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2. Bildung vs. Ausbildung

2.2. Bildungsverständnis im Schulwesen

Diese beiden Denkrichtungen in Bezug auf Bildung, welchen ein unterschiedliches Bildungsverständnis zugrunde liegt, existieren bis heute nebeneinander und sind nicht zur Gänze harmonisch miteinander vereinbar. Wilhelm von Humboldt entwickelte sein Verständnis der Bildung als Kritik jeder äußeren Bestimmung des Menschen, wie sie damals zweckdienlich eingesetzt wurde. Seine Vision der kontinuierlichen Selbststeigerung der eigenen Einzigartigkeit etablierte schließlich eine neue gesellschaftliche Ordnung. (vgl. Ricken 2006, 267f.)

2 Ein Mensch verhält sich reflexiv bzw. reflektiert (beide Wörter haben die gleiche Bedeutung), wenn er über sich selbst oder seine Gedanken, Motivationen und Handlungen nachdenkt und diese beurteilt.

Diese Rückbezogenheit auf sich selbst ist ein wesentliches Kriterium für die Bildung dieser Epochen, wie der Pädagoge Theodor Ballauff (1978, 139) erläutert: „Der Gebildete ist das Wesen, das sich zu sich selbst verhält. Reflexivität macht den Grundvollzug der Bildung aus. Der Mensch nimmt den Umweg zu sich selbst über die Welt“.

Das Bildungssystem wurde also zu einem Teil von Wilhelm von Humboldt geprägt und ist auch in der gegenwärtigen Ausgestaltung präsent. Als preußischer Kultusminister forderte er eine „Schule für alle“, die jedem Kind unabhängig von ökonomischen oder gesellschaftlichen Schranken offen stehen sollte, „denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muß in seinem Gemüt ursprünglich gleichgestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh (…) werden soll“ (Humboldt 1920a, 276 f.). Unter den damaligen politischen Bedingungen war diese Chancengleichheit allerdings nicht realisierbar, da nur privilegierte Kinder, vornehmlich Jungen aus besseren Kreisen diese Gelegenheit die Schule besuchen zu können, bekamen. Wilhelm von Humboldt forderte ein Unterrichtswesen, welches aus den drei aufeinander aufbauenden Säulen Elementarschule, Gymnasium und Universität besteht. Den unterschiedlich befüllten Geldbeutel der Leute durchaus im Blick, bot er eine horizontale Einteilung nach ökonomischen Gesichtspunkten an. Ein gemeinsames Lernen von Kindern ist unerlässlich und die Einheitsschule sinnvoll, „da die Bestimmung eines Kindes oft sehr lange unentschieden bleibt, so bringen sie den Nachteil hervor, dass leicht Verwechslungen vorgehen, der künftige Gelehrte zu lange in Mittelschulen, der künftige Handwerker zu lange in Gelehrtenschulen verweilt und daraus Verbildungen entstehen.“ (Humboldt 1920b, 277 f.)

Zum anderen Teil ist das damalige und heutige Schulwesen aus dem Interesse der Aufklärungspädagogik entstanden, bei der die Idee der Bildung mit der Ökonomie verknüpft wurde. So entstanden im 17. und 18. Jahrhundert neben den Philanthopinen Schulen für die Kinder aus reicherem Hause auch Armen- und Industrieschulen für die Kinder der ärmeren Bevölkerung, wo Kinder zur „Industriosität“ erzogen worden sind, welche als gesellschaftliche Tugend angesehen wurde. Aus ökonomischer Perspektive betrachtet arbeiteten die Kinder in diesen Schulen als billige Arbeitskräfte. (vgl.

Blankertz 1982, 60) Die bis dahin dominierende Landarbeit, bei der die Erträge großteils von den Bedingungen der Natur abhängig waren, erlitt einen Bedeutungsverlust. Es fand eine Verschiebung hin zur industriellen Produktion statt, und nun war nicht mehr die Natur, sondern Begabungen der Menschen für die Leistungserbringung ausschlaggebend. Wie der Begründer der klassischen Nationalökonomie Adam Smith (1723 – 1790) bereits 1776 erläuterte, bestand der Reichtum einer Nation von nun an aus ihrer Industrieproduktion, welche auf

menschlichen Anstrengungen basieren. Menschliche Arbeit könne somit als Quelle allen Reichtums angesehen werden (vgl. Sesink 2007, 6).

Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft war nicht nur gekennzeichnet von einer enormen Entwicklung der Technologie, Wissenschaft und gesteigerten Produktivität, sondern auch von Massenarmut und Verstädterung. Die Schulen wurden als Voraussetzung des Volksreichtums angesehen. So beurteilte man die „geforderte allgemeine Erziehung der unteren Schichten (…) als eine Maßnahme, mit der sich das immer noch akute Bettlerproblem ´ökonomisch´ lösen ließe, indem man die bettelnden und streunenden Kinder rechtzeitig durch eine öffentliche Erziehung erfaßte, sie durch schulische Sozialisation in die neuen Produktionsbedingungen integrierte und so gleichzeitig dem Arbeitskräftemangel wirksam begegnete.“

(Aumüller 1974, 48f.) Denn geschulte Arbeiter leisteten mehr und dies werfe ferner einen höheren Gewinn für den Handel, das Gewerbe und die Industrie ab. (ebd.) Es ist wohl eine bzw. die zentrale Errungenschaft, dass im Aufklärungszeitalter die Schulpflicht durchgesetzt wurde und es erreicht werden sollte, neben allen ökonomischen Motiven auch nicht direkt verwertbare Fähigkeiten im Sinne des ursprünglichen Befreiungsimpulses von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu fördern.

In Österreich wurde das staatliche Schulwesen 1774 – also ungefähr am Beginn des Zeitalters der Industriellen Revolution3 – gesetzlich unter Erzherzogin Maria Theresia von Österreich (1717-1780) eingeführt4. Dieses musste jedoch noch bis weit ins 19.

Jahrhundert hinein einige große Hindernisse überwinden, bevor es tatsächlich wirken konnte. Die Zuständigkeiten im Schulsystem zwischen Staat und Kirche einerseits und zwischen der staatlichen Zentralgewalt und den Ständen andererseits waren noch keineswegs ausbalanciert, jede Partei wollte für sich ihren Einfluss durchsetzen.

Schließlich konnte man 1869 mit dem geschaffenen Reichsvolksschulgesetz und 1905 mit der erlassenen Schul- und Unterrichtsordnung wesentliche Meilensteine setzen, etwa die Beschränkung auf maximal 80 Schüler pro Klasse. Noch immer wurden viele

3 Die Weiterentwicklung der Dampfmaschine (1769 durch James Watt) ermöglichte zugleich auch die Grundlage der Konstruktionen von anderen Arbeitsmaschinen sowie eine Revolution von Transport und Verkehr. Handarbeit wurde zu großen Teilen mechanisiert und aus Manufakturen wurden Fabriken.

4 Vorher hatten die Möglichkeit der mittels Schulgeld zu finanzierenden Bildung lediglich bevorteilte Personen aus oberen Gesellschaftsschichten.

Kinder, darunter insbes. Mädchen und ältere Kinder (oft sogar ganzjährig) vom Schulbesuch befreit, da sie notwendige Arbeiten innerhalb des Familienverbandes verrichten mussten. Die Schulaufsicht wurde nun gänzlich in die Zuständigkeit von weltlichen Personen (Inspektoren, Orts-, Bezirks- und Landesschulräte) anstelle von Geistlichen übergeführt. (vgl. Engelbrecht 2015, 124ff.)

An der Basis des dreigliedrigen, aufeinander aufbauenden Schulsystems deckte die Mindestausbildung in Form der Volksschule das Schulgesetz ab. Das Wortteil Volk war dabei auf die einfache Bevölkerung (in Abgrenzung zu den bevorteilten Bevölkerungsklassen) bezogen. In Städten und größeren Orten wurden darüber hinaus Bürger-/Hauptschulen und weiters Normalschulen eingerichtet. (vgl. Engelbrecht 2015, 130ff.)

Unter dem sozialdemokratischen Politiker Otto Glöckel (1874 – 1935), erster Unterrichtsminister der Ersten Österreichischen Republik, wurde eine bis heute gültige Schulreform umgesetzt. Er veranlasste u. a., dass von nun an nicht mehr Bürokraten, sondern Pädagogen das Schulwesen betreffende Entscheidungen treffen. Als Gegner von Bildungsprivilegien setzte er sich für die Form der Gesamtschule ein, denn jedes Kind solle unabhängig von Geschlecht und sozialer Klasse eine gute Bildung erhalten.

Dadurch erhielten auch mehr Mädchen die Möglichkeit die Hochschulreife zu erreichen und ein weiterführendes Studium zu absolvieren. (vgl. ebd.)

In den 1930er Jahren wurden aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit neue Lehrpläne eingeführt, welche die Bildungsmöglichkeiten der Mädchen wiederum reduzierten.

Die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 war im Schulwesen u.a.

gekennzeichnet durch eine strikte Trennung von Mädchen und Burschen. Die nationalsozialistische Ideologie sah als das schulische Hauptziel die Ausbildung von Buben zu Soldaten im Dienste der Nation an und die Mädchenbildung sollte die Mädchen auf das zukünftige Mutter-Sein vorbereiten. Biologie war vom Schwerpunkt der „Rassenkunde“ geprägt. (vgl. ebd.)

In der zweiten Republik trat mittels der ersten Schulnovelle 1962 die neunjährige Unterrichtspflicht in Kraft und in der zweiten Schulnovelle 1974 wurde das (auch heute noch gültige) Schulunterrichtsgesetz (SchuG) beschlossen. Seit 1975 können Jungen und Mädchen mit Einführung der Koedukation gemeinsam unterrichtet werden, seit 1979 auch im volksschulischen Turn- und Werkunterricht. Der integrative Unterricht,

bei dem beeinträchtigte SchülerInnen teilhaben, besteht seit 1993 im Primärbereich5 und seit 1997 im Sekundärbereich6. 2005 wurde durch die Parteien SPÖ und ÖVP die Aufhebung der Zweidrittel-Mehrheit für Schulgesetze beschlossen, was bedeutet, dass seitdem eine einfache Mehrheit von mehr als fünfzig Prozent für Änderungen daran erforderlich ist.

Als Konsequenz kommt ein beschleunigtes Tempo an Schulreformen zum Tragen, über dies sich Bildungsdirektor Paul Gappmaier wie folgt äußert: „(…) ständige Änderungen bringen Unruhe und Stress. Auch diese Reform hat ein sehr hohes Tempo, mit dem das System Schule ins Wanken gebracht wurde. Das hört man aus allen Bildungsdirektionen. Es braucht dringend wieder mehr Ruhe.“ (Tiroler Tageszeitung 2019b, 13)

Bei den meisten Reformen war die Thematik der Differenzierung des Schulwesens darauf fokussiert, ob es nun eine Gesamtschule geben soll oder nicht und heftige Debatten darüber standen und stehen an der Tagesordnung. In Österreich wird das differenzierte Schulwesen wie folgt im Bundesverfassungsgesetz (2019, o.S.) verankert:

„(…) Öffentliche Schulen sind allgemein ohne Unterschied der Geburt, des Geschlechtes, der Rasse, des Standes, der Klasse, der Sprache und des Bekenntnisses, im Übrigen im Rahmen der gesetzlichen Voraussetzungen zugänglich.

Das Gleiche gilt sinngemäß für Kindergärten, Horte und Schülerheime.“

(Art 14 Abs 6 B-VG)

„Die Gesetzgebung hat ein differenziertes Schulsystem vorzusehen, das zumindest nach Bildungsinhalten in allgemeinbildende und berufsbildende Schulen und nach Bildungshöhe in Primar- und Sekundarschulbereiche gegliedert ist, wobei bei den Sekundarschulen eine weitere angemessene Differenzierung vorzusehen ist.“ (Art 14 Abs 6a B-VG)

Eine bedeutende Reform war wohl unlängst die Einführung der Neuen Mittelschule (NMS), wobei dieser Schulversuch 2008/2009 startete und seit Herbst 2012 als Regelschule geführt wird, welche die Hauptschule ab 2018 dann systematisch abgelöst hat. Der größte Unterschied zur Hauptschule lässt sich mit der stärkeren inneren Differenzierung des Unterrichts benennen, wobei mittels sechs zusätzlichen LehrerInnen-Arbeitsstunden7 und moderneren Bildungsmethoden auf Leistungen von SchülerInnen in Form des Teamteachings besser eingegangen werden kann. Diese

5 die ersten 4 Schulstufen (Volksschule)

6 die 5.-8. Schulstufe (Haupt-, Neue Mittelschule, AHS-Unterstufe)

7 diese werden in den Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch gehalten

neue Schulform sollte ursprünglich das wesentliche Selektionsmerkmal nach der 4.

Schulstufe aufheben, und ökonomische, soziale und kulturelle Voraussetzungen des Elternhauses entkoppelt werden. Demzufolge wollte man die NMS im Vergleich zur Hauptschule aufwerten und somit die Kluft zum Gymnasium schmälern. (vgl.

bmbwf.gv.at 2019a, o.S.; bifie 2015, 27) Mit 01.09.2020 wird die Neue Mittelschule in Mittelschule umbenannt. (vgl. RIS 2018, 1)

Allerdings gibt es in Österreich elementare regionale Unterschiede, da insbesondere in ländlichen Gebieten die Hauptschule bzw. NMS praktisch eine Gesamtschule darstellt, in der alle Kinder – egal aus welchem Elternhaus – die ein und dieselbe Schule besuchen, da es nur eine Schulform in der Region gibt. In städtischen Gebieten mit mehreren Schulformen der Sekundarstufe I hat die Hauptschule so wie die NMS sicherlich eine schlechtere Reputation als in ländlichen Gebieten.

In der Folge sollte der in Österreich für 10-Jährige oft schon ab der 5. Schulstufe vorgezeichnete Weg in Form einer Wahlmöglichkeit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden und Neue Mittelschüler/innen sollen ungehinderter zu gewünschten Schulformen ab der 9. Schulstufe gelangen können. (vgl. bmbwf.gv.at 2019a, o.S.)

Im März 2015 zeigte der erste Evaluationsbericht (vgl. bifie 2015, 463ff.), dass positive Effekte etwa in der pädagogischen Prozessgestaltung und im sozialen Umgang miteinander verzeichnet werden. Die Ziele der Chancengleichheit8 wurden im Allgemeinen jedoch nicht erreicht, und ein Erklärungsansatz ist deutlich herauszustreichen:

„Die fehlende Zielerreichung hängt auch damit zusammen, dass die NMS nicht als Ersatz, sondern in Konkurrenz zu etablierten Schulformen eingeführt und – wie sich zeigt – sozial selektiv ausgewählt wurde.“ (ebd., 463)

Der ursprünglich angestrebte Kernpunkt der Reform von 2005 (s. o.) war die Einführung einer Gesamtschule, welche initiativ von der SPÖ angeregt wurde, als Ergebnis jedoch wurde ein „differenziertes Schulsystem“ verfassungsgesetzlich verankert. Zusammenfassend kann man festhalten, dass keine Gesamtschule (welche

8 Chancengleichheit bzw. die Erhöhung der Chancengleichheit wäre u. a. dann gegeben, wenn der Abstand von der besten zur schlechtesten Schulleistung lediglich in geringem Maße von der ökonomischen, sozialen und kulturellen Lage des Elternhauses abhängt (vgl. bifie 2015, 27)

die AHS9-Unterstufe und Hauptschule vereint) entstanden ist, sondern die Hauptschule in eine Neue Mittelschule umgewandelt wurde und die AHS-Unterstufe im Wesentlichen davon unberührt blieb.

Im Evaluationsbericht (s. o.) geht weiters hervor, dass die AHS-Unterstufe sowie die NMS aufgrund der „sozialen Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler“ (S. 457) wegen der unterschiedlichen Bildung und beruflichen Position der Eltern und deren teilweise bildungssprachlichen Alltagssprache nicht vergleichbar seien. Auch die Hoffnung, die NMS einer Gesamtschule anzunähern, ist nicht eingetreten:

„[D]ie meisten österreichischen NMS [sind] nicht in der Lage, Kinder aus dem oberen Bereich des Begabungssprektrums in diese neue Lernkultur einzubeziehen. Es fehlt ihnen der Großteil der leistungsfähigeren Mittel- und Oberschichtkinder, die

`Schrittmacher`, die auf die AHS ausweichen; es fehlen ihnen die ambitionierten, höher gebildeten Eltern dieser Kinder, an deren Aspirationen sich das `Leistungs-Ethos` von Neuen Mittelschulen zu orientieren hätte, und es fehlt ihnen ein angemessener, `fairer` Anteil von universitär ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern (…).“ (ebd., S. 61f.)

Die ÖVP hält auch weiterhin am differenzierten Schulsystem in der Sekundarstufe I fest, wie der parteifreie Bildungsminister Heinz Faßmann im März 2019 mitteilte. Er betonte, der „Differenzierungsanspruch der Eltern“ würde unterschätzt werden und im Fall der flächendeckenden Einführung einer Gesamtschule sei er sich sicher, dass als Folge Privatschulen als Alternative eingeführt würden. (vgl. derstandard 2019, o.S.) Das genau ist es, was beispielsweise Bourdieu und Champagne (1997, 529) am Bildungswesen, das soziale Ungleichheit reproduziert, kritisieren: man verschaffe ökonomisch und kulturell benachteiligten Kindern deshalb keinen Zugang zu den höheren Schulsystem-Ebenen verschaffen, weil dann gleichzeitig der ökonomische und symbolische Wert der Zeugnisse verändert werden müsste, da die Titelinhaber ansonsten einem Risiko ausgesetzt werden würden.

Wohl unbestritten ist, dass in der Sekundarstufe I das Gymnasium einen besseren Ruf innehat und die nicht-gymnasialen Schulformen auch in diesen oder zumindest in die Nähe der positiv bewerteten Reputation kommen wollen. Das Leistungsniveau der AHS-Unterstufe ist ebenfalls in der NMS (in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch wird dieses Leistungsniveau in der NMS mit „Standard-AHS“ benannt)

9 AHS ist die Abkürzung für Allgemeinbildende höhere Schule

gewährleistet. Aus welchem Grund ist es erstrebenswerter, ein Gymnasium anstelle einer NMS zu besuchen?

An dieser Stelle ist es sinnvoll, einen Blick in die mit Engagement betriebene Forschung über Bildungswegentscheidungen zu werfen.

Unter dem Schlagwort „Ungleichheit im Bildungssystem“ werden Bildungsweg-entscheidungen analysiert. Dabei wird betont, dass bereits die Wahl der Schulform der Sekundarstufe I (AHS oder NMS) die Weichenstellung für das spätere Berufsleben maßgeblich beeinflusst, da im Allgemeinen mit der AHS weiterführende Schulen und mit der NMS die berufliche Ausbildung im zukünftigen Fokus der Jugendlichen stehen werden. In der AHS sind Kinder mit höherem sozioökonomischem Status vertreten, welcher über den Berufsstand der Eltern, das elterliche Einkommen, das familiäre Netzwerk, elterliche Bildungstitel und sonstigem Besitz von kulturellem Kapital definiert wird (vgl. Kesselring & Leitner 2007, 94-98). Jährlich wird darüber informiert und kritisch darauf hingewiesen, dass Bildung auch heute noch überwiegend vererbt wird, und auch die Wahl des Schulweges vom sozioökonomischen Hintergrund der Eltern maßgeblich abhängig ist. (vgl. ebd., 94). Die Analysen beziehen sich vielfach auf die höchsten Bildungsabschlüsse, berücksichtigen auch sozioökonomische Faktoren und belegen durchwegs, dass „für Kinder, deren Eltern einen niedrigen formalen Bildungsabschluss haben, (…) es vergleichsweise schwierig [ist], einen Bildungsabschluss einer höheren Schule oder einer Universität zu erreichen.“ (vgl.

Statistik Austria 2017, 100)

Um diesen bildungsbenachteiligten Kindern mehr Chancen zu geben, eine höhere Schulbildung zu ermöglichen, wurde beispielsweise in einer Schulreform die NMS umgesetzt. Die NMS soll sowohl auf weiterführende Schulen als auch auf das Berufsleben vorbereiten. Es ist hinreichend analysiert, dass Schulwegentscheidungen sehr einflussreich auf zukünftige Bildungschancen und Berufskarrieren einer Person sind (vgl. NBB 2018a, 142).

Diese Analysen haben zum Ergebnis, dass je höher die formale Bildung ist, umso eher diese auch angestrebt wird. Dies impliziert, dass beispielsweise gegen eine Lehrlingsausbildung entschieden werden sollte, wenn man die Wahl zwischen dieser und einer weiterführenden Schule hätte. Langfristig würde dies bedeuten, und die Tendenz bestätigt dies, dass Lehrlingsausbildungen kontinuierlich abnehmen und

andere formale Bildungsabschlüsse zunehmen. Jede/r möchte sich schließlich zu jenen zählen dürfen, die einen „hohen sozioökonomischen Status“ haben, worunter auch maßgeblich formale Bildungsabschlüsse zu zählen sind. Die Signalwirkung dieser Analysen suggeriert, dass weiterführende Schultypen und idealerweise ein Studium angestrebt werden sollen und vergleicht in diese Richtung, wie viele Arbeiterkinder an einer Universität inskribieren und abschließen.

Die Publikation von Forschungsergebnissen und deren mediale Verbreitung enthalten immer auch eine Bewertung, obgleich sie lediglich etwas analysieren oder feststellen, d.h. den Objektivitätsanspruch erfüllen. Doch Objektivität ist nicht gleichzusetzen mit Wertneutralität (vgl. Blaikie 2007, 42ff, Sahmel 1988.).

Wolf (2015, 352f.) zeigt auf, dass anerkennungstheoretische Problematiken dabei außer Acht gelassen werden und weist auf die tendenzielle Parteilichkeit der aktuellen Bildungswissenschaften hin:

„Für die Bildungsforschung selbst könnte damit die Chance verbunden sein, über den Umweg des Forschungsgegenstands zur Selbstreflexion bezüglich eigener Normativitätsprobleme zu gelangen.“ (ebd., 352)

So besteht beispielsweise eine Forschungslücke hinsichtlich der Frage, wie viele Kinder von Eltern mit Universitätsabschluss in einer Lehrlingsausbildung sind. Diese Forschung würde ebenfalls objektiv, aber nicht wertneutral sein, da hier ebenfalls wie bei der aktuellen Bildungswegforschung suggeriert werden würde, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Kinder einen anderen Bildungsweg einschlagen wie deren Eltern.

Die Soziologen Grundmann et al. (2004) haben den üblichen Zugang der Bildungs- und Ungleichheitsforschung über die bloße familiäre Dimension um weitere Bereiche erweitert. Sie untersuchten, inwiefern schulische Anforderungen und die Lebenswelt, in welcher Schulkinder sich sonst befinden, einander entsprechen. Die These, dass Bildungsprozesse von „bildungsfernen“ Milieus abgewertet werden, kann lt. den Forschern großteils bestätigt werden. Im schulischen Kontext wird dabei vorausgesetzt und dies wird insbesondere als Hauptproblem angesehen, dass in der Schule (abstraktes) vermitteltes Wissen losgelöst von praktischen Erfahrungs-zusammenhängen angeeignet werden könne. Es werde erwartet, dass dieses Wissen als wichtig angesehen werde und deshalb jede/r motiviert sei, dieses für das spätere Arbeitsleben sich anzueignen. Lebensweltliche versus schulische Bildungsprozesse

seien für Kinder aus sozio-ökonomisch bevorteilten Milieus besser zu vereinbaren als für Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Milieus10 und daher seien erstere in der Schule im Vorteil. Milieugrenzen würden generell durch stabile kulturelle Orientierungen aufrechterhalten und von Generation zu Generation reproduziert. Um zu mehr sozialer Gleichheit gelangen zu können, ist es lt. Grundmann et al. notwendig, nicht nur aus Perspektive der institutionalisierten Bildung und ihrer Normen zu urteilen, sondern die Reproduktionslogik aller (nicht nur der bildungsnahen) Milieus zu verstehen.

Das Schul- und Unterrichtssystem orientiert sich an den wirkmächtigen Idealen und vermittelt eine bestimmte gesellschaftliche Kulturform, nämlich die bürgerliche (und nicht etwa die der Arbeiter). Eine Konsequenz daraus ist, dass SchülerInnen, die innerhalb eines bürgerlich orientierten sozialen Umfeldes aufgewachsen sind, im Vorteil sind, weil das schulische Regelsystem relativ vertraut ist. Wenn SchülerInnen bezüglich dessen hingegen im Nachteil sind, müssen sie die Wertorientierungen der Schule, welche der Postbeamten-Sohn und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu (1930-2002) als „Codes“ bezeichnet, erst von Grund auf erlernen. Er diskutiert weiters, dass in der Schule dieser überwundene Rückstand immer noch unterschiedlich in Form von

„Fleiß“ (mühsam erlerntes Wissen) beurteilt wird, während das bereits familiär erworbene und gleichzeitig schulisch kompatible Wissen zu einer Leichtigkeit führt, dem dagegen das Prädikat „brilliant“ zugestanden wird. Da das Bildungssystem alle SchülerInnen gleich anhand bürgerlicher Wertideale behandeln soll, werden unterschiedliche Voraussetzungen verschleiert. (vgl. Erler 2007, 40)

Erheblichen Einfluss auf den Schulerfolg hat beispielsweise die gesprochene Art der Sprache. Kinder mit der Muttersprache Deutsch können erheblich im Vor- oder Nachteil sein, jenachdem, ob hochsprachlich oder dialektreich im familiären Umfeld gesprochen wird. Der britische Soziologe Basil Bernstein (1924-2000) ging folgender Frage nach:

10 In der aktuellen Diskussion werden diese verschiedenen Milieus öfters mit „bildungsnah“ und

„bildungsfern“ betitelt, wobei eindeutig auf Werte eines „Gebildet-Seins“ bezogen wird, dieses lässt jedoch eine Definition vermissen, was darunter genau verstanden werden kann. Man kann im Allgemeinen davon ausgehen, dass eine „höhere Bildung“ im abstrakten und geistigen Sinne gemeint und gewisse Verhaltenstendenzen damit gemeint sind, zB Bücher lesen anstelle Wirtshaus, ORF III anstelle Sat 1, Klassik anstelle Schlagermusik etc.

„[Wie kann es sein, dass] eine große Anzahl von Kindern normaler Intelligenz, die immer genug zu essen gehabt haben, das Schulsystem durchlaufen und als Versager verlassen[?]“ (vgl. Halliday 1975, 7f.)

An dieser Stelle soll angesprochen werden, dass beispielsweise weder die deutsche

An dieser Stelle soll angesprochen werden, dass beispielsweise weder die deutsche