Gedichts (qasida) gereimt ist. Meistens
ist sein Metrum das Metrum ragaz."
Im selben Kapitel, einige Seiten weiter, teilt Ishäq die Dichtung nach
einem anderen Gesichtspunkt ein*": „Die Dichter verfügen über viele
'Arten' (junün), die man letzthch in vier Gruppen zusammenfassen kann,
nämhch: das Lob (madih), den Spott (higä'), die Weisheit (hikma) und
den Scherz (Idhw; Tbabulsi verwendet die treffende Übersetzung
'po6sie lagere'). Dann verzweigen sich von jeder einzelnen Gruppe
(wiederum) 'Arten'; so gehören zum Lob: die Klagen (maräti), der
Selbstruhm (ijtihär), der Dank (Sukr), die höfliche Bitte (al-lutf fi
'l-mas'ala) und anderes, das dem (Angeführten) ähnhch ist und dessen
Bedeutung ihm nahesteht. Und zum Spott gehören: die Vorhaltung
(dämm), der Tadel ('atb), der Zögerungsvorwurf (istibtä'), der Verweis
(ta'nib) und diesem Ähnhches und Vergleichbares. Und zur Weisheit
gehören: die Gnomik (amtäl), der Aufruf zur Askese (tazhid), die Er¬
mahnungen (mawä'iz), und was dem ähnelt und von seiner Art ist. Und
zum Scherz gehören: die Liebesworte (gazal), die Jagd (-dichtung) (tard),
die Beschreibung des Weins (sifat al-hamr), die Possenreißerei (mu^ün)
2* Häufig wird der Verfasser desbalb als „Pseudo-Qudäma" bezeichnet, so bei Teabulsi: Critique, S. 217.
" Ishäq: Burhän, S. 160 ff.
Ishäq: Burhän, S. 170 ff.; Tbabulsi, Critique, S. 217. Die vorige Ein¬
teilung gibt Teabulsi nicht.
2 ZDMG 123/1
18 Gregor Schoei-bb
und dergleichen." Darauf gibt Ishäq für die wichtigsten Gruppen Bei¬
spiele, und zwar jeweils nur einen oder höchstens zwei Verse.
Zunächst wollen wir uns der ersten Klassifizierung zuwenden. Um als
Dichtung angesprochen zu werden, bedarf eine arabische ,,Rede", zweier
äußerer Merkmale : Sie muß in einem Metrum abgefaßt und gereimt sein.
Qudäma definiert*': ,,Sie (sc. die Dichtung) ist eine metrische, gereimte
Rede, die einen Sinn (ma'nä) ausdrückt." Diese beiden (äußeren) Kenn¬
zeichen, Metrum und Reim, geben das Prinzip für eine Einteilung der
Dichtung nach der äußeren Form ab.
Die von Ishäq angeführten Gruppen lassen sich danach folgender¬
maßen voneinander abgrenzen: qasid: alle Versmasse außer ragaz,
durchgehender Reim; ragaz: das Versmaß gleichen Namens, dm-ch-
gehender Reim; musammat: Versmaß nicht vorgeschrieben, nach be¬
stimmten Regeln angeordneter, nicht durchgehender Reim; muzdaung:
Versmaß meist ragaz, Reimpaare. ■— Diese Einteilung ist mcht nur
formal-logisch konsequent, sondern entspricht auch aufs genaueste den
Eigenarten der arabischen Dichtung. Die Opposition ragaz — alle übrigen
Metren, die das Schema Ishäq's recht eigentlich beherrscht, ist, wie
Ullmann im Einleitungskapitel zu seinem Ragaz-Buch^^ ausgeführt hat,
schon früh von den Arabern erkannt worden. Ishäq's Charakteri¬
sierung der qasid-Dichtung als ,, schönste und den Verfahrensweisen der
Dichtung angemessenste (Gruppe)" und deren Absetzung vom ragaz als
,, leichtester", ursprünghch gar nicht zur Poesie im engeren Sinn gehöriger
Dichtart, paßt hervorragend zu den von Ullmann angeführten ,, alten
Berichten", die allesamt den ragaz ,, nicht als 'Poesie' im vollen Sinne"
gelten lassen wollen, und die ,,nur das, was in den großen Metren Tawil,
Basit, Kämil, Wäfir usw. gedichtet ist, ... als eigenthche Poesie, als
si'r, qarid, qasid" anerkennen*». Ullmann hat sich die Frage gestellt, ob
diese Unterscheidung aus sachhchen Gründen aufrecht erhalten werden
kann. Er kommt zu dem Ergebnis, ,,daß das Gefühl der Araber für die
Sonderstellung des Ragaz wohlbegründet war", und ,,daß nicht nur
äußere Kriterien metrischer und thematischer Art geltend zu machen
sind, sondern daß die Sonderstellung des Ragaz auch durch sprachhche
Eigentümhchkeiten begründet wird .. ,,Man kann geradezu sagen,
daß hier einem bestimmten Metrum eine bestimmte Art zu dichten zu¬
geordnet ist, und dieser Umstand rechtfertigt es, von Ragazpoesie zu
sprechen. Umgekehrt gibt es keine TawiZpoesie, Äasifpoesie, IFä^rpoesie
jeweils als Dichtungsgattung sui generis"**.
" Qudäma: Naqd, S. 2.
2' Ullmann : Ragazpoesie, S. Iff.
29 A.a.O. S.l. 30A.a.O. S. 2. " A.a.O. S. 3.
Die beiden Gruppen musammat und muzdawig sind durch die Besonder¬
heiten ihrer Reimanordnung von der übrigen arabischen Dichtung, für
die durchgehender Reim die Regel ist, in auffälhger Weise unterschieden.
Dazu kommen aber mederum, ebenso wie für den ragaz, inhalthche Be¬
sonderheiten. Das güt zumindest für den regelmäßig im Metrum ragaz
abgefaßten muzdawig. Ullmann hat daher innerhalb des zweiten
Kapitels seines Buches, das einen historischen Abriß der gesamten
iJogazpoesie gibt, den muzdawig in einem besonderen Abschnitt be¬
handelt**. — Bei aller Leichtigkeit, mit der man im Arabischen eine
große Menge von reimenden Wörtern finden kann — für eine Qaside
sind über hundert Verse mit gleichem Endreim keine Seltenheit —, ein¬
mal ist auch der größte Vorrat erschöpft. Für sehr lange Gedichte kann
daher die Qasidenform nicht in Frage kommen. Hier bietet sich der
muzdawig mit seinem dauernd wechselnden Reim an. Daher werden
historisch-epische und didaktische Stoffe regelmäßig in der muzdawig-
Form behandelt. Umgekehrt sind Stoffe oder Themen, die sonst in der
Qasidendichtung behandelt werden, im muzdawig die Ausnahme**.
Ob sich auch beim mu.sammaf^, der ja als Vorstufe des mutoaSSah und
der arabischen Strophendichtung überhaupt gölten muß^'', thematische
Besonderheiten aufzeigen lassen, ist m.W. noch nicht untersucht worden.
Man darf aber mit Sicherheit annehmen, daß er, wenn nicht andere Themen
als der qasid, so doch, wio der muwaäsah, vorzugsweise bestimmte Themen
behandelt. — Für die muwaiiah-Dichtung hat M. Hartmann als Haupt¬
gegenstand die Liebe festgestellt; gewisse andere Themen, wie |die Satire,
sind nach Hartmann in dieser Diohtart nie behandelt worden.
Es läßt sich also feststellen, daß wir in dieser ersten Einteilung der
arabischen Dichtung durch Ishäq eine Gattungsklassifikation nach
Prinzipien der äußeren Form besitzen, die den Eigenarten der arabischen
Dichtung aufs genaueste entspricht und die daher auch in einer modernen
Gattungsuntersuchung zu Grunde gelegt werden kann.
Als ebenso brauchbar erweist sich, das sei hier vorwegnehmend schon
gesagt, die andere, thematische Klassifikation. — Wie ist Ishäq zu dieser
von Ta'lab und Qudäma doch erhebhch abweichenden Einteilung ge¬
kommen? Wir müssen uns wieder einen Augenbhck lang den Eigenarten
der arabischen Dichtung zuwenden, und zwar diesmal einigen Charak¬
teristika der sog. ,, modernen" Poesie.
»2 A.a.O. S. 46—59.
ä3 Eine solohe Ausnahme ist das berühmte Gedicht „Über den Tadel des
Frühtrunlcs" von Ibn al-Mu'tazz.
^* Zum musamma} vgl. Hartmann: Strophengedicht, S. lllff. und S. 213ff.
*5 A.a.O. S. 213 und 214.
2*
20 Gregor Schoeler
Schon in der Umaiyadenzeit, besonders auffälhg aber seit Beginn der
'Abbäsidenära, beginnt sich die arabische Poesie zu wandeln. Themen,
die bisher meist nur im Zusammenhang der mehrteUigen Qaside behandelt
wurden, treten nun auch isohert in kürzeren Stücken auf. Die neue Um¬
welt, Stadt bzw. Hof statt Wüste, rückt dazu neue Themen in den Blick.
Nach und nach verhert die Regel, daß jeder Vers eine syntaktische
Ganzheit sein muß, ihre strenge Geltung. Schon bei Abü Nuwäs, dem
Hauptvertreter der frühen ,, modernen" Poesie, ist das tatmim oder
tadmin, das Übergreifen des Sinnes eines Verses in den folgenden, sehr
häufig*". Abü Tammäm und Ibn ar-Rümi haben dann — nach allge¬
meiner Auffassung — zuerst logisch aufgebaute Qasiden verfaßt.
Ishäq b. Ibrähim hat nun diese Neuerungen in seinem System zum
ersten Male — bewußt oder unbewußt — berücksichtigt. Auch Qudäma
hatte schon — im Gegensatz zu Ta'lab — relativ häufig ,, moderne'
Dichtung zitiert, trotzdem war sein Schema, wie wir gesehen haben,
noch nicht restlos auf Gedichtganzheiten anwendbar. Der Verzicht auf
Vollständigkeit beim Aufzählen der aqräd einerseits und die begriffhche
Weite einiger Kategorien andrerseits*' lassen überdies nicht erkennen,
ob der Autor die Neuerungen der „modernen" Poesie auf thematischem
Gebiet irgendwie in den Blick bekommen hat. — Durch die Einführung
der Obergruppen hikma und Idhw mit ihren Unterteilungen wird Ishäq
dagegen einer großen Anzahl von neuen Themen gerecht. Da er außerdem
Gruppen wie tashih und iqtisäs ahhär, die nur Einzelverse oder bestenfalls
Gedichtteile zu klassifizieren vermögen, aus seinem System eliminiert
hat, ist dieses ohne Rest auf Gedichtganzheiten anwendbar.
Ishäq's Prinzip bei dieser zweiten Klassifizierung ist der Gegenstand
oder das Thema (Lob, Spott, Weisheit, Scherz) bzw. die Haltung des
Dichters dem Gregenstand oder Thema gegenüber (lobend, spottend,
ernsthaft-reflektierend, leicht-scherzhaft). — Der Dichtungstheoretiker
wül, wie er selbst sagt, auf Grundkategorien zurückkommen; so stellen
sich ihm die Haupt- oder Obergruppen in zwei Gegensatzpaaren dar:
Lob — Spott; Weisheit — Scherz. Neben die schon vorhandenen gegen¬
sätzlichen Kategorien madih und higä' stellt er nicht behebig viele
weitere, sondern faßt alles Verbleibende, in strengem Parallelismus zu
den beiden ersten, zu zwei neuen gegensätzhchen Kategorien zusanamen.
Der Tendenz, Dichtarten auf Grundkategorien bzw. Grundhaltungen
zurückzuführen, werden wir im folgenden noch einige Male begegnen.
" Wagner: Ahü Nuwäs, S. 220.
*' Es ist z.B. nioht auszumachen, ob Qudäma beim wasf auch das so
außerordentlich wichtige „modeme" Thema sifat al-hamr (Weinbeschrei¬
bung) mit im Auge gehabt hat. Die von ihm angeführten Zitate sprechen
eher dagegen.
Sie ist übrigens charakteristisch nicht nur für einige arabische, sondern
auch für viele europäische nicht rein deskriptive Gattungstheorien und
taucht sogar in neuesten europäischen Untersuchungen auf**.
Die Tatsache, daß Ishäq die ,, Gattungen" auf Grundkategorien zurück¬
zuführen versucht und daher eine hierarchische Ordnung in sein Schema
bringen muß, beeinträchtigt kaum die praktische Anwendbarkeit seines
Systems. Eine moderne Darstellung der poetischen Gattungen im Arabischen
könnte Ishäq's Liste durchaus zu Grunde legen, —• allerdings hätte sie die
hierarchische Ordnung neu zu überprüfen oder überhaupt ganz aufzugeben.
Viele Untergruppen entsprechen übrigens genau imserem heutigen Begriff
von einer arabischen Dichtungsgattimg, das gilt vor allem für die Unter¬
teilungen der Kategorie lahw (der Oberbegriff erscheint uns als überflüssig
und gesucht), am wenigsten vielleicht für die Untergruppen von higä', die
man wohl kaum gesondert behandeln würde. Umgekehrt wären sicherlich
die maräti, vielleicht auch der iftihär unabhängig vom madih zu betraohten.
Kriterium sollte hierbei jeweils das Vorhandensein bzw. das Nichtvorhanden¬
sein von eigenständigen ästhetischen Konventionen in der betreffenden
Gattung sein.
Wir haben gesagt, Ishäq's System sei ohne Rest auf Gedichtganzheiten
anwendbar. Daraus darf man aber nicht ohne weiteres schheßen, daß er
bei seiner Einteilung bewußt Gedichtganzheiten zu Grunde gelegt hat,
zumal da er als Belege für seine funün immer nur Einzel verse anführt.
Die funün aS-Si'r könnten also bei üim sehr wohl nur als Themen der
Dichtung verstanden sein. Wahrscheinhch ist sich Ishäq, genau wie alle
übrigen arabischen Dichtungstheoretiker, der diesbezüglichen Proble¬
matik gar nicht bewußt geworden. Doch haben ihn die „modernen"
Gredichte, für die immer nur ein Thema charakteristisch ist, dazu ver¬
anlaßt, als ,, Arten der Dichtung" nur solche Themen zu bezeichnen, die
auch selbständige Gedichte büden können.
Abü Hiläl al-'Askari
Von Abü Hüäl al-'Askari (st. 1005) besitzen wir zwei ,,Gattungs"-
listen, beide zählen thematisch bestimmte Dichtarten auf. Die eine steht
am Ende des zweiten Abschnitts des zweiten Kapitels seines Kitab as-
sinä'aiain. Dort heißt es**: ,,Da die Anhegen (agräd) der Dichter viele
sind und ihre (dichterischen) Gedanken sich stark verzweigen, so daß
man sie nicht alle aufzählen kann, ist es sinnvoll, (nur) das zu erwähnen,
was am gebräuhchsten ist und was am längsten untersucht wurde, und
das ist: das Lob (madJ),), der Spott (hi^ä'), die Beschreibung (wasf), der
Vgl. etwa Wolfgang Kaysek: Das sprachliche Kunstwerk. Bern und
München 1968, S. 330—387, bes. S. 338—346, wo der Verfasser die „Grund¬
haltungen" des Lyrischen zu ermitteln sucht.
" 'Askari: Sinä'atain, 8. 131; Tbabulsi: Critique, S. 216.
22 Gregor Schoeler
Ausdruck der Liebe (nasib), die Klagen (maräti) und der Selbstruhm
(fahr). Zuvor habe ich schon den madih und den higä' erwähnt und was
bei beiden zu behandeln nötig ist, dann habe ich jetzt den wasf und den
nasib erwähnt, habe aber die maräti und den fahr ausgelassen, weil sie
beide in den Bereich des madih fallen. Denn der fafir ist das Lob deiner
selbst in Bezug auf Redhchkeit, Bescheidenheit, Edelmut, Wissen, edle
Abkunft und ähnhches. Und die martiya ist das Lob des Toten; der
Unterschied zwischen beiden und zwischen dem madih ist der, daß du
(in der martiya) sagst: 'Er war so und so', während du im madih sagst:
'Er ist so' und (itn fafir): 'Du bist so'".
Zweifellos ist diese Liste von der Klassifizierung Qudäma's inspiriert.
Die Erläuterungen, die 'Askarl zu seiner Einteilung gibt, sind im wesent¬
hchen Paraphrasen von Qudäma'schen Formulierungen (so die Betonung
der Unmöglichkeit, alle agräd und ma'äni aufzuzählen; ferner die Be¬
gründung für die Einordnung der maräti unter den madih). Interessant
ist in unserem Zusammenhang nur, in welchen Punkten 'Askari von
Qudäma abweicht: Er tügt den taSbih als eigene Kategorie und führt
den fahr als solche ein, ordnet ihn aber alsbald wieder dem madih unter.
Durch die Ehminierung des Vergleichs wird sein Schema, im Gegensatz
zu dem Qudäma's (und gleich dem Ishäq's), ohne Rest auf Gedichtganz¬
heiten anwendbar. Der wasf, die (bUdlose) Beschreibung, tritt ja, anders
als der Vergleich, seit der 'Abbasidenzeit als selbständige Gattung (im
modernen Sinn) auf.
Die andere ,,Gattungs"liste 'Askari's steht im dritten Kapitel seines
Diwän al-ma'äni, das den poetischen Glückwunsch behandelt. Dort
heißt es*": ,,Er (sc. der Glückwunsch) gehört nicht zu den Gruppen, in
denen die Beduinen Dichtung gestalteten; in der Heidenzeit gab es
nämlich nur fünf Gruppen: das Lob (madih), den Spott (higä'), die Be¬
schreibung (wasf), den Ausdruck der Liebe (taSabbub) und die Klagen
(maräti), bis an-Näbiga eine sechste Gruppe hinzufügte, nämhch die
Entschuldigung ((i'tidär). Und er beherrschte sie hervorragend, und ich
kenne keinen von den Modernen, der eine solche Vollkommenheit darin
erlangt hat, außer al-Buhturi ... Und ich kenne auch nichts von den
Beduinen, was den Glückwünschen zugeordnet werden könnte, und
was auch immer von ihnen an (den Glückwünschen) Vergleichbarem
überhefert ist, wird von den Gelehrten zur Gi'uppe des Lobes (madih)
gerechnet."
Dieses Schema unterscheidet sich von dem anderen mu- darin, daß es
den fahr nicht nennt und dafür Entschuldigung und Glückwunsch (als
der späteren arabischen Poesie eigentümliche Gruppen) neu einführt.
*» 'Askari: Diwän I, S. 91—92; Trabulsi: Critique, S. 217.
Da die Liste aus dem Kitäb as-sinä'atain keinen Anspruch auf Voll¬
ständigkeit erhebt, kann man die aus dem Diwän al-ma'äni als eine
Ergänzung dazu auffassen.
Bemerkenswert ist, daß 'Askarl sich bewußt gemacht hat, daß im
Verlaufe der Entwicklung der Poesie neue Gattungen entstanden sind.
Dieser Ansatz zu einer historischen Betrachtungsweise der Gattungen
fehlte bisher völlig und wird auch von 'Askari nicht weiter aus¬
geführt.
Ebenso wie für Qudäma sind auch für 'Askari die aqsäm oder agräd
im weiteren Sinne ebenfalls ma'äni, bzw. der Unterschied zwischen
beiden ist auch bei dem späteren TheoretikeJ'nicht scharf: So werden im
ersten Kapitel des Diwän al-ma'äni madih, tahäni und iftihär, also (im
modernen Sinn) Gedichtgattungen behandelt, im letzten Kapitel da¬
gegen (im modernen Sinn) Motive, z.B. "Das Schönste, was über das
Küssen der Hand gesagt wurde" oder ,,Was überhefert ist in der Art von
'Gott möge deine Lebensdauer lang machen' oder 'möge ich dein Lösegeld
sein'". Obwohl solche ,, Motive" seit dem 9. und 10. Jahrhundert als
selbständige Gedichte vorkommen können — Gbunebaum nennt sie
,, epigrammatische Skizzen" und ,, poetische Momentaufnahmen"**,
Bübgel spricht von „Bonmots", ,, Aphorismen", ,, Epigr ammen"** —, so
zeigt doch die Tatsache, daß 'Askari sie auf einer Ebene mit den ,, großen
Gattungen" behandelt, wie wenig bei ihm agräd und ma'äni unter¬
schieden sind. Da er zudem den taSabbub (die Liebesverse) und den wasf
(die Beschreibung) als eigene ,, Gattungen" der Poesie der Heidenzeit
aufführt, obwohl sie in dieser Epoche ganz überwiegend nur im Zusam¬
menhang der mehrteihgen Qaside vorkommen, kann man auch für ihn
feststellen, daß er bei seiner Einteilung der Dichtung keine Gedichtganz¬
heiten zu Grunde gelegt hat bzw. daß ihm eine diesbezüghche Proble¬
matik nicht bewußt geworden ist.
Der garad stellt sich also für 'Askari in einer Gruppe von Versen mit
einheitlicher, in sich abgeschlossener Thematik dar, ohne Rücksicht
darauf, ob diese Versgruppe ein selbständiges Gedicht ist oder Teü einer
größeren Qaside. ■— Ebenso wie Ishäq dürften auch 'Askari die ,, moder¬
nen" Gedichte, für die nur ein Thema charakteristisch ist, dazu ver¬
anlaßt haben, nur Themen, die auch selbständige Gedichte bilden können,
als agräd zu definieren und den Vergleich zu ehminieren. In dieser Hin¬
sicht steht sein ,,Gattungs"begriff dem Ishäq'schen näher als dem Qu¬
däma's, obwohl seine Liste und die Kommentare dazu ohne Zweifel von
letzterem inspiriert sind.
** Gbunebaum: Naturauffassung, S. 45.
BtjEGBL: Epigramme, S. 228.
24 Gbegob Schoeleb
Von Ibn Raäiq zitierte „Gattungs'Tisten
Ibn Raliq (1000—1064 oder 1070) hat uns im 18. Abschnitt des ersten
Teüs seines Buches al-'Umda, dem „Kapitel über die Definition der
Dichtung und ihren Aufbau" fünf verschiedene „Gattungs"listen auf¬
bewahrt**.
Die erste, anonjrme, will die ,, Stützen" oder , .Grundlagen" (arkän)
ausfindig machen, auf die die Dichtung aufgebaut ist. Diese sind: das
Lob (madh), der Spott (hi^ä'), der Ausdruck der Liebe (tuisib) und die
Klage (ritä'). — Die vier Kategorien, allesamt in der Dichtung der
Heidenzeit vertreten, sollen offensichtlich die eigenthchen, ursprüng¬
lichen Dichtarten der arabischen Poesie bezeichnen (daher der Ausdruck
arkän), von denen dann, so muß man ergänzen, die späteren ihren Aus¬
gang genommen haben. Einteilungsprinzip ist auch hier das Thema; der
Klassifikation unterhegen, wie bei 'Askarl, wohl kaum Gedichtganzheiten,
sondern in sich geschlossene Gedichtteile. Daher entspricht diese Ein¬
teüung auch fast genau der im Diivän al-ma'äni, nur daß 'Askarl
noch den wasj als fünfte Gruppe hinzugefügt hatte.
Da sich die arkän aber auch sehr leicht vier Grundaffekten zuordnen
lassen (eine solche Zuordnung hegt dem zweiten ,,Gattungs"schema, das
Ibn Raäiq zitiert, zu Grunde), sei die Vermutung ausgesprochen, daß der
Autor bei der Aufstellung seines Systems solche Dichtarten als ,, Grund¬
lagen" bezeichnet hat, die sich besonders leicht aus Affekten erklären
lassen: Das Lob entspränge dann dem Begehren, der Spott dem Zorn,
die Liebesverse der Emotion, die Klage dem Mitleid oder der Trauer.
Damit wäre auch erklärt, warum die Kategorie ,, Beschreibung" (wasf)
in diesem Schema fehlt: Sie läßt sich schlecht einem Affekt zuordnen.
Die zweite von Ibn RaSlq überheferte, ebenfalls anonyme ,,Gattungs"-
hste erklärt exphcite vier Affekte, und zwar das Begehren (ragha), die
Furcht (rahba), die Emotion (tarab) und den Zorn (gadab), als ,, Funda¬
mente" (qawä'id) der Dichtung. ,,Zu dem Begehren gehört das Lob
(madh) und der Dank (Sukr), zur Furcht die Entschuldigung (i'tidär) und
das Flehen (isti'täf), zur Emotion die Sehnsucht und die zarten Liebes¬
verse (riqqat an-nasib), und zum Zorn der Spott (higä'), die Drohung
(tawa"ud) und die kränkende Vorhaltung ('itäi mügi')." — Hier wird
die Dichtung also nicht auf Grundhaltungen, sondern auf die diesen
Haltungen zu Grunde Hegenden Affekte zurückgeführt.
Tbabulsi hat für dieses System Aristotelische Gedanken verantwortlich
machen wollen („d'une inspiration aristot61icienne manifeste"). Er hat
dabei wohl die Erörterungen des griechischen Phüosophen über die
" Ihn Raäiq: 'Umda I, S. 120—121. Tbabulsi: Critique, S. 217—218 be-
handelt nur die zweite und fünfte Gattungsliste.
menschlichen Affekte in der Rhetorik und der Nikomachischen Ethik vor
Augen gehabt. Die — auf den ersten Bhck bestechende — Hypothese
Tkabulsi's läßt sich jedoch idcht halten. Denn einerseits hat Aristoteles
weder in der Ethik noch in der Rhetorik die von ihm behandelten Affekte
mit der Poesie in Verbindung gebracht, während andrerseits schon
geraimie Zeit, bevor die fraghchen Aristotelischen Schriften in Über¬
setzung vorlagen**, arabische Dichter und Theoretiker versucht haben,
die Poesie bzw. ihre Arten auf Affekte zurückzuführen*^.
Diese älteren Versuche unterscheiden sich von dem des zur Rede stehen¬
den Theoretikers durch eine inkonsequentere Verfahrensweise: Sie führe
außer Affekten noch andere Antriebe der dichterischen Inspiration auf. A'
schon deshalb kann für sie ,, Aristotelische Inspiration" nicht in E
kommen.
Der Dichter Ar^ät b. Subaiya soll — naoh Ibn Qutaiba*' — zi
Umaiyadenkalifen 'Abdalmalik gesagt haben: ,,Wie sollte ich da
Gedichte-Verfassen) wohl, da ich weder trinke, noch froh {a{rabu),
zornig bin {agdabu). Die Dichtung aber kommt nur durch eines von di
dreien".
Ibn Qutaiba selbst zählt als Antriebe (dawäH), die der Dichtung zu Grun liegen, auf: das Verlangen {{am'), die Sehnsucht (Sauq), das Trinken {Saräb),
die Freude {farab, oder Emotion) und den Zorn {gadab).
Das Vorgehen des von Ibn Rasiq zitierten Theoretikers muß also im
Zusaimnenhang einer langen genuin-arabischen Tradition gesehen werden,
an deren Anfang sohon entsprechende, aber noch recht unsystematische
Versuche gestanden haben, in denen neben Affekten auch andere Antriebe
für die poetische Inspiration verantwortlich gemacht wurden, und an deren
Ende erst eine konsequente Erklärung der Dichtarten aus Affekten steht.
Daß diese Affekte dann einigen der von Aristoteles behandelten (in der
Ethik sind es 11, in der Rhetorik 14) entsprechen, ist nur natürlich.
Als dritte ,,Gattungs"liste zitiert Ibn Raäiq eine Klassifikation des
Grammatikers 'Ali b. 'Isä ar-Rummäni (889-994). Nach Rummäni sind
die zumeist behandelten ,, Anliegen" {agräd) der Dichtung folgende fünf:
die Liebesverse {nasib), das Lob {madh), der Spott {hi^ä'), der Selbst¬
ruhm (fahr) und die Beschreibung (wasf). DieEinteilung ist zweifellos
von Qudäma inspiriert; es fehlen nur die Kategorien „Klagen", die ja
auch Qudäma theoretisch zum Lob gezählt hatte, und „Vergleich".
Abweichend von seinem Vorgänger ordnet Rummäni den Vergleich (und
die mit ihm verwandte Metapher, von der bisher im Zusammenhang mit
Dichterarten noch nie die Rede war) der Gruppe „Beschreibung" zu:
** Vgl. F. E. Pbtees: Aristoteles Arabus. Leiden 1968, S. 26—28 und
S. 52—53.
Ibn Qutaiba : Si'r, S. 17—18. Übersetzung von Nöldeke: Beiträge,
S. 23—24.
** Ibn Qutaiba: Si'r, S. 18. Übersetzung von Nöldeke: Beiträge, S. 24.
26 Gebgob Schoeler
, ,Der Vergleich und die Metapher gehören zum Kapitel der Beschreibung' '.
Das heißt, für ihn sind Vergleich und Metapher weder eigene ,, Anhegen",
noch allen Dichtarten gemeinsame bildliche Ausdruckweisen, sondern
Sonderformen der einen Dichtart wasf. Es braucht kaum erwähnt zu
werden, daß so beschaffene Kategorien nur wenige Verse übergreifend
zu klassifizieren imstande sind.
Die nächste in der 'Umda angeführte ,,Gattungs"liste schreibt Ibn
RaSiq dem 'Abdalkarim an-Nahsali (st. 1014)*' zu: Sie ist vollkommen
identisch mit der Ishäq b. Ibrähim's. Da nach den Ausführungen
Ahmad Matlüb's im Einleitungskapitel zum Burhän die Verfasserschaft
Ishäq's nicht angezweifelt zu werden braucht und zudem Ishäq älter als
'Abdalkarim ist, kann man mit einiger Sicherheit annehmen, daß
letzterer in seinem von Ibn Rasiq benutzten Werk die Klassifikation
Ishäq's ■— mit oder wahrscheinhcher ohne Angabe des Verfassers —
übernommen hat**.
Wir könnten damit die Besprechung dieser Klassifikation abschheßen,
wenn Ibn Rasiq uns nicht im vorausgehenden Kapitel ,,Über die Dichter
und die Dichtung" einen Passus von 'Abdalkarim aufbewahrt hätte, der
eine eigene Interpretation der von ihm akzeptierten ,,Gattungs"liste
enthält**: „Die Dichtung besteht aus vier 'Gattungen' (asnäf). Es gibt
Dichtung, die insgesamt gut ist, das ist, was in den Kapiteln der Askese,
der edlen Ermahnungen, und derjenigen Gleichnispoesie steht, die auf
einen (Autor) zurückgeht, der damit das Gute oder etwas dergleichen
exemplifiziert; ferner gibt es Dichtung, die insgesamt elegant ist, das
trifft für die (dichterische) Rede bei den Beschreibungen (ausäf) zu, den
(positiven) Schilderungen (nu'üt) und den Vergleich (tasbih) und was es
alles in dieser Art an dichterischen Gedanken (ma'äni) und Dichtwerken
(ädäb) sonst noch geben mag ; dann gibt es Dichtung, die insgesamt böse
ist, das ist der Spott und (alles), womit der Dichter der Ehre der Leute
zusetzt; schließlich gibt es Dichtung, mit der er Gewinne macht, daß
heißt, daß er auf jeden Markt trägt, was dort besonders guten Absatz
findet, und daß er jeden Menschen so anspricht; wie es ihm entspricht,
und daß er ihm jeweils nach seiner Vorstellung entgegenkommt".
Die vier Dichtarten Lob, Spott, Weisheit und leichte Dichtung werden
also nach ihrem Wesen oder ihren wesentlichen Eigenschaften von¬
einander abgegrenzt, wodurch ihre Stellung als Gr und kategorien unter¬
strichen wird. 'Abdalkarim hat damit Ishäq ein neues, von ihm selbst
Über ihn und Ibn Rasiq's Entlehnungen aus seinem Werk vgl. Chedly
BouYAHiA: Le livre de 'Abd al-Karim al-Nahsall „retrouve" . In: Arabica 10 (1963), S. 237—252.
Über Entlehmmgen in 'Abdalkarün's Werk vgl. a.a.O. S. 250.
" Ibn Rasiq: 'Umda I, S. 118.
entwickeltes Einteilungsprinzip unterstellt. Daß dieses die Klassifikation
nicht ursprünghch hervorgerufen haben kann, sondern nachträglich in
sie hineininterpretiert ist, wird sofort durch die Tatsache augenfällig,
daß für die Charakterisierung der Kategorie ,,Lob" keine echte Eigen¬
schaft übrigbleibt: Während die ,, Weisheit" insgesamt ,,gut", der Spott ,,böse", die ,, leichte Dichtung" ,, elegant" ist, muß sich das ,,Lob" mit
der zum bisherigen schlecht passenden Kennzeichnung als ,, Dichtung
mit der er (sc. der Dichter) Gewinne macht", abfinden.
Die letzte von Ibn Raliq zitierte, wieder anonyme, ,,Gattungs"liste
kennt nur noch zwei (thematisch bestimmte) Dicht-,, Ar ten" (nau'än):
das Lob und den Spott. Das Gesamt der Dichtung wird auf diese beiden
Kategorien verteilt, nur dem Tadel (Htäb) und dem Ansporn (igrä') wird
ein ,, Zustand zwischen den beiden Zuständen", also eine Mittelstellung
zwischen den Grundkategorien, zugesprochen. Als zum Lob (madh) ge¬
hörig werden namenthch aufgezählt : die Trauer (ritä'), der Selbstruhm
(iftihär), die Liebesverse (tasbih), die positive Beschreibung (mahmüd
al-wasf) mit den Beschreibungen der Reste der verlassenen Wohnstätten
und Spuren, die schönen Vergleiche (ai-taSbihät al-hisän), die (Dichtung
zur) Veredelung der Sitten mit den Gleichnissen (amtäl), der Gnomik
(hikam), den Ermahnungen (rrmwäHz), dem Verzicht auf die Welt (az-
zuhd fi 'd-dunya) und der Genügsamkeit (qanä'a). — Zum Spott (hi§ä')
gehört ,, alles diesem Entgegengesetzte", namenthch wird keine Kategorie aufgeführt.
Hatte schon Qudäma versucht, bestimmte „Gattungen" aus anderen
abzuleiten, worin ihm 'Askari gefolgt war, und hatte Ishäq b. Ibrähim
vier Kategorien aufgestellt, von denen sich nach seiner Auffassung alle
anderen abzweigen, so treibt der Autor dieses ,,Gattungs"schemas die
Tendenz, auf Grundkategorien oder Grundhaltungen zurückzugehen,
auf die Spitze. Er schlägt auch die Dichtarten, die Ishäq b. Ibrähim
noch zu den Gruppen ,, Weisheit" und ,, Scherz" zusammenfaßte, je nach
ihrer positiven oder negativen oder neutralen Haltung dem Gegenstand
gegenüber der positiven Grundkategorie madh oder der negativen Grund¬
kategorie higä' oder einer neutralen Grundkategorie zu.
Diese Klassifikation ist also keineswegs, wie Teabulsi kritisiert,
,, willkürhch"^"; in ihr manifestiert sich ganz im Gegenteil die letzte
Konsequenz einer bestimmten Richtung in der systematischen ,,Gat-
tungs"betrachtung der Araber. Auch Tbabulsi's Bemerkung, die Ein¬
teilung sei „zu wenig nuanciert", geht an der Absicht ihres Autors vor¬
bei. Denn dieser will ja gar keine nuancierte Auffächerung der Dichtung
geben, die, sagen wir, als Grundlage für die Einteilung eines Diwäns
Tbabulsi: Critique, S. 218.
28 Gregor Schoeler
dienen könnte, sondern er will mit ihr etwas vom Wesen der arabischen
Poesie in den Griff bekommen.
Ibn Rasiq setzt sich mit keiner dieser ,,Gattungs"hsten kritisch aus¬
einander. Dafür behandelt er aber im zweiten Teü seines Werkes, in den
Kapiteln 73—81, ausführhch folgende ,, Anhegen" (agräd): die Liebes¬
verse (nasib), das Lob (madih), den Selbstruhm (iftihär), die Klage (ritä'),
die Forderung und die Bitte um die Erfiülung eines Versprechens (igtidä'
und istingäz), den Tadel (Htäb), die Drohung und die Warnung (waHd
und indär), den Spott (hi^ä'), die Entschuldigung (iHidär). Dazu hat
Tbabulsi^* noch die Beschreibung (wasf) gestellt, die im hundersten
Kapitel behandelt wird ; Heineichs hat jedoch dagegen geltend gemacht,
daß der wasf bei Ibn Rasiq eine Sonderstellung einnimmt, worauf ,, schon
die Stellung des Bäb al-wasf innerhalb der 'Umda" hindeutet. ,, Dieser
Abschnitt wird nämhch von Ibn Rasiq nicht unter die Kapitel, die von
den hteratischen Genera (...) handeln, eingereiht, sondern steht als
eine Art Anhang ziemhch am Ende des Werkes zwischen einem Kapitel
über 'Plagiate u.ä.' und einem über 'Anzahl der Versfüße im Metrum
und die noch nicht behandelten metrischen Anomalien'"**. Warum hat
Ibn Rasiq nun die Beschreibung getrennt von den anderen Dichterarten
behandelt? Auf diese Frage gibt der erste Satz seines was/-Kapitels
Antwort: „Die Dichtung, abgesehen von ihrem geringsten Teü, gehört
zum Kapitel der Beschreibung"**. Heinbichs kommentiert: ,,Der Be¬
griff wasf ist hier ganz allgemein in der Bedeutung von 'Beschreibung'
gebraucht, nicht als Terminus technicus zur Bezeichnung des hterari¬
schen Genus der 'Ekphrasis' — Damit ist die Frage nach der Sonder¬
stellung des wasf einwandfrei beantwortet. Jedoch sollte man nicht über¬
sehen, daß Ibn Rasiq in dem zur Diskussion stehenden Kapitel als Bei¬
spiele für Beschreibungen ausschließlich ,, echten" wasf zitiert und sich
überhaupt nur mit wasf im engeren Sinne des Wortes auseinandersetzt.
So hat er, nachdem er theoretisch die poetische Beschreibung aus der
Reihe der ,, Anhegen" ehminiert hat, sie nachträghch praktisch doch
wieder hinzugefügt.
Ibn Rasiq's Einteüung der Dichtung ist ganz auf praktische Anwend¬
barkeit hin ausgerichtet, dient sie doch als Grundlage für eine ausführ¬
hche Betrachtung der Dichtarten. Daher unterscheidet sie sich von den
systematisch angelegten ,,Gattungs"listen, äußerhch sichtbar schon an
der größeren Zahl der Kategorien und der separaten Aufführung und
Behandlung von Gruppen wie ritä' und iftihär, wesenthch aber durch
" A.a.O.
" Heinrichs: Dichtung, S. 57.
5» Ibn Raäiq: 'ümda II, S. 294.
Heinrichs: Dichtung, S. 57.
den Verzicht auf die Aufstellung von Grundkategorien und somit einer
hierarchischen Ordnung innerhalb des Schemas. Ganz kann sich Ibn
Rasiq dieser Tendenz jedoch auch nicht entziehen. Im Anschluß an
Qudäma, den er in seinem Werk überhaupt häufig zitiert, erklärt er den
Selbstruhm und die Klage (nicht aber die Liebesdichtung), jeweüs in
einQT kiurzen theoretischen Einleitung zu den sie behandelnden Kapiteln
als eigenthch zum Lob gehörig. Seine Ausführungen im Bäb ar-ritä'
zeigen jedoch, daß er sich die Eigenarten der ästhetischen Konventionen,
die das Trauergedicht entwickelt hat und durch die es sich deuthch vom
Lobgedicht abhebt, durchaus bewußt gemacht hat. So betont er, daß
das Trauergedicht, im Gegensatz zum Lob- und Spottgedicht, so gut
wie nie mit Liebesversen beginnt**; an einer anderen Stelle hebt er als
Eigenart der älteren Trauerdichtung ihren Reichtum an Sentenzen
(amtäl) hervor**.
Im Bäb an-nasib wird deuthch, daß Ibn Ra§Iq ebensowenig wie seine
Vorgänger selbständige Liebesdichtung von den Liebesversen zu Beginn
des Lob- oder Spottgedichts terminologisch und wesensmäßig unter¬
schieden hat. Die Unterscheidung von nasib und gazal übernimmt er
von Qudäma. Garad bedeutet also auch für ihn nicht unbedingt ,, selb¬
ständige Gattung", da die übrigen Dichtarten (außer waHd und indär;
darüber s. sogleich unten) aber selbständig vorkommen, deckt sich Ibn
Rasiq's ,, Anliegen" in den meisten Fällen doch mit unserem Begriff
,, Gattung".
Zum Abschluß noch einige isolierte Bemerkungen zu den ,,Gattungs"-
bezeichnungen, die bisher noch nicht auftraten. — Ibn Rasiq bemüht
sich, die Forderung (igtidä') vom Tadel (Htäb) abzugrenzen, obwohl, wie
er sagt, die beiden Gruppen von einigen (qaum) zusammengefaßt werden :
die Forderung ist das Erstreben eines Bedürfnisses (oder eines
Gegenstandes, häga), und die begütigende Art ist in ihm ausgeprägter;
der Tadel begehrt aber keine Sache, sondern fordert nur die Wahrung
der Liebe und Achtung, und in ihm gibt es Zurechtweisung und Protest,
was beides in der Forderung nicht erlaubt ist; jedoch vermischen die
Leute oft diese beiden Kategorien und identifizieren sie"*'. — Dagegen
behandelt Ibn Rasiq zusammen mit dem iqtidä' den istingäz (Bitte um
die Erfüllung eines Versprechens) ; diesen Begriff braucht er, wie sich aus
dem Kapitel ergibt, s5Tion3Tn mit istibtä' (Zögerungsvorwurf). Die
Dichtung, die Drohung und Warnung (wa'id und indär) ausdrückt, sieht
der Verfasser der ' Umda ofienbar im Zusammenhang des Spottgedichts :
«5 Ibn Rasiq: 'Umda II, S. 151.
5« A.a.O. S. 150.
" A.a.O. S. 158.
30 Gregor Schoeleb
„Die vernünftigen unter den Dichtern und die lOugen pflegten im higä'
zu drohen"** ; er hat also erkannt, daß dies Thema meist nicht selbständig behandelt wird.
Ibn Rasiq hat die Dichtung, ebenso wie Ishäq b. Ibrähim, auch nach
formalen Gesichtspunkten eingeteilt**. Klassifikatorisches Prinzip ist
dabei in erster Instanz das Versmaß (ragaz oder ein g'OficZ-Versmaß), in
zweiter Instanz das Reimschema für den Si'r und die Zahl der Versfüße
bzw. Dipodien für den ragaz. Als ,, Arten" (anwä') des H'r zählt er auf:
qawädisi, miisammat, muhammas; ,, Arten" des ragaz sind: der maStür
(drei Dipodien), der manhük (zwei Dipodien) und der muqatta' (eine
Dipodie), wozu noch der nach Muster der g'oslöI-Versmaße gestaltete,
nicht-,,binnen"reimende*'' ragaz kommt. — Wie man sieht, hat Ibn
Rasiq zwei strophische Gedichtgattungen mehr als Ishäq b. Ibrähim;
in dieser Tatsache spiegelt sich die wachsende Bedeutung dieser nicht¬
klassischen Dichtarten, die allerdings von Ibn Rasiq noch als minder¬
wertig angesehen werden'*.
Zum Abschluß unserer Untersuchung über die Einteilung der Dich¬
tung bei den arabischen Dichtungstheoretikern und ihren Gattungs¬
begriff seien die wichtigsten Ergebnisse hier kurz zusammengefaßt und
durch einige weiterführende Bemerkungen ergänzt.
1. Die arabischen Dichtungstheoretiker haben „ihre" Dichtung unter
formalen und thematischen Gesichtspunkten eingeteüt. Sie haben
dabei, übrigens im Gegensatz zu den griechischen und römischen
Theoretikern**, thematisch und formal bestimmte Dichtarten säuber¬
lich auseinandergehalten.
2. Prinzip bei der Einteüung der Dichtung nach ihrer ,, äußeren Form"
ist die Versart (ragaz oder gasid-Versmaß), das Reimschema und die
Zahl der Versfüße bzw. der Dipodien (nur innerhalb des ra^az).
Prinzip bei der Einteüung der Dichtung nach ihrer ,, inneren Form"
ist der Inhalt, das Thema, der Gegenstand bzw. die Haltung dem
Gegenstand oder Thema gegenüber.
3. Im Falle der Klassifizierung der Dichtung nach ihrer ,, äußeren Form"
sind die arabischen Dichtungstheoretiker zu einer Einteüung gekom¬
men, die aufs genaueste den Eigenarten der arabischen Poesie ent¬
spricht und die daher auch bei modernen Untersuchungen zu Grunde
gelegt werden kann.
58 A.a.O. S. 167.
5» Ibn Rasiq: 'Umda I, S. 178—82 (Kap. 23) und S. 182—86 (Kap. 24).
Vgl. Ullmann: Ragazpoesie, S. lOf., wo das Problem des ,, Binnen¬
reims" beim ragaz ausführlich behandelt wird.
" Ibn Rasiq: 'Umda I, S. 182.
'2 Curtius: Europäische Literatur, S. 254.
4. Zur Einteilung der Dichtung nach ihrer „inneren Form" durch die
Araber ist folgendes zu sagen. Die Dichtungstheoretiker haben in
keinem Fall bewußt (Jedichtganzheiten klassifiziert. Der Grund dafür
ist in der Mehrteiligkeit und „molekularen Struktur" der Qaside zu
suchen; diese beiden Eigenarten der Hauptausdrucksform altarabi¬
scher Dichtung mußten einer zusammenfassenden Klassifizierung
hinderlich sein. Die von den Theoretikern erarbeiteten Kategorien
beziehen sich zunächst nur auf kürzere oder längere Gedichtteüe. Der
Verfasser der ältesten Poetik, Ta'lab, hat bei seiner Einteilung über¬
haupt nur Einzelverse oder ganz kleine Versgruppen im Auge gehabt.
Spätere Einteilungen erfassen jedoch im allgemeinen in sich abge¬
schlossene Themenkomplexe, einige sind sogar restlos auf Gedicht¬
ganzheiten anwendbar. Diese Tatsache spiegelt eine Entwicklung der
arabischen Poesie wider, die wegführt von der mehrteiligen Qaside zu
Formen, die nur noch ein Thema behandeln.
5. Unter Berücksichtigung dieser Sachlage ergibt sich für den arabischen
Begriff garad, der häufig vorschnell mit unserem Begriff „Gattung"
gleichgesetzt wird: Der garad (wörtlich: ,,das Anhegen"; oft mit ,,der
Gegenstand", ,,der Vorwurf" zu übersetzen) meint immer nur ein
Thema oder einen Gegenstand der Dichtung, gleichgültig, ob das
Thema oder der Gegenstand im Zusammenhang eines größeren Ge¬
dichts oder selbständig behandelt wird. Nur im letzten Fall ist er
gleichbedeutend mit unserer ,, Gattung".
6. Der Gebrauch des Begriffs garad ist entsprechend seiner Grundbe¬
deutung auf thematisch bestimmte Dichtarten beschränkt. Formal
bestimmte Dichtarten werden im Arabischen als aqsäm aS-Si'r (,, Teile
der Dichtung") oder anwä' aS-Si'r (,, Arten der Dichtung") bezeichnet.
Umgekehrt können diese beiden Begriffe aber austauschsweise mit
agräd auch für thematisch bestimmte Dichtarten gebraucht werden.
Weiterhin werden gelegentlich gleichbedeutend mit agräd gebraucht:
asnäf, funün, arkän.
7. Bei den Listen, die thematisch bestimmte Dichtarten aufführen,
kann man zwei Gruppen unterscheiden. Die eine Gruppe zählt nicht
behebig viele ,, Gattungen" auf, sondern sucht auf Grundkategorien
oder Grundhaltungen der Dichtung zurückzukommen. Solche ,,Gat-
tungs"hsten sind rein theoretisch, d.h. sie dienen nicht als Grundlage
für eine praktische Betrachtung der verschiedenen Dichtarten. — Die
andere Gruppe ist ganz auf praktische Benützbarkeit ausgerichtet.
Sie zählt daher behebig viele ,, Gattungen" auf, einige solcher Listen bestehen nicht einmal auf Vollständigkeit.
Außer den Dichtungstheoretikern hat sich noch eine andere Gruppe
von arabischen Philologen mit der Einteilung der Dichtung beschäftigt.
32 Gregor Schoeleb
Es sind dies die Rezensoren der Diwäne. W. Ahlwaedt hat in seiner
kurzen Übersicht über die arabischen Gedichtgattungen als erster diese
andere Quelle für unsere Kenntnis der arabischen Dichtungsklassifikation
herangezogen. Er hat die Kapitel der Diwäne von Abü Nuwäs und Ibn
al-Mu'tazz, nach der Reihenfolge und nach Stoffen geordnet, einander
gegenübergestellt und aus Übereinstinunungen und Abweichungen
interessante Schlüsse gezogen'*. Wir wollen seinem Beispiel folgen und
außer den genannten Diwänen noch einige andere Gedichtsammlungen,
die die in ihnen vereinigten Gedichte nach Stoffen ordnen, betrachten.
Ahlwaedt beginnt seine Ausführungen mit einer Aufzählung der
verschiedenen von den Diwänrezensoren benutzten Ordnungsprinzipien :
,,Die Arabischen Gedichtsammlungen einzelner Dichter (oder einzelner
Stämme), Diwäne genannt, sind entweder nach den Endbuchstaben der
Reime alphabetisch geordnet, oder nach gewissen zeithchen Epochen
oder auch nach Stoffen, die sie behandeln, in gewissen Kapiteln zusam¬
mengestellt. Der erstere Fall ist am häufigsten ... Die Zusammenstel¬
lung der Gedichte nach gewissen Lebensabschnitten hat ein biographi¬
sches Interesse ... Die Ausgabe des Elmotenebbi von Elwähidi ist so
eingerichtet, indem sie in Jugendgedichte, Seifijjät, Käfürijjät, Fätiqijjät,
'Omeidijjät und 'Adhudijjät zerfällt. — Die dritte Einteilung nach den
behandelten Stoffen ist nicht immer gleichmäßig, indem manchmal unter
demselben Kapitel vereint ist, was bei andern sich getrennt findet,
manchmal auch ganze Kapitel bei dem Einen fehlen, weü er dahin
gehörige Gedichte lücht gemacht, während er neue Kapitel dafür hat,
die wieder Anderen abgehen""*. — Wir dürfen noch hinzufügen, daß
manchmal Gedichte nach einer Landschaft, zu der sie in Beziehung
stehen, genannt und zusammengefaßt sind. Besonders bekannt sind die
sämiyät von Mutanabbi (die oben von Ahlwaedt in ,, Jugendgedichte"
umbenannt wurden), die higäziyät und nagdlyät des Sarif ar-Radi und
die Hräqiyät des Abiwardi. Im folgenden wollen wir uns jedoch aus¬
schheßheh mit Diwänen beschäftigen, die nach Dichtarten eingeteüt
sind.
Ein wichtiges Ergebnis der folgenden Untersuchung vorwegnehmend,
sei bereits hier auf den entscheidenden Unterschied zwischen Klassifi¬
kationsweise und ,,Gattungs"begriflf der Dichtungstheoretiker aid' der
einen Seite und der Diwänrezensoren auf der anderen Seite aufmerksam
gemacht. Die Theoretiker haben, wie wir sahen, in keinem Fall bewußt
Gedichtganzheiten der Einteüung unterzogen; die Diwänrezensoren da¬
gegen haben sich bei mehrteüigen Gedichten jeweüs entscheiden müssen,
" Ahlwabdt: Poesie, S. 30 f.
" A.a.O. S. 30.
in welche Kapitel sie dieselben einzuordnen hatten. Sie haben also —
notgedrungen — bei ihren Einteilungen Gledichtganzheiten berück¬
sichtigt. (Über die, soweit ich sehe, einzige Ausnahme s. unten S. 44f.).
Aus diesem Grunde haben sie uns in den meisten Fällen praktischere
Klassifikationen an die Hand gegeben als die Theoretiker. Die in ihren
Diwänghederungen auftretenden Gruppen entsprechen viel weitgehender
der modernen Vorstellung von einer Dichtgattung.
Als zeithch erster ist der Diwän des Abü Nuwäs (st. zwischen 813 und
815) nach dem Inhalt geordnet. Das erklärt sich aus der bisher nicht
dagewesenen gattungsmäßigen Mannigfaltigkeit der Dichtung des be¬
deutendsten frühen muhdat.
Die wesenthchen Gedichte der gähiliya-Toeten sind in der (mehr¬
teüigen) Qasidenform abgefaßt. Haupt- (oder genauer : zweckgerichtetes
Schluß-)Thema einer Qaside konnte sein: das Lob, der Spott, der
Selbstruhm, die Klage'*.
Neben der Qaside weist die altarabische Dichtung noch eine zweite,
nach Ansicht der Theoretiker nicht so bedeutende (und daher von ihnen
'* Vgl. BlaohAre: Histoire, S. 374—382. — Blaohäbe sieht den hi§ä'
und den ritä' als eigene „Rahmen" (cadres) neben der Qaside, obwohl er
zugibt, daß ,,die Totenklage ... als Rahmen im Grunde nur eine Art qasida
ist, in der der erotische nasib durch eine Klage über die Grausamkeit des
Schicksals und über den Tod eines Helden ersetzt ist" (S. 379) imd daß die ,, ausgearbeiteten" (d.h. nicht ,, spontan" verfaßten, nioht als ,,Gelegenheits- stück" entstandenen) higä''s von einer bestimmten Zeit an ,,in eine Form (moule) geflossen sind, die ähnlich, wenn nicht identisch mit der der qasida mit nasib ist" (S. 381). — Ich möchte jedoch vorschlagen, als ,, Formen"
(= ,, Rahmen") der altarabischen (gartd-)Dichtung mu- die Qaside einerseits
und die qif'a andrerseits zu bezeichnen und den higä' und die martiya als
,, thematisch bestimmte Dichtarten" aufzufassen, die entweder im ,, Rahmen"
der Qasidenform (so in der Regel) oder im ,, Rahmen" einer qif'a (seltener)
auftreten. Diese Terminologie, die übrigens mit der arabischen überein¬
stimmt (s. sogleich imten), bewährt sich auch bei der späteren Dichtung,
indem sie die Möglichkeit gibt, innerhalb der „modernen" thematisch be¬
stimmten Gattungen nooh einmal zu unterscheiden zwischen zwei ,, Formen", nämlich zwischen ,, Qasiden" (in Anführungszeichen), d.h. langen, oft mehr¬
teiligen, nach Analogie der ursprünglichen Qasiden gestalteten Gedichten
auf der einen Seite und qif'a's, d.h. kurzen, einteiligen Gedichten auf der
anderen Soite.
Die arabische Sicht des vorliegenden Sachverhalts wird besonders deutlich
in der Terminologie des Abü Nuwäs-Diwänrezensors Hamza, der von den
qasä'id und muqatta'ät in den einzelnen Kapiteln der Gedichtsammlung
spricht (vgl. Abü Nuwäs: Diwän [Wagneb], S. lf.)
Bei der von mir vorgeschlagenen Terminologie muß natürlich scharf
zwischen ,, formal bestimmte Gattung (bzw. Dichtart)" (z.B. qarld [qasldl, ragaz, musammat; vgl. oben S. 18f. und S. 30) und „Form" (Qaside — qifa;
nur innerhalb der gastd-Dichtung) unterschieden werden.
3 ZDMG 123/1