• Keine Ergebnisse gefunden

Die Lehrlingsausbildung in der Anerkennungskrise - ein Produkt des Bildungsklassismus?

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Die Lehrlingsausbildung in der Anerkennungskrise - ein Produkt des Bildungsklassismus?"

Copied!
159
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Die Lehrlingsausbildung in der Anerkennungskrise

- ein Produkt des Bildungsklassismus?

Masterarbeit

eingereicht an der Leopold-Franzens-Universität Fakultät für Soziale und Politische Wissenschaften

Interfakultäres Masterstudium Gender, Kultur und Sozialer Wandel zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts

verfasst von

Gabriele PITTRACHER, 01519996 gabriele.pittracher@gmail.com

betreut von

Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Maria A. Wolf Institut für Erziehungswissenschaft Fakultät für Bildungswissenschaften

Innsbruck, Mai 2020

(2)

Kurzfassung - Abstract

Das Jahr 2020 wurde von der Wirtschaftskammer Österreich zum „Jahr der Lehre“

ausgerufen1, um die Wichtigkeit zu betonen, dass Lehrlinge die künftigen Fachkräfte von morgen sind, ohne die die Wirtschaft und Gesellschaft nicht sein können.

Die Masterarbeit befasst sich mit der Frage, wie es dazu gekommen ist, dass die Lehrberufsausbildung heutzutage für Jugendliche im Allgemeinen offenbar lediglich die zweite Wahl des Ausbildungsweges ab der 9. Schulstufe darstellt. Dazu wird gezeigt, inwiefern die mangelnde Anerkennung der Lehrberufe zwar nie klar ausgesprochen, aber in der Regel immer suggeriert wird. Neben der Struktur des internationalen und nationalen Bildungssystems wird auf die Herausforderungen bzw.

Schwachstellen dieser Ausbildungsform genauso eingegangen wie auf die soziale Inwertsetzung von systematischem Wissen versus Erfahrungswissen. Außerdem wird die Arbeitsteilung, die eine generelle Trennung der Hand- und Kopfarbeit bedingt, beleuchtet sowie die sich daraus ergebenden Folgen hinsichtlich verschiedener Werte und Ideologien (wie Sexismus und Bildungsklassismus), die letztlich auch zu einer Spaltung der Gesellschaft beitragen können.

Dabei wird erläutert, wie die verschiedenen menschengeschaffenen Hierarchien hinsichtlich Ausbildung versus Bildung, der schmutzigen Hand- versus sauberen Kopfarbeit etc. theoretisch erklärt werden können und wie es derzeit zu dem Phänomen kommt, dass eine geistige abstrakte Entfaltung im Beruf gesellschaftlich tendenziell wertvoller erscheint als eine, z. T. auch über körperlichen Einsatz führende, notwendige ausführende Arbeit.

1 Vor allem bis vor Beginn der Corona-Pandemie (Mitte März 2020) und die damit verbundenen Folgen haben die Interessensvertretungen der Wirtschaftstreibenden das Jahr 2020 als das „Jahr der Lehre“ in den Fokus gerückt. Diese Masterarbeit ist fast gänzlich im Zeitraum vor der Pandemie erstellt worden.

Dadurch ist es möglich, dass einige Aussagen bzw. Trends in der derzeitigen wirtschaftlichen (Ausnahme-)Situation eingeschränkt gültig sind, solange, bis sich die Lage wieder stabilisiert hat.

(3)

Inhalt

Abbildungsverzeichnis ... I Tabellenverzeichnis ... I Abkürzungsverzeichnis ... II Vorbemerkungen ... III

1. Einleitung und Problemstellung... 1

1.1. Fragestellung ... 2

1.2. Stand der Forschung ... 3

1.3. Methodik und Aufbau der Arbeit ... 3

2. Bildung vs. Ausbildung ... 5

2.1. Bildung ... 5

2.2. Bildungsverständnis im Schulwesen ... 7

2.3. Internationale und nationale Vergleiche im Bildungssystem ... 19

2.3.1. ISCED ... 20

2.3.2. Europäischer Qualifikationsrahmen ... 21

2.3.3. Nationaler Qualifikationsrahmen ... 23

2.3.4. Die Struktur im Bildungssystem ab der 9. Schulstufe... 26

3. Lehrlingsausbildung... 30

3.1. Geschichtliche Entwicklung ... 30

3.2. Rechtliche Rahmenbedingungen ... 32

3.3. Die reguläre Lehre als Ausbildungsverhältnis ... 32

3.4. Öffnung der Lehrberufe und Werbekampagnen... 34

3.5. Daten zur Lehrlingsausbildung ... 40

3.6. Herausforderungen für die Lehrlingsausbildung ... 46

3.7. Ausblick auf die Lehrberufsausbildung in der Zukunft ... 59

4. Legitimation von Bewertungen... 62

4.1. Klassentheorien ... 62

4.2. Schichttheorien ... 64

4.3. Milieu- und Lebensstiltheorien ... 65

4.4. Ungleichheitstheorie nach Pierre Bourdieu ... 67

4.5. Ungleichheit aus politischer Perspektive ... 73

4.6. Negative Forschungsdiskurse über ArbeiterInnen ... 79

4.7. Körper-Geist-Dualismus in der Arbeit ... 80

4.8. Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit ... 85

4.9. Differenzierung des Wissens ... 95

(4)

4.10. Stellenwert des Erfahrungswissens ...101

4.11. Arbeiter und Angestellte ...106

4.12. Blauer und weißer Kragen ...111

4.12.1. Zusammenhang mit der Schul- und Betriebskultur ...114

4.12.2. Zusammenhang mit Geschlechterverhältnissen ...118

4.12.3. Produkte des Bildungsklassismus ...120

5. Schlussbemerkung ...126

6. Literaturverzeichnis ...137 Eidesstattliche Erklärung ... VI Danksagung ... VII

(5)

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Nationaler Qualifikationsrahmen ... 24

Abb. 2: Das österreichische Schulsystem ... 25

Abb. 3: Die häufigsten Lehrberufe in Tirol ... 43

Abb. 4: Milieus in Österreich ... 66

Abb. 5: Raum der sozialen Positionen nach Bourdieu ... 72

Abb. 6: Information der Wirtschaftskammer Österreichs ...110

Abb. 7: Bildungsklassismus am Beispiel des Postings von Edeka Werner ...121

Abb. 8: Bildungsklassismus am Beispiel von Politiker*innen ...123

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Vergleich österreichisches Schulsystem mit ISCED ... 19

Tab. 2: Deskriptoren für Niveaus des EQR ... 22

Tab. 3: Steuerpflichtige 2017 in Österreich ...110

(6)

Abkürzungsverzeichnis

AHS allgemeinbildende höhere Schule(n) AK Arbeiterkammer

BAG Berufsausbildungsgesetz

BHS berufsbildende höhere Schule(n)

BMHS berufsbildende mittlere und höhere Schule(n) BMS berufsbildende mittlere Schule(n)

d. i. das ist d. s. das sind

ebd. ebenda (die vorher angeführte Quelle) etc. et cetera (und Ähnliches)

EQR Europäischer Qualifikationsrahmen G. P. Gabriele Pittracher

IBA Integrative Berufsausbildung Jh. Jahrhundert

LAP Lehrabschlussprüfung NMS Neue Mittelschule(n) m. E. meines Erachtens

NQR Nationaler Qualifikationsrahmen ÖGB Österreichischer Gewerkschaftsbund o. S. ohne Seitenzahl

s. o. siehe oben

u. a. und andere, unter anderem ÜBA Überbetriebliche Ausbildung vgl. vergleiche

WKO Wirtschaftskammer Österreich zB zum Beispiel

z. T. zum Teil

(7)

Vorbemerkungen zu Reichweite, Form und Sprache

Die folgenden Ausführungen beziehen sich weitgehend auf den österreichischen Diskursraum. Wenn es möglich bzw. sinnvoll ist, sind Daten nicht nur im Gesamten auf Österreich, sondern speziell auf Tirol bezogen, um Sachverhalte detailliert betrachten zu können. Weiters werden an angebrachten Stellen auch internationale Kontexte zu finden sein.

Hervorhebungen in Zitaten entsprechen dem Original, außer es findet sich ein entsprechender Fußzeilenvermerk.

Die Quellvermerke finden sich jeweils am Ende des Wiedergegebenen. Eventuell bzw.

gewöhnlich wurde statt dem Konjunktiv I bzw. Konjunktiv II das Präsens verwendet, damit das Geschriebene nicht zu sehr ins Abstrakte rückt.

Bei den Absätzen ohne Quellangabe handelt es sich um Eigenproduktion, d. h. einige Male wurden eigene Schlussfolgerungen gezogen und diese interpretiert.

Womöglich wird es auf den ersten Blick nicht klar erkennbar sein, jedoch wurde versucht, den sprachlichen Ausdruck insgesamt so behutsam und treffend wie möglich zu gestalten. Dieser bewusste Umgang mit der Sprache betrifft neben der geschlechts- vor allem auch die anerkennungsspezifische Ebene, um Bildungsklassismus keinen Raum zu bieten.

Der gesellschaftliche Diskurs bewegt sich seit Jahren hauptsächlich um die Frage, wie neben Männern – welche mittels des generischen Maskulinums sprachlich ohne spezielles Zutun sowieso vertreten sind – auch alle anderen Menschen erreicht und in Schriftstücken sichtbar gemacht werden können. Diese Entwicklung steht noch am Anfang. Es gibt bereits verschiedene Versuche, dieser anspruchsvollen gesellschaftlichen und sprachlichen Herausforderung zu begegnen. Im Zeitraum der Erstellung der Masterarbeit wurde noch kein Konsens gefunden und seitens des Rats für deutsche Rechtschreibung keine verbindliche Empfehlung beschlossen, wie bestmöglich alle Menschen bei schriftlicher Sprache inkludiert werden können.

Diese Ungewissheit, was denn nun richtig sei, wurde hier als eine Form der Freiheit interpretiert und zum Anlass genommen, die im Moment nebeneinander bestehenden Formen und Versuche einer gendergerechteren Sprache aufzuzeigen. Es besteht in dieser Masterarbeit keine Kontinuität bezüglich nur einer Form. Vielmehr wird

(8)

versucht, die einzelnen Bereiche mit der Sprache darzustellen, die im Moment in den diversen Bereichen und Kontexten zu finden ist. Dies bildet die momentan verfügbare Vielfalt meines Erachtens am besten ab und hilft, eine einseitige Sichtweise zu verhindern und sich damit in eine „Blase“ zu begeben. Einige Beispiele der allgemein im Moment verwendeten Sprachvarianten: Gaststättenköch(e)innen, Facharbeiter und Facharbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte, Schüler*innen, LehrerInnen, Metalltechniker/in. Diese Varianten u. a. sind in dieser Masterarbeit berücksichtigt.

Da der Themenbereich rund um die Lehrberufsausbildung in erster Linie auf anerkennungstheoretischer Ebene behandelt wird, wird teilweise auf das generische Maskulinum sowohl in der Ein- als auch in der Mehrzahl zurückgegriffen, da die auf rund 136 Seiten behandelte Thematik der Anerkennung nicht zugunsten des Genderings in den Schatten gestellt werden möchte. So wurde auf Begriffe wie zB Fachkräfte bzw. FacharbeiterInnen meist bewusst verzichtet; stattdessen ist die Entscheidung auf Facharbeiter und Facharbeiterinnen gefallen, wo es m. E. sinnvoller gewesen ist. Wo eine andere Gruppe als die Geschlechtergruppe gemeint ist, wird erstere gewöhnlich nicht noch zusätzlich nach Geschlecht segregiert, da sich dies trennend und kontraproduktiv auswirken könnte.

Die Frage rund um das Gendering ist nicht nur eine Form-, sondern immer auch eine Theoriefrage. Je nachdem, welche Perspektive Sie als Lesende/r bezüglich des Genderings einnehmen, mag es Ihnen womöglich entweder tendenziell als Vielfalt oder als Wildwuchs erscheinen.

An angebrachten Stellen wird auf geschlechtsspezifische Endungen zurückgegriffen, ohne dies im Interesse des Leseflusses aber zum Selbstzweck zu erheben. Es findet die Bemühung statt, dass der sprachliche Ausdruck so erfolgt, sodass alle Betroffenen sich angesprochen fühlen können.

Mangels einer verbindlichen Lösung zum Gendering wurde also dieser individuelle Weg beschritten, welcher auf den nächsten Seiten vorzufinden ist.

(9)

Plädoyer für eine Gleichheit

in der Bewertung und Anerkennung von Arbeit

(10)

1. Einleitung und Problemstellung

Der Wirtschaftsaufschwung, welcher nach der Finanzkrise vom Jahr 2008 wieder eingetreten ist, bedingt, dass in Österreich mehr Menschen beschäftigt werden können. Folglich wird für die hohe Konjunktur der Wirtschaft eine dementsprechende Zahl an Fachkräften benötigt, welche in Österreich derzeit nicht in vollem Ausmaß lukriert werden kann (ey.com, 2019).

Beispielsweise gibt es bei Handwerkern zunehmend lange Wartezeiten zu verzeichnen und hier wird sichtbar, wie notwendig diese Arbeit ist. Als Konsequenz des Facharbeitermangels bleibt etwa das WC länger verstopft, das Gebäude wird erst später gebaut oder es wird nicht mehr auf ein maßgeschneidertes Möbel zurückgegriffen, sondern notfalls durch ein in Automatisation produziertes in schlechterer Qualität ersetzt. Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden und würde mehrere Seiten füllen.

Ein Fachkräftemangel betrifft auch Unternehmen in direkter Folge. Wenn nicht genügend personelle Ressourcen im Unternehmen vorhanden sind, können nicht mehr so viele Aufträge angenommen bzw. müssen zeitlich verschoben werden (kurier.at, 2019).

Um den bereits vorhandenen und zunehmenden Fachkräftemangel zu stoppen oder wenigstens zu vermindern, wurde eine Vielzahl an Strategien diskutiert, welche durch politische Maßnahmen umgesetzt werden sollen. So wurde beispielsweise neben einer Öffnung des Arbeitsmarktes für Arbeitskräfte aus dem (EU-)Ausland (neon.at, 2019) insbesondere auch die Lehrlingsausbildung – welche die vorhergehende Ausbildung zur Fachkraft darstellt – in einigen Bereichen reformiert (ebd.).

Die Gründe für das nicht ausreichend vorhandene Interesse an einer Lehrlingsausbildung von Jugendlichen in Österreich sind vielfältig und einige auch offensichtlich: Eine gute Wirtschaftslage bedarf vieler Lehrlinge, welche nach der Ausbildung als Fachkräfte arbeiten können. Weiters wurden seit den 1970er Jahren weniger Kinder geboren (statistik.at, 2019), was bedingt, dass mehr Personen den Arbeitsmarkt infolge einer Pensionierung verlassen als eintreten. Außerdem wurden seit einigen Jahrzehnten kontinuierlich mehr (Aus-)Bildungswege geschaffen (bifie.at, 2018) bzw. für mehr Menschen zugänglich. Diese Entwicklungen fallen zulasten der

(11)

Lehrlingsausbildung aus, mit durchaus negativen Folgen, denn FacharbeiterInnen verrichten notwendige und wichtige Arbeit, und wenn diese nicht getan wird, hat das negative Konsequenzen. Was kann man also tun, um die Lehrlingsausbildung wieder attraktiver zu machen?

Die die Gewerkschaft Vertretenden fordern eine höhere Lehrlingsentschädigung und bessere Arbeitsbedingungen (Tiroler Tageszeitung 2019a, S. 21). Die die Wirtschaft Vertretenden interpretieren die Diskrepanz zwischen dem Angebot an Lehrstellen und den daran Interessierten als „Imageproblem“ und dementsprechend wird seit Jahren eine gesellschaftliche Aufwertung der Lehrlingsausbildung angestrebt (wko.at 2014, o.

S.). Maßnahmen bzw. angedachte Maßnahmen sind zum Beispiel Erweiterungen der Ausbildung („Karriere mit Lehre“), Adaptionen von Berufsbildern, sprachliche Umbenennungen (etwa der Beruf des Maurers wird Hochbauer heißen), Erhöhungen von Lehrlingsentschädigungen bzw. das Einführen von zusätzlichen anderen Leistungen, oder das Gewährleisten einer guten Ausbildungsqualität (zB

„ausgezeichneter Lehrbetrieb“). (vgl. wko.at 2019, S. 1ff.) Auch eine Höherreihung der Lehrlingsausbildung im Bildungssystem wird gefordert (ibw.at, 2018a). Im Jänner 2020 wurde eine Novelle des Berufsausbildungsgesetzes beschlossen, worunter u. a. die Umbenennung von Lehrlingsentschädigung zu Lehrlingseinkommen fällt und man spricht künftig von der Beschäftigung und nicht mehr von der Verwendung des Lehrlings. (vgl. Schramböck 2020, o. S.)

Da immer noch nicht genügend Lehrlinge rekrutiert werden können, wird stetig mit weiteren Anreizen versucht (tvthek.orf.at 2019), die Lehrlingsausbildung so zu gestalten, dass dieser wieder mehr gesellschaftliche Anerkennung zu Teil wird. Das Jahr 2020 wird zum „Jahr der Lehre“ (Mahrer 2020, o. S.) ausgerufen.

1.1. Fragestellung

Die Aufwertungsversuche der Lehrlingsausbildung implizieren, dass sich diese Ausbildungsform in einer Anerkennungskrise befindet. Eine Lehrlingsausbildung ist die Voraussetzung für den Eintritt in die Berufswelt als Fachkraft, und im Moment fehlen Fachkräfte in der Wirtschaft. Daher werden Anreize, welche die vermehrte Rekrutierung an Lehrlingen zur Folge haben sollen, geschaffen.

(12)

Personen, welche die Wahl haben zwischen einer Lehr- und einer weiterführenden Schulausbildung, entscheiden sich nicht in dem von der Wirtschaft benötigten Ausmaß für die Lehrlingsausbildung. Folglich liegt die Frage nahe, welche Wünsche und Erwartungen sie mit dieser Ausbildungsform verbindet bzw. nicht verbindet. Wie bewertet außerdem die Gesellschaft im Allgemeinen eine Lehrlingsausbildung im Vergleich zu alternativen Ausbildungsformen?

1.2. Stand der Forschung

In bildungspolitischen Debatten hat die Forschung zur Lehrlingsausbildung einen vergleichsweise kleinen Stellenwert, der jedoch angesichts der aktuellen Situation tendenziell größer wird bzw. werden muss.

Die Berufsbildungsforschung ist jene Forschungsrichtung, die sich mit der Lehrlingsausbildung im Vergleich zu anderen Forschungsrichtungen überwiegend befasst. Im Zusammenhang mit der Forschungsfrage finden sich hier Hinweise, dass die strukturellen Gegebenheiten suboptimal für die Lehrlingsausbildung sind, da Lehrlingsausbildung beispielsweise im Bildungssystem einen niedrigeren Stellenwert als die (höhere) Berufsbildung einnimmt. Darüber hinaus wird der weitere Problembereich der impliziten Aufwertung der alternativen Ausbildungsformen zulasten der Lehrlingsausbildung aufgezeigt.

1.3. Methodik und Aufbau der Arbeit

Die Beantwortung der Forschungsfrage erfolgt mittels einer Kombination von Theoriearbeit und Literaturstudie in beschreibender, analysierender und anschließend interpretierender Weise.

Diese Masterarbeit ist wie folgt aufgebaut:

In der Einleitung erfolgt die Heranführung an das Thema, insbesondere wird auf das Problem, dass sich zu wenige Lehrlinge für entsprechende Lehrstellen interessieren, was in weiterer Folge einen Fachkräftemangel bedingt, eingegangen.

Daraufhin soll eine Betrachtung des österreichischen Bildungssystems, in welchem die Lehrlingsausbildung integriert ist, erfolgen und insbesondere der Fokus auf etwaige

(13)

Hierarchien gelegt werden. Zudem wird ein Einblick gegeben, was unter Bildung und Ausbildung früher und heute im Allgemeinen mit Blick auf die meritokratische Triade (Bildung, Beruf, Einkommen) verstanden wird.

Anschließend werden wesentliche Aspekte der Lehrlingsausbildung beschrieben.

Dabei wird auf die Geschichte der Lehre, die jetzigen Rahmenbedingungen und die aktuelle Situation anhand von Statistiken eingegangen.

Im nächsten Kapitel wird basierend auf verschiedenen Theorien zur Ungleichheit darauf eingegangen, wie diese entsteht und welchen gesellschaftlichen Einfluss diese haben. Auf dieser Grundlage werden zudem die Entwicklung und die Auswirkungen der Arbeitsteilung, insbesondere die in Hand- und Kopfarbeit bzw. welche bildhaft mit blauer und weißer Kragen übersetzt werden kann, nachgezeichnet. Diese mag sich heutzutage in einigen Bereichen zwar wieder verringert haben, ist jedoch keinesfalls obsolet, da diese Teilung beispielsweise in der unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Behandlung von „Arbeitern“ und „Angestellten“ fortwirkt. Ebenfalls werden die Dimensionen des Wissens dargestellt. Bedingt durch den Wandel der Produktionsformen und die Verschiebung der Arbeitsmarktstrukturen erfolgt eine unterschiedliche Bewertung und demzufolge eine Hierarchisierung von Wissensformen. In diesem Kapitel soll weiters nachgezeichnet werden, in welcher Beziehung Wissen aufgrund von Zertifikaten und Wissen aufgrund von Erfahrung stehen und wie die soziale Inwertsetzung von Arbeit entsteht. Außerdem befasst sich dieses Kapitel mit den ideologischen Auswirkungen der Arbeitsteilung in Form von Sexismus und Klassismus nicht nur anhand der Studie von Paul Willis aus den 1970er Jahren, sondern auch bezogen auf aktuelle Beispiele.

Abschließend erfolgt eine zusammenfassende Darstellung der Erkenntnisse. Anhand der analysierten (strukturellen) Gegebenheiten der zuvor dargestellten Systeme und den sich daraus ergebenden Inwertsetzungen wird versucht, Zusammenhänge für das gesunkene bzw. in konjunkturellem Hinblick (derzeit) zu wenig vorhandene Interesse von Seiten der Jugendlichen nach der 8. bzw. 9. Schulstufe zu begründen bzw.

interpretieren.

(14)

2. Bildung vs. Ausbildung

Gegenwärtig versteht man unter dem Begriff „Bildung“ sehr viel. Als gängige Synonyme werden des Öfteren „Qualifikationen“, „Kompetenzen“, „Ausbildung“,

„Skills“, „Fertigkeiten“ oder noch moderner im betriebswirtschaftlichen Sinne

„Employability“ oder „Humankapitalinvestment“ etc. verwendet. Im Folgenden wird versucht, die einzelnen Begriffe geschichtlich zu erfassen und die Differenzen und Überschneidungen der einzelnen Bedeutungsinhalte herauszuarbeiten.

2.1. Bildung

Bemerkenswert ist, dass sich der Begriff Bildung an sich über die verschiedenen Zeitepochen gehalten hat, wenn auch mit unterschiedlichem Verständnis über diesen Begriff. Eine verbindliche Definition lässt sich deshalb vermissen.

Als erster Anhaltspunkt kann im Höhlengleichnis von Platon ein Verständnis von Bildung gesehen werden, wo ein Emporsteigen aus der schattigen und trugbildhaften Höhlenwelt hinauf in die Welt des Lichtes und zum Guten angestrebt wird. (vgl. Lederer 2014, 41)

Im Mittelalter existieren bereits Urformen eines Verständnisses von Bildung. Einerseits verbindet man damit ein handwerkliches und künstlerisches Element mittels des Formens und Gestaltens („bilidari“). Gleichzeitig ist andererseits eine spirituelle Assoziation vorhanden und „bildunga“ wird für „Schöpfung“ und „Schaffung“

verwendet. „Bildung“ als deutschen Begriff führte vermutlich Meister Eckhart (1260- 1328) ein, welcher die Bestrebung verfolgte, dass die menschliche Seele als Abbild Gottes bestmöglich nachgebildet werden sollte. (vgl. ebd, 42)

Diese Idee der Gottesebenbildlichkeit wirkt auch implizit in den folgenden Epochen fort.

In der Epoche der Aufklärung (ca. 1720 – 1800) wurde der Bildungsbegriff den säkularen Verhältnissen zunehmend angepasst. Die Bildungsziele waren nunmehr von weltlichen Interessen vorgegeben: So sollte der Mensch nun in der Weise geformt werden, dass er der Welt und der Gemeinschaft, an welcher er teilhabe, nützlich sei.

In diesem Formungsprozess sollten vorhandene Potentiale entdeckt und weiterentwickelt werden. Daraus folgend soll man zu einem mündigen Bürger mit

(15)

Selbstbewusstsein gelangen. Der Zweck der Bildung sollte sowohl sich selbst als auch der Gemeinschaft zugutekommen. (vgl. ebd, 122) Der Philosoph Immanuel Kant (1724 - 1804) verfasste den berühmten „kategorischen Imperativ“, der ein leitendes Prinzip der Aufklärung darstellt:

„Aufklärung ist der Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant, 1784)

Die Epoche des Neuhumanismus (ca. 1750 – 1850) entwickelte schließlich den Begriff der Bildung, der bis heute prägend bleibt. Außerdem wurzelt die Legitimation jedes pädagogischen Handelns in diesem klassischen und nachhaltigen Verständnis von Bildung. Der preußische Gelehrte Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) ist ein bedeutender Vertreter dieser Epoche und hat den Bildungsbegriff maßgeblich hin zum Subjekt gelenkt, dessen höchstes Bildungsziel die Entfaltung seiner Fähigkeiten darstellt. Allgemeinbildung genieße demzufolge einen unübertreffbaren Stellenwert, im Gegenzug dazu könne spezielle Bildung den Menschen nicht in dem Ausmaß stärken, sondern hierbei geschehe lediglich die Vermittlung von Fertigkeiten (vgl.

Lederer 2014, 178). Denn erst wer seine Kräfte mittels Allgemeinbildung bereits harmonisch entfaltet hat, nimmt Humboldt weiters an, kann sich zur sozioökonomischen Wirklichkeit in einer autonomen Weise behaupten. Jedoch seien die Dimensionen der Allgemeinbildung und Berufsbildung strikt zu separieren, da sonst keine der beiden gelingen könne. Berufsbildung sei demzufolge eine Bildung niedrigeren Ranges, wobei keineswegs unbedeutend, „eben weil ´jede Beschäftigung´

den Menschen zu adeln vermag“ (Blankertz 1963, 95). Wenn ein Mensch sich zuvor Allgemein- und danach Berufsbildung angeeignet hat, würde es Humboldt gutheißen, dass zB ein Tischler eine Fremdsprache lernt und umgekehrt ein Gelehrter einen Tisch herstellt (vgl. ebd.).

Mit Bildung erst werde man Mensch, und sie sei nicht nur Menschenrecht, sondern auch Menschenpflicht – demzufolge ist Bildung nichts anderes als der Sinn des Lebens selbst. Die zwei Grundgedanken der Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts zeigen sich erstens im Hinweis auf die Entwicklung der persönlichen Kräfte und zweitens im

(16)

Hinweis auf die Wechselwirkung Ich – Welt. Beide Aspekte sind Bedingungen der Möglichkeit, sich von äußerlichen Zwängen befreien zu können:

„Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Natur ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“ (Humboldt 1960 – 81, Bd. I, S. 64)

Auch die Sprache hat eine überragende Bedeutung, denn diese ist mit der Empfindungs- und Vorstellungswelt der Sprecher vereint und prägt nachhaltig (vgl.

Koller 2012, 12f.). Dabei kann Bildung nur vollzogen werden, wenn das Element der Reflexivität2 mitwirkt, das ist zugleich Voraussetzung für die Selbstbildung.

Sowohl in der Aufklärung als auch im Neuhumanismus nutzt man Bildung für zweck- und zielbezogene Motive. Die wesentlichsten Unterschiede der beiden Richtungen bestehen darin, dass die Aufklärungspädagogik Wert darauf legt, dass Erziehung und Bildung des Einzelnen der Gesellschaft von Nutzen ist, währenddessen im neuhumanistischen Bildungsideal die zweckfreie allgemeine - eben nicht anwendungsbezogene – Menschenbildung im Mittelpunkt steht. (vgl. Lederer 2014, 189).

Im nächsten Abschnitt gilt es nun zu skizzieren, wie sich die Bildungsverständnisse im Schulwesen verfestigt haben.

2.2. Bildungsverständnis im Schulwesen

Diese beiden Denkrichtungen in Bezug auf Bildung, welchen ein unterschiedliches Bildungsverständnis zugrunde liegt, existieren bis heute nebeneinander und sind nicht zur Gänze harmonisch miteinander vereinbar. Wilhelm von Humboldt entwickelte sein Verständnis der Bildung als Kritik jeder äußeren Bestimmung des Menschen, wie sie damals zweckdienlich eingesetzt wurde. Seine Vision der kontinuierlichen Selbststeigerung der eigenen Einzigartigkeit etablierte schließlich eine neue gesellschaftliche Ordnung. (vgl. Ricken 2006, 267f.)

2 Ein Mensch verhält sich reflexiv bzw. reflektiert (beide Wörter haben die gleiche Bedeutung), wenn er über sich selbst oder seine Gedanken, Motivationen und Handlungen nachdenkt und diese beurteilt.

Diese Rückbezogenheit auf sich selbst ist ein wesentliches Kriterium für die Bildung dieser Epochen, wie der Pädagoge Theodor Ballauff (1978, 139) erläutert: „Der Gebildete ist das Wesen, das sich zu sich selbst verhält. Reflexivität macht den Grundvollzug der Bildung aus. Der Mensch nimmt den Umweg zu sich selbst über die Welt“.

(17)

Das Bildungssystem wurde also zu einem Teil von Wilhelm von Humboldt geprägt und ist auch in der gegenwärtigen Ausgestaltung präsent. Als preußischer Kultusminister forderte er eine „Schule für alle“, die jedem Kind unabhängig von ökonomischen oder gesellschaftlichen Schranken offen stehen sollte, „denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muß in seinem Gemüt ursprünglich gleichgestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh (…) werden soll“ (Humboldt 1920a, 276 f.). Unter den damaligen politischen Bedingungen war diese Chancengleichheit allerdings nicht realisierbar, da nur privilegierte Kinder, vornehmlich Jungen aus besseren Kreisen diese Gelegenheit die Schule besuchen zu können, bekamen. Wilhelm von Humboldt forderte ein Unterrichtswesen, welches aus den drei aufeinander aufbauenden Säulen Elementarschule, Gymnasium und Universität besteht. Den unterschiedlich befüllten Geldbeutel der Leute durchaus im Blick, bot er eine horizontale Einteilung nach ökonomischen Gesichtspunkten an. Ein gemeinsames Lernen von Kindern ist unerlässlich und die Einheitsschule sinnvoll, „da die Bestimmung eines Kindes oft sehr lange unentschieden bleibt, so bringen sie den Nachteil hervor, dass leicht Verwechslungen vorgehen, der künftige Gelehrte zu lange in Mittelschulen, der künftige Handwerker zu lange in Gelehrtenschulen verweilt und daraus Verbildungen entstehen.“ (Humboldt 1920b, 277 f.)

Zum anderen Teil ist das damalige und heutige Schulwesen aus dem Interesse der Aufklärungspädagogik entstanden, bei der die Idee der Bildung mit der Ökonomie verknüpft wurde. So entstanden im 17. und 18. Jahrhundert neben den Philanthopinen Schulen für die Kinder aus reicherem Hause auch Armen- und Industrieschulen für die Kinder der ärmeren Bevölkerung, wo Kinder zur „Industriosität“ erzogen worden sind, welche als gesellschaftliche Tugend angesehen wurde. Aus ökonomischer Perspektive betrachtet arbeiteten die Kinder in diesen Schulen als billige Arbeitskräfte. (vgl.

Blankertz 1982, 60) Die bis dahin dominierende Landarbeit, bei der die Erträge großteils von den Bedingungen der Natur abhängig waren, erlitt einen Bedeutungsverlust. Es fand eine Verschiebung hin zur industriellen Produktion statt, und nun war nicht mehr die Natur, sondern Begabungen der Menschen für die Leistungserbringung ausschlaggebend. Wie der Begründer der klassischen Nationalökonomie Adam Smith (1723 – 1790) bereits 1776 erläuterte, bestand der Reichtum einer Nation von nun an aus ihrer Industrieproduktion, welche auf

(18)

menschlichen Anstrengungen basieren. Menschliche Arbeit könne somit als Quelle allen Reichtums angesehen werden (vgl. Sesink 2007, 6).

Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft war nicht nur gekennzeichnet von einer enormen Entwicklung der Technologie, Wissenschaft und gesteigerten Produktivität, sondern auch von Massenarmut und Verstädterung. Die Schulen wurden als Voraussetzung des Volksreichtums angesehen. So beurteilte man die „geforderte allgemeine Erziehung der unteren Schichten (…) als eine Maßnahme, mit der sich das immer noch akute Bettlerproblem ´ökonomisch´ lösen ließe, indem man die bettelnden und streunenden Kinder rechtzeitig durch eine öffentliche Erziehung erfaßte, sie durch schulische Sozialisation in die neuen Produktionsbedingungen integrierte und so gleichzeitig dem Arbeitskräftemangel wirksam begegnete.“

(Aumüller 1974, 48f.) Denn geschulte Arbeiter leisteten mehr und dies werfe ferner einen höheren Gewinn für den Handel, das Gewerbe und die Industrie ab. (ebd.) Es ist wohl eine bzw. die zentrale Errungenschaft, dass im Aufklärungszeitalter die Schulpflicht durchgesetzt wurde und es erreicht werden sollte, neben allen ökonomischen Motiven auch nicht direkt verwertbare Fähigkeiten im Sinne des ursprünglichen Befreiungsimpulses von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu fördern.

In Österreich wurde das staatliche Schulwesen 1774 – also ungefähr am Beginn des Zeitalters der Industriellen Revolution3 – gesetzlich unter Erzherzogin Maria Theresia von Österreich (1717-1780) eingeführt4. Dieses musste jedoch noch bis weit ins 19.

Jahrhundert hinein einige große Hindernisse überwinden, bevor es tatsächlich wirken konnte. Die Zuständigkeiten im Schulsystem zwischen Staat und Kirche einerseits und zwischen der staatlichen Zentralgewalt und den Ständen andererseits waren noch keineswegs ausbalanciert, jede Partei wollte für sich ihren Einfluss durchsetzen.

Schließlich konnte man 1869 mit dem geschaffenen Reichsvolksschulgesetz und 1905 mit der erlassenen Schul- und Unterrichtsordnung wesentliche Meilensteine setzen, etwa die Beschränkung auf maximal 80 Schüler pro Klasse. Noch immer wurden viele

3 Die Weiterentwicklung der Dampfmaschine (1769 durch James Watt) ermöglichte zugleich auch die Grundlage der Konstruktionen von anderen Arbeitsmaschinen sowie eine Revolution von Transport und Verkehr. Handarbeit wurde zu großen Teilen mechanisiert und aus Manufakturen wurden Fabriken.

4 Vorher hatten die Möglichkeit der mittels Schulgeld zu finanzierenden Bildung lediglich bevorteilte Personen aus oberen Gesellschaftsschichten.

(19)

Kinder, darunter insbes. Mädchen und ältere Kinder (oft sogar ganzjährig) vom Schulbesuch befreit, da sie notwendige Arbeiten innerhalb des Familienverbandes verrichten mussten. Die Schulaufsicht wurde nun gänzlich in die Zuständigkeit von weltlichen Personen (Inspektoren, Orts-, Bezirks- und Landesschulräte) anstelle von Geistlichen übergeführt. (vgl. Engelbrecht 2015, 124ff.)

An der Basis des dreigliedrigen, aufeinander aufbauenden Schulsystems deckte die Mindestausbildung in Form der Volksschule das Schulgesetz ab. Das Wortteil Volk war dabei auf die einfache Bevölkerung (in Abgrenzung zu den bevorteilten Bevölkerungsklassen) bezogen. In Städten und größeren Orten wurden darüber hinaus Bürger-/Hauptschulen und weiters Normalschulen eingerichtet. (vgl. Engelbrecht 2015, 130ff.)

Unter dem sozialdemokratischen Politiker Otto Glöckel (1874 – 1935), erster Unterrichtsminister der Ersten Österreichischen Republik, wurde eine bis heute gültige Schulreform umgesetzt. Er veranlasste u. a., dass von nun an nicht mehr Bürokraten, sondern Pädagogen das Schulwesen betreffende Entscheidungen treffen. Als Gegner von Bildungsprivilegien setzte er sich für die Form der Gesamtschule ein, denn jedes Kind solle unabhängig von Geschlecht und sozialer Klasse eine gute Bildung erhalten.

Dadurch erhielten auch mehr Mädchen die Möglichkeit die Hochschulreife zu erreichen und ein weiterführendes Studium zu absolvieren. (vgl. ebd.)

In den 1930er Jahren wurden aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit neue Lehrpläne eingeführt, welche die Bildungsmöglichkeiten der Mädchen wiederum reduzierten.

Die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 war im Schulwesen u.a.

gekennzeichnet durch eine strikte Trennung von Mädchen und Burschen. Die nationalsozialistische Ideologie sah als das schulische Hauptziel die Ausbildung von Buben zu Soldaten im Dienste der Nation an und die Mädchenbildung sollte die Mädchen auf das zukünftige Mutter-Sein vorbereiten. Biologie war vom Schwerpunkt der „Rassenkunde“ geprägt. (vgl. ebd.)

In der zweiten Republik trat mittels der ersten Schulnovelle 1962 die neunjährige Unterrichtspflicht in Kraft und in der zweiten Schulnovelle 1974 wurde das (auch heute noch gültige) Schulunterrichtsgesetz (SchuG) beschlossen. Seit 1975 können Jungen und Mädchen mit Einführung der Koedukation gemeinsam unterrichtet werden, seit 1979 auch im volksschulischen Turn- und Werkunterricht. Der integrative Unterricht,

(20)

bei dem beeinträchtigte SchülerInnen teilhaben, besteht seit 1993 im Primärbereich5 und seit 1997 im Sekundärbereich6. 2005 wurde durch die Parteien SPÖ und ÖVP die Aufhebung der Zweidrittel-Mehrheit für Schulgesetze beschlossen, was bedeutet, dass seitdem eine einfache Mehrheit von mehr als fünfzig Prozent für Änderungen daran erforderlich ist.

Als Konsequenz kommt ein beschleunigtes Tempo an Schulreformen zum Tragen, über dies sich Bildungsdirektor Paul Gappmaier wie folgt äußert: „(…) ständige Änderungen bringen Unruhe und Stress. Auch diese Reform hat ein sehr hohes Tempo, mit dem das System Schule ins Wanken gebracht wurde. Das hört man aus allen Bildungsdirektionen. Es braucht dringend wieder mehr Ruhe.“ (Tiroler Tageszeitung 2019b, 13)

Bei den meisten Reformen war die Thematik der Differenzierung des Schulwesens darauf fokussiert, ob es nun eine Gesamtschule geben soll oder nicht und heftige Debatten darüber standen und stehen an der Tagesordnung. In Österreich wird das differenzierte Schulwesen wie folgt im Bundesverfassungsgesetz (2019, o.S.) verankert:

„(…) Öffentliche Schulen sind allgemein ohne Unterschied der Geburt, des Geschlechtes, der Rasse, des Standes, der Klasse, der Sprache und des Bekenntnisses, im Übrigen im Rahmen der gesetzlichen Voraussetzungen zugänglich.

Das Gleiche gilt sinngemäß für Kindergärten, Horte und Schülerheime.“

(Art 14 Abs 6 B-VG)

„Die Gesetzgebung hat ein differenziertes Schulsystem vorzusehen, das zumindest nach Bildungsinhalten in allgemeinbildende und berufsbildende Schulen und nach Bildungshöhe in Primar- und Sekundarschulbereiche gegliedert ist, wobei bei den Sekundarschulen eine weitere angemessene Differenzierung vorzusehen ist.“ (Art 14 Abs 6a B-VG)

Eine bedeutende Reform war wohl unlängst die Einführung der Neuen Mittelschule (NMS), wobei dieser Schulversuch 2008/2009 startete und seit Herbst 2012 als Regelschule geführt wird, welche die Hauptschule ab 2018 dann systematisch abgelöst hat. Der größte Unterschied zur Hauptschule lässt sich mit der stärkeren inneren Differenzierung des Unterrichts benennen, wobei mittels sechs zusätzlichen LehrerInnen-Arbeitsstunden7 und moderneren Bildungsmethoden auf Leistungen von SchülerInnen in Form des Teamteachings besser eingegangen werden kann. Diese

5 die ersten 4 Schulstufen (Volksschule)

6 die 5.-8. Schulstufe (Haupt-, Neue Mittelschule, AHS-Unterstufe)

7 diese werden in den Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch gehalten

(21)

neue Schulform sollte ursprünglich das wesentliche Selektionsmerkmal nach der 4.

Schulstufe aufheben, und ökonomische, soziale und kulturelle Voraussetzungen des Elternhauses entkoppelt werden. Demzufolge wollte man die NMS im Vergleich zur Hauptschule aufwerten und somit die Kluft zum Gymnasium schmälern. (vgl.

bmbwf.gv.at 2019a, o.S.; bifie 2015, 27) Mit 01.09.2020 wird die Neue Mittelschule in Mittelschule umbenannt. (vgl. RIS 2018, 1)

Allerdings gibt es in Österreich elementare regionale Unterschiede, da insbesondere in ländlichen Gebieten die Hauptschule bzw. NMS praktisch eine Gesamtschule darstellt, in der alle Kinder – egal aus welchem Elternhaus – die ein und dieselbe Schule besuchen, da es nur eine Schulform in der Region gibt. In städtischen Gebieten mit mehreren Schulformen der Sekundarstufe I hat die Hauptschule so wie die NMS sicherlich eine schlechtere Reputation als in ländlichen Gebieten.

In der Folge sollte der in Österreich für 10-Jährige oft schon ab der 5. Schulstufe vorgezeichnete Weg in Form einer Wahlmöglichkeit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden und Neue Mittelschüler/innen sollen ungehinderter zu gewünschten Schulformen ab der 9. Schulstufe gelangen können. (vgl. bmbwf.gv.at 2019a, o.S.)

Im März 2015 zeigte der erste Evaluationsbericht (vgl. bifie 2015, 463ff.), dass positive Effekte etwa in der pädagogischen Prozessgestaltung und im sozialen Umgang miteinander verzeichnet werden. Die Ziele der Chancengleichheit8 wurden im Allgemeinen jedoch nicht erreicht, und ein Erklärungsansatz ist deutlich herauszustreichen:

„Die fehlende Zielerreichung hängt auch damit zusammen, dass die NMS nicht als Ersatz, sondern in Konkurrenz zu etablierten Schulformen eingeführt und – wie sich zeigt – sozial selektiv ausgewählt wurde.“ (ebd., 463)

Der ursprünglich angestrebte Kernpunkt der Reform von 2005 (s. o.) war die Einführung einer Gesamtschule, welche initiativ von der SPÖ angeregt wurde, als Ergebnis jedoch wurde ein „differenziertes Schulsystem“ verfassungsgesetzlich verankert. Zusammenfassend kann man festhalten, dass keine Gesamtschule (welche

8 Chancengleichheit bzw. die Erhöhung der Chancengleichheit wäre u. a. dann gegeben, wenn der Abstand von der besten zur schlechtesten Schulleistung lediglich in geringem Maße von der ökonomischen, sozialen und kulturellen Lage des Elternhauses abhängt (vgl. bifie 2015, 27)

(22)

die AHS9-Unterstufe und Hauptschule vereint) entstanden ist, sondern die Hauptschule in eine Neue Mittelschule umgewandelt wurde und die AHS-Unterstufe im Wesentlichen davon unberührt blieb.

Im Evaluationsbericht (s. o.) geht weiters hervor, dass die AHS-Unterstufe sowie die NMS aufgrund der „sozialen Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler“ (S. 457) wegen der unterschiedlichen Bildung und beruflichen Position der Eltern und deren teilweise bildungssprachlichen Alltagssprache nicht vergleichbar seien. Auch die Hoffnung, die NMS einer Gesamtschule anzunähern, ist nicht eingetreten:

„[D]ie meisten österreichischen NMS [sind] nicht in der Lage, Kinder aus dem oberen Bereich des Begabungssprektrums in diese neue Lernkultur einzubeziehen. Es fehlt ihnen der Großteil der leistungsfähigeren Mittel- und Oberschichtkinder, die

`Schrittmacher`, die auf die AHS ausweichen; es fehlen ihnen die ambitionierten, höher gebildeten Eltern dieser Kinder, an deren Aspirationen sich das `Leistungs- Ethos` von Neuen Mittelschulen zu orientieren hätte, und es fehlt ihnen ein angemessener, `fairer` Anteil von universitär ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern (…).“ (ebd., S. 61f.)

Die ÖVP hält auch weiterhin am differenzierten Schulsystem in der Sekundarstufe I fest, wie der parteifreie Bildungsminister Heinz Faßmann im März 2019 mitteilte. Er betonte, der „Differenzierungsanspruch der Eltern“ würde unterschätzt werden und im Fall der flächendeckenden Einführung einer Gesamtschule sei er sich sicher, dass als Folge Privatschulen als Alternative eingeführt würden. (vgl. derstandard 2019, o.S.) Das genau ist es, was beispielsweise Bourdieu und Champagne (1997, 529) am Bildungswesen, das soziale Ungleichheit reproduziert, kritisieren: man verschaffe ökonomisch und kulturell benachteiligten Kindern deshalb keinen Zugang zu den höheren Schulsystem-Ebenen verschaffen, weil dann gleichzeitig der ökonomische und symbolische Wert der Zeugnisse verändert werden müsste, da die Titelinhaber ansonsten einem Risiko ausgesetzt werden würden.

Wohl unbestritten ist, dass in der Sekundarstufe I das Gymnasium einen besseren Ruf innehat und die nicht-gymnasialen Schulformen auch in diesen oder zumindest in die Nähe der positiv bewerteten Reputation kommen wollen. Das Leistungsniveau der AHS-Unterstufe ist ebenfalls in der NMS (in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch wird dieses Leistungsniveau in der NMS mit „Standard-AHS“ benannt)

9 AHS ist die Abkürzung für Allgemeinbildende höhere Schule

(23)

gewährleistet. Aus welchem Grund ist es erstrebenswerter, ein Gymnasium anstelle einer NMS zu besuchen?

An dieser Stelle ist es sinnvoll, einen Blick in die mit Engagement betriebene Forschung über Bildungswegentscheidungen zu werfen.

Unter dem Schlagwort „Ungleichheit im Bildungssystem“ werden Bildungsweg- entscheidungen analysiert. Dabei wird betont, dass bereits die Wahl der Schulform der Sekundarstufe I (AHS oder NMS) die Weichenstellung für das spätere Berufsleben maßgeblich beeinflusst, da im Allgemeinen mit der AHS weiterführende Schulen und mit der NMS die berufliche Ausbildung im zukünftigen Fokus der Jugendlichen stehen werden. In der AHS sind Kinder mit höherem sozioökonomischem Status vertreten, welcher über den Berufsstand der Eltern, das elterliche Einkommen, das familiäre Netzwerk, elterliche Bildungstitel und sonstigem Besitz von kulturellem Kapital definiert wird (vgl. Kesselring & Leitner 2007, 94-98). Jährlich wird darüber informiert und kritisch darauf hingewiesen, dass Bildung auch heute noch überwiegend vererbt wird, und auch die Wahl des Schulweges vom sozioökonomischen Hintergrund der Eltern maßgeblich abhängig ist. (vgl. ebd., 94). Die Analysen beziehen sich vielfach auf die höchsten Bildungsabschlüsse, berücksichtigen auch sozioökonomische Faktoren und belegen durchwegs, dass „für Kinder, deren Eltern einen niedrigen formalen Bildungsabschluss haben, (…) es vergleichsweise schwierig [ist], einen Bildungsabschluss einer höheren Schule oder einer Universität zu erreichen.“ (vgl.

Statistik Austria 2017, 100)

Um diesen bildungsbenachteiligten Kindern mehr Chancen zu geben, eine höhere Schulbildung zu ermöglichen, wurde beispielsweise in einer Schulreform die NMS umgesetzt. Die NMS soll sowohl auf weiterführende Schulen als auch auf das Berufsleben vorbereiten. Es ist hinreichend analysiert, dass Schulwegentscheidungen sehr einflussreich auf zukünftige Bildungschancen und Berufskarrieren einer Person sind (vgl. NBB 2018a, 142).

Diese Analysen haben zum Ergebnis, dass je höher die formale Bildung ist, umso eher diese auch angestrebt wird. Dies impliziert, dass beispielsweise gegen eine Lehrlingsausbildung entschieden werden sollte, wenn man die Wahl zwischen dieser und einer weiterführenden Schule hätte. Langfristig würde dies bedeuten, und die Tendenz bestätigt dies, dass Lehrlingsausbildungen kontinuierlich abnehmen und

(24)

andere formale Bildungsabschlüsse zunehmen. Jede/r möchte sich schließlich zu jenen zählen dürfen, die einen „hohen sozioökonomischen Status“ haben, worunter auch maßgeblich formale Bildungsabschlüsse zu zählen sind. Die Signalwirkung dieser Analysen suggeriert, dass weiterführende Schultypen und idealerweise ein Studium angestrebt werden sollen und vergleicht in diese Richtung, wie viele Arbeiterkinder an einer Universität inskribieren und abschließen.

Die Publikation von Forschungsergebnissen und deren mediale Verbreitung enthalten immer auch eine Bewertung, obgleich sie lediglich etwas analysieren oder feststellen, d.h. den Objektivitätsanspruch erfüllen. Doch Objektivität ist nicht gleichzusetzen mit Wertneutralität (vgl. Blaikie 2007, 42ff, Sahmel 1988.).

Wolf (2015, 352f.) zeigt auf, dass anerkennungstheoretische Problematiken dabei außer Acht gelassen werden und weist auf die tendenzielle Parteilichkeit der aktuellen Bildungswissenschaften hin:

„Für die Bildungsforschung selbst könnte damit die Chance verbunden sein, über den Umweg des Forschungsgegenstands zur Selbstreflexion bezüglich eigener Normativitätsprobleme zu gelangen.“ (ebd., 352)

So besteht beispielsweise eine Forschungslücke hinsichtlich der Frage, wie viele Kinder von Eltern mit Universitätsabschluss in einer Lehrlingsausbildung sind. Diese Forschung würde ebenfalls objektiv, aber nicht wertneutral sein, da hier ebenfalls wie bei der aktuellen Bildungswegforschung suggeriert werden würde, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Kinder einen anderen Bildungsweg einschlagen wie deren Eltern.

Die Soziologen Grundmann et al. (2004) haben den üblichen Zugang der Bildungs- und Ungleichheitsforschung über die bloße familiäre Dimension um weitere Bereiche erweitert. Sie untersuchten, inwiefern schulische Anforderungen und die Lebenswelt, in welcher Schulkinder sich sonst befinden, einander entsprechen. Die These, dass Bildungsprozesse von „bildungsfernen“ Milieus abgewertet werden, kann lt. den Forschern großteils bestätigt werden. Im schulischen Kontext wird dabei vorausgesetzt und dies wird insbesondere als Hauptproblem angesehen, dass in der Schule (abstraktes) vermitteltes Wissen losgelöst von praktischen Erfahrungs- zusammenhängen angeeignet werden könne. Es werde erwartet, dass dieses Wissen als wichtig angesehen werde und deshalb jede/r motiviert sei, dieses für das spätere Arbeitsleben sich anzueignen. Lebensweltliche versus schulische Bildungsprozesse

(25)

seien für Kinder aus sozio-ökonomisch bevorteilten Milieus besser zu vereinbaren als für Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Milieus10 und daher seien erstere in der Schule im Vorteil. Milieugrenzen würden generell durch stabile kulturelle Orientierungen aufrechterhalten und von Generation zu Generation reproduziert. Um zu mehr sozialer Gleichheit gelangen zu können, ist es lt. Grundmann et al. notwendig, nicht nur aus Perspektive der institutionalisierten Bildung und ihrer Normen zu urteilen, sondern die Reproduktionslogik aller (nicht nur der bildungsnahen) Milieus zu verstehen.

Das Schul- und Unterrichtssystem orientiert sich an den wirkmächtigen Idealen und vermittelt eine bestimmte gesellschaftliche Kulturform, nämlich die bürgerliche (und nicht etwa die der Arbeiter). Eine Konsequenz daraus ist, dass SchülerInnen, die innerhalb eines bürgerlich orientierten sozialen Umfeldes aufgewachsen sind, im Vorteil sind, weil das schulische Regelsystem relativ vertraut ist. Wenn SchülerInnen bezüglich dessen hingegen im Nachteil sind, müssen sie die Wertorientierungen der Schule, welche der Postbeamten-Sohn und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu (1930- 2002) als „Codes“ bezeichnet, erst von Grund auf erlernen. Er diskutiert weiters, dass in der Schule dieser überwundene Rückstand immer noch unterschiedlich in Form von

„Fleiß“ (mühsam erlerntes Wissen) beurteilt wird, während das bereits familiär erworbene und gleichzeitig schulisch kompatible Wissen zu einer Leichtigkeit führt, dem dagegen das Prädikat „brilliant“ zugestanden wird. Da das Bildungssystem alle SchülerInnen gleich anhand bürgerlicher Wertideale behandeln soll, werden unterschiedliche Voraussetzungen verschleiert. (vgl. Erler 2007, 40)

Erheblichen Einfluss auf den Schulerfolg hat beispielsweise die gesprochene Art der Sprache. Kinder mit der Muttersprache Deutsch können erheblich im Vor- oder Nachteil sein, jenachdem, ob hochsprachlich oder dialektreich im familiären Umfeld gesprochen wird. Der britische Soziologe Basil Bernstein (1924-2000) ging folgender Frage nach:

10 In der aktuellen Diskussion werden diese verschiedenen Milieus öfters mit „bildungsnah“ und

„bildungsfern“ betitelt, wobei eindeutig auf Werte eines „Gebildet-Seins“ bezogen wird, dieses lässt jedoch eine Definition vermissen, was darunter genau verstanden werden kann. Man kann im Allgemeinen davon ausgehen, dass eine „höhere Bildung“ im abstrakten und geistigen Sinne gemeint und gewisse Verhaltenstendenzen damit gemeint sind, zB Bücher lesen anstelle Wirtshaus, ORF III anstelle Sat 1, Klassik anstelle Schlagermusik etc.

(26)

„[Wie kann es sein, dass] eine große Anzahl von Kindern normaler Intelligenz, die immer genug zu essen gehabt haben, das Schulsystem durchlaufen und als Versager verlassen[?]“ (vgl. Halliday 1975, 7f.)

An dieser Stelle soll angesprochen werden, dass beispielsweise weder die deutsche Hochsprache noch eine Dialekt- oder Soziolekt-Variante11 davon defizitär oder minderwertig ist, aber erstere beruht auf einem verbindlichen Regelsystem, auf Basis dessen sich alle im deutschsprachigen Raum schriftlich (und zunehmend auch mündlich) verständigen. In immer weniger Situationen ist es wünschenswert, einen Dialekt oder Soziolekt zu sprechen. Jene, die es dennoch tun, werden in der Regel stigmatisiert und dieses Stigma wiederum verschafft Schulkindern eher Nachteile in Bildungssituationen. Denn die Schriftvariante ist für die Benachteiligten weiter entfernt als für andere, welche diese standardisierte Form in der gesprochenen Muttersprache enthält. (vgl. Adaktylos 2007, 51ff.)

Daneben ist es mindestens genauso ein schwerwiegender Nachteil in Bildungssituationen, wenn Kinder im Zusammenhang mit der Beantwortung einer gestellten Frage nur die notwendigsten Aspekte (ohne weitere Erklärung oder Reflektion) benennen und aussprechen. Wenn aus dem Kontext hervorgehende selbstverständliche Informationen in der Regel nicht ausgesprochen werden und Sprache nicht explizit, sondern nur als Mittel zum Zweck verwendet wird, ist dies häufig zu wenig. (vgl. ebd.)

Somit könnten ein gesprochener Soziolekt oder Dialekt und auch der auf Offensichtliches verzichtende sprachliche Ausdruck als Stigmata angesehen werden, da diese in schulischen Situationen von Nachteil sind. Bernstein (1971, 62) hält in seinen Untersuchungen fest, dass Lehrpersonen sich gegenüber diesen Kindern anders verhalten und vom Kind implizit Schulversagen erwarten. Die sozialen Nebenbedeutungen, die die schulische Umgebung mit einem Kind verbinde, seien demzufolge entscheidend für (keinen) Schulerfolg12. Auch Bourdieu bestätigt, dass

11 Der Dialekt meint eine Mundart, welche in einer Region vorwiegend gesprochen wird. Der Soziolekt bezieht sich auf eine soziale Gruppe (Geschlecht, Alter oder Milieus): So haben Männer mitunter andere Ausdrucksweisen wie Frauen, die Babyboomer-Generation verwendet teilweise andere Wörter wie die Generation Z und jemand im Militär spricht anders als jemand, die/der im Kindergarten tätig ist.

12 Das Wort „Weib“, „Weibes“, „Weiberleit“ etc. wird auch gegenwärtig in Tirol noch teilweise verwendet, gilt jedoch als veraltet, da es im Allgemeinen als abwertend gegenüber Frauen gilt. Die Bedeutung des Wortes im Dialekt bzw. in der Umgangssprache kann jedoch eine andere sein, zB ist nicht die verbundene Abwertung gemeint, sondern der Gegenbegriff zum „Lotha°“ (Mann). SchülerInnen, welche „Weib“ im letzteren Fall verwenden, werden in der Regel vom Lehrpersonal korrigiert und

(27)

Lehrende bei den zu Unterrichtenden ein bürgerliches Verhalten13 entsprechend positiver bewerten:

„Der Professor bevorzugt instinktiv die Studenten, die in ihrer Vollendung die privilegierten Werte der Bourgeoisie ausdrücken, zu der er selbst gehört oder zu der er sich mit seiner Ausbildung zählt“ (Bourdieu 2001, 23).

Unterschiedliche familiäre Voraussetzungen führen zu verschiedenen Verhaltens- weisen, welche mehr oder weniger mit den erwünschten Formen im Schulsystem korrespondieren. Nachdem die Schule für alle geöffnet wurde (s. o.), schufen die

„herrschenden Klassen“ (Erler 2007, 45) längere Bildungswege mit mehr Möglichkeiten von (wertvolleren bis wertloseren) Abschlüssen, um auch jene Privilegien für ihre Kinder zu erhalten, welche auf Bildungsabschlüssen beruhen. Die „Illusion der Chancengleichheit“ (ebd.) bestehe daher weiter fort, da sich trotz Bildungsexpansion und der Möglichkeit, dass grundsätzlich jedes Kind jede beliebige schulische Laufbahn verfolgen könne, das Feld nur weiter ausdifferenziert habe.

Im Folgenden wird die Bildungsexpansion überblicksmäßig in drei Phasen dargestellt.

In der ersten Phase 1933 – 1972 konnten zunehmend mehr Personen eine Lehrlingsausbildung absolvieren – waren es in den 1930ern noch 30 %, konnten um 1960 schon 57 % verzeichnet werden, im nächsten Jahrzehnt setzte eine Stagnation ein. Die Lehrlingsausbildung ersetzte als höchste Ausbildungsform für viele den Pflichtschulabschluss. Die mittlere bzw. höhere Ausbildung nahm von 19 % auf 30 % zu. Nicht nur Kinder, deren Eltern unqualifizierte Arbeitskräfte waren, konnten davon profitieren. (vgl. Haller 1979, 39f.)

Ein weiterer Meilenstein der Bildungsexpansion wurde mit dem Schulorganisationsgesetz 1962 gesetzt, durch den insbesondere in den weiter- führenden Schulen AHS14 und BMHS15 über die nächsten Jahrzehnte ein starker Anstieg an SchülerInnenzahlen verzeichnet werden konnte. (vgl. Lassnigg 1995, 458ff.).

eventuell mit Vorurteilen bzw. Bewertungen stigmatisiert. (Anmerkung: Ob das Auslöschen des Wortes

„Weib“ tatsächlich eine Verbesserung der Stellung von Frauen bewirkt, auf diese Frage kann hier nicht näher eingegangen werden. Weiters läge die Frage nahe, aus welchem Grund dann das Attribut bzw.

Adjektiv „weiblich“ immer noch ohne negative Wertung angewendet werden darf und es für dieses kein Synonym gibt.)

13 das sich beispielsweise durch Sicherheit im sprachlichen Ausdruck und im Sprechen der Bildungssprache, durch Sprachgewandtheit und Reflektiertheit sowie der Fähigkeit, Sachverhalte aus verschiedenen Sichtweisen zu erklären, auszeichnet

14 1963: 81.000; 1973: 161.000; 1983: 178.000

15 1963: 53.000; 1973: 97.000, 1983: 170.000

(28)

Die dritte Phase, und auf diese wird in der vorliegenden Masterarbeit das Haupt- augenmerk gelegt, ist durch einen Anstieg im tertiären Bildungssektor (Hochschulwesen) ab Mitte der 1970er Jahre gekennzeichnet. Die liberale Hochschulgesetzgebung16 ermöglichte es, dass die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre nach dem Abschluss einer weiterführenden Schule mit Matura ein Studium aufnehmen konnten. (vgl. ebd.)

2.3. Internationale und nationale Vergleiche im Bildungssystem

„Es ist etwas dran an dem sarkastischen 68er-Spruch:

´Allgemeinbildung ist die Berufsbildung der Herrschenden, Berufsbildung ist die Allgemeinbildung der Beherrschten.´“

(Karl Heinz Gruber, derStandard, 25.11.2009)

Prägend, insbesondere seit dem EU-Beitritt, sind für das Bildungswesen Bestrebungen der europaweiten Vergleichbarkeit von Bildungsprozessen und Qualifikationen.

Zur Veranschaulichung werden vorab die österreichischen Schulformen mit der ISCED17-Klassifikation vergleichend vorgestellt, da sich Bezeichnungen sowohl in der Alltagssprache als auch in dieser Arbeit überschneiden und synonym verwendet werden, jedoch im Allgemeinen sich auf das Gleiche beziehen (vgl. Tab. 1):

Alter ca. Schulstufe Österr. Schulsystem ISCED

0-5 - - Stufe 0: Elementarbereich

6-10 1.-4. Volksschule Stufe 1: Primarbereich

10-14 5.-8. NMS/AHS Stufe 2: Sekundarbereich I

14-15 9. Poly, BMHS, AHS Stufe 3: Sekundarbereich II

15-18 10.-13. BMHS, AHS, Berufsschule/Lehre Stufe 3 bzw. 4 bzw. 5: Sekundarbereich II

ab 18 - Meister, Ingenieur, Bachelor (etc.) Stufe 6: Bachelor- bzw. gleichwertiges Bildungsprogramm ab 18 - Master (Magister) (etc.) Stufe 7: Master- bzw. gleichwertiges Bildungsprogramm ab 18 - Dr., PhD (etc.) Stufe 8: Promotion bzw. gleichwertiges Bildungsprogramm Tab. 1: Vergleich österreichisches Schulsystem mit ISCED, eigene Darstellung

16 Die österreichischen Universitäten wurden durch das Universitäts-Organisationsgesetz 1975, das zu einer Öffnung der Universität führte und die Mitbestimmung aller am Wissenschaftsbetrieb beteiligten Personen ermöglichte, demokratisiert und im Bereich der Organisation modernisiert. Die Abschaffung der Studiengebühren drei Jahre vorher (1972) zielte auf einen „freien Hochschulzugang“. Dieser Reformprozess wurde von der sozialdemokratischen Regierung angestrebt und unter der Wissenschaftsministerin Herta Firnberg (1909 – 1994), der ersten sozialdemokratischen Ministerin Österreichs, umgesetzt.

17 ISCED ist die Abkürzung für „International Standard Classification of Education“

(29)

2.3.1. ISCED

Ein statistisches Instrument, das in den OECD-Ländern angewandt wird, ist die internationale Standardklassifikation im Bildungswesen ISCED. Diese unterteilt sich in mittlerweile neun Hauptkategorien von der Kinderkrippe (Stufe 0) bis zum Doktortitel (Stufe 8). Innerhalb dessen gibt es verschiedene Untergruppen. Mit diesem einflussreichen Bildungsklassifikationssystem sollen die jeweiligen Ausbildungsformen in den OECD-Ländern, zu denen auch Österreich zählt, in ein Ausbildungsniveau eingeordnet werden können. ISCED macht erworbene Qualifikationen in den Bildungssystemen im OEDC-Raum mittels Kodierungen18 international vergleichbar.

Hier wird grundsätzlich angenommen, dass Lernprozesse und deren Resultate sich hierarchisch darstellen lassen. Allerdings gestaltet sich eine umfassende und eine jeweilige Realität abbildende Bewertung schwierig, da die Arten der Ausbildungsgänge in den Ländern unterschiedlich sind. Das wird im aktuellen Programm (vgl. UNESCO 2011, 13) wie folgt ohne Anspruch auf die tatsächlich vorhandene Qualifikation festgehalten19. Systembesonderheiten können daher nur unzureichend berücksichtigt werden. Es erfolgt eine Klassifizierung nach Bildungsinhalten, diese werden einer Bildungshöhe und einem Bildungsfeld zugeordnet. So werden nationale Abschlüsse zwar zugeordnet, allerdings besteht die Gefahr, diese gewonnenen und generierten Daten fehlzuinterpretieren bzw. gar für bildungspolitische Zwecke zu missbrauchen.

Daher sei eine besondere Aufmerksamkeit für die Interpretation des internationalen Vergleichs notwendig. (vgl. Bohlinger 2012, 19) Seit der letzten Revision gibt es weitreichende statistische Änderungen für Österreich, da u. a. der 4. und 5. Jahrgang der Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) in Österreich der Stufe 5 zugeordnet wurde, welche nun zum Tertiärbereich zählen. Österreich weist in den OECD- Statistiken regelmäßig eine unterdurchschnittliche Quote in der Hochschulbildung und eine überdurchschnittliche Quote in der Berufsbildung aus, da andere Länder BHS- ähnliche Qualifikationen in höheren Stufen einordnen:

18 die abgeschlossene Lehrlingsausbildung die Kodierung 354 (3 = Sekundarbereich II, 5 = berufsbildende Ausbildung, abgeschlossene Ausbildung = 4)

19 „However, curricula are too diverse, multi-faceted and complex to directly assess and compare the content of programmes across education systems in a consistent way. Due to the absence of direct measures to classify educational content, ISCED employs proxy criteria that help to classify a given educational programme to the appropriate ISCED level” (UNESCO 2011, 13)

(30)

„Ein Schwerpunkt der hiesigen Bildungsstruktur bildet schließlich die so genannte

`duale Ausbildung`, in welcher Lehrlinge ihre Kenntnisse und Fähigkeiten sowohl im Betrieb als auch in der Schule erhalten. Der hohe Lehrlingsanteil verhilft dem Land hier zu einer Position weit vorn. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass die Bildungsorganisation hier einen gewissen Sonderweg einschlug, der im Hauptstrom heute statistisch den Bildungsstand eher unterschätzt.“ (Reiterer 2005, 32).

Die tatsächlich vorhandenen und die statistisch erfassten Qualifikationen hängen wie in diesem Fall häufig nicht zwingend zusammen, dafür sprechen auch empirische Evidenzen am Arbeitsmarkt, bei dem in Österreich ausgebildete Personen keineswegs unterqualifiziert, sondern im Gegenteil vergleichsweise gut qualifiziert sind (vgl.

Schneeberger 2007, 11).

2.3.2. Europäischer Qualifikationsrahmen

2008 wurde der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) eingeführt, in dessen strategischem Rahmen die EU-Mitgliedsstaaten die allgemeine und berufliche Bildung bis 2020 eine transnationale Verständlichkeit und transparente Darstellung erhalten soll. Außerdem wird das Ziel verfolgt, dass der EQR zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigungsfähigkeit und sozialem Zusammenhalt beitragen soll. Dabei wurden sogenannte Deskriptoren (inhaltliche Beschreibungen) definiert, welche die Kenntnisse, Fertigkeiten und Verantwortung bzw. Selbständigkeit zu jedem Niveau abbilden (vgl. Tab. 2). Kenntnisse werden dabei als Theorie- und Faktenwissen beschrieben. Fertigkeiten werden in kognitive und praktische unterteilt.

Verantwortung und Selbständigkeit werden dabei als Fähigkeiten verstanden, die Kenntnisse und Fähigkeiten selbständig und verantwortungsbewusst anzuwenden.

(vgl. qualifikationsregister.at 2017, 8f.; bmbwf.gv.at 2019b, o.S.)

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Der Regierungsrat unterstützt grundsätzlich die Forderung der Motion nach einer einheitlichen Trägerschaft der BFH aus führungstechnischen Überlegungen - mit dem

Der Regierungsrat setzte eine Expertinnen- und Expertengruppe VAP ein, diese Expertinnen- und Experten zeigten in ihrem Bericht auf, dass die fachspezifische Analyse der

August 1995, Jugendliche im Alter von 10 bis 19 Jahren, für Englisch, Kunst und Theater, Französisch, Computer; Ausflüge und Sport Eine englischsprachige Gemeinschaft mit

Genauso müssen „die Fragen des Transports (zu Fuß, mit dem Auto, Schulbus, Fahrrad oder Kombinationen daraus) wie auch Lösungen für die ver- kehrstechnisch sichere Ge- staltung

Diese verstanden sich selbst nicht mehr als Jüdinnen und Juden, da ihre Großeltern, Eltern oder sie selbst aus dem Judentum ausgetreten waren und in vielen Fällen zu

Die Kassenärztliche Bundesver- einigung und die Krankenkassen haben sich bereits Anfang des Jah- res im gemeinsamen Bewertungs- ausschuss darauf geeinigt, für be-

Damit erhält die Gesell- schaft für Telematikanwen- dungen der Gesundheitskarte gGmbH (gematik) im Nach- hinein eine rechtliche Grund- lage.. Die Selbstverwaltungs- partner hatten

Wachsende soziale Ungleichheit wird eine immer größere Gefahr für den Zusammenhalt unserer Gesellschaften: Während die einen mehr haben, als sie in einem Leben je verbrauchen können,