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4. Legitimation von Bewertungen

4.10. Stellenwert des Erfahrungswissens

Angesichts der nun genannten Entwicklungen scheint Erfahrungswissen gegenüber dem „anderen“ Wissen zunehmend an Bedeutung zu verlieren. Dadurch erhält Erfahrungswissen einen neuen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft.

In den letzten Jahrzehnten sind die Anforderungen an Wissensarbeit infolge Technologisierung, Globalisierung, Digitalisierung und Ökologisierung gestiegen. Um Unsicherheiten in diesen Bereichen besser bewältigen zu können, wird das Qualifikationsniveau von ausgeschriebenen Stellen häufig erhöht. Einhergehend damit finden sich in den jeweiligen Bereichen mehr wissensintensiv Tätige. (vgl. Tiemann 2015, 284f.)

Wissenschaftlich begründetes, systematisches Wissen wird zunehmend als Lösung praktischer Probleme angesehen, und diese Ausweitung wissensintensiver Tätigkeiten bedingt, dass Erfahrungswissen als mehr und mehr unzureichend betrachtet wird. In modernen Gesellschaften (d. s. die Industrieländer, also auch Österreich) hat sich seit den aufkommenden Naturwissenschaften eine Überlegenheit der Wissenschaft gegenüber dem Erfahrungswissen etabliert, und durch die zunehmende Verwissenschaftlichung von gesellschaftlichen Lebensbereichen wird dies kontinuier-lich bestätigt. Die Verwissenschaftkontinuier-lichung wurde zu einem wesentkontinuier-lichen Merkmal industrieller Produktion und wurde als Garant für eine erfolgreiche Gestaltung an Lebensbedingungen angesehen, was für Handwerk und Landwirtschaft im selben Ausmaß nicht gelten konnte. (vgl. Böhle 2015, 56f.)

Durch den Fortschritt kann Erfahrungswissen obsolet werden, dies ist ein wesentlicher – eventuell sogar der wesentlichste – Grund, warum Erfahrungswissen häufig als überholt angesehen wird. Es ist Tatsache, einzelne Tätigkeitsbereiche innerhalb existierender Berufsfelder bzw. ganze Berufe aussterben. Die Bedeutung von Anteilen im Erfahrungswissen von Fachkräften kann sich relativieren. Paulinyi & Troitzsch (1991, 388) führen dazu das historische Beispiel über die Eisen- und Stahlgewinnung mittels des Puddling-Verfahrens an:

„Das Wissen der Hüttenleute war Erfahrungswissen, das über Jahrhunderte hinweg gesammelt und von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Von chemischen Formeln wußten sie nichts, aber sie konnten aufgrund von Farbe und Konsistenz die Qualität der in ihrer Region vorkommenden Erze beurteilen, aufgrund der Färbung der Flamme (…) den Vorgang im Hochofen (…) einschätzen, (…) beim ersten Hammerschlag die Qualität des Eisens feststellen und aus dem Ergebnis auf Fehlerquellen Rückschlüsse ziehen“.

Mit dem Verfahren von Henry Bessemer wurde jedoch diese Puddling-Methode revolutioniert, indem Sauerstoff direkt in den Hochofen ohne menschliches Zutun geleitet werden konnte und durch Mechanisierung und Maschinisierung wurden viele manuellen Tätigkeiten obsolet.

Weiters kann nicht alles nur über Erfahrungswissen erlernt werden, so der Berufspädagoge Martin Fischer (2015, 132f.). Er verweist u.a. auf die Elektrizität und medizinische Aspekte, welche der Erfahrung nicht zugänglich, aber gleichzeitig für berufliches Handeln von großer Wichtigkeit sind.

Entscheidend ist jedoch, so Fischer (vgl. ebd.), und dies spricht für die Notwendigkeit und Wichtigkeit des Erfahrungslernens, dass für die Handlung benötigtes Wissen nichts Geringeres als Erfahrungswissen Voraussetzung dafür ist, und zwar in Bezug auf Facharbeit und Zusammenarbeit. Im Gegensatz zum abstrakten Wissen kann die Erfahrung auf Echtheit zurückgreifen, und diese gewährleistet, dass die gesamte Erscheinungsvielfalt aufgenommen und verarbeitet werden kann. Dieses geht über etwas rein Theoretisches hinaus und wird mit der praktischen Beherrschung bereichert. Phänomene des Konkreten müssen berücksichtigt werden, und dies gelingt nur durch das Selbst-Machen von Erfahrung, da allgemeine Regeln und Bedeutungen beim Handeln zu kurz greifen würden. Beim Autofahren bspw. müsse man auch das Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer betrachten, beim Maschinen führen seien auch die Qualität vom Werkzeug und das Material an der Werkzeugmaschine zu berücksichtigen und beim Unterrichten sei das Verhalten von Kindern nicht zu ignorieren. Der Autor betont darüber hinaus noch folgendes:

„Was ich zeigen möchte: Es ist zu sehr Schwarz-Weiß-Denken, Erfahrung nur als subjektiv und wissenschaftliches Wissen nur als objektiv darzustellen. Das gilt auch für die entsprechenden Aneignungsprozesse.“ (Fischer 2015, 134)

Fischer (ebd.) macht weiters auf die gesellschaftlich-kulturelle Dimension von Erfahrungen aufmerksam, bei der die Sprache eine große Rolle spielt. Im Gegensatz zu Wüsten oder Eiswelten bewohnende Menschen haben Menschen aus

Industrie-nationen keinen so reichen Wortschatz etwa in Bezug auf Braun- und Beige-Töne bzw.

Eis und Schnee, was aber andernorts vermutlich eine Notwendigkeit darstellt. Deshalb passt sich der Wortschatz in einer modernen Gesellschaft an die bestehenden, artifiziell geschaffenen Lebens- und Arbeitsbedingungen an. Durch eine mediale und sprachliche Vermittlung erhält Erfahrungslernen eine gesellschaftliche Komponente.

Menschen werden verschiedene explizite oder implizite Erfahrungsräume im Zusammenhang mit der Ausbildung oder des Berufes zugewiesen. Dabei macht es in unserer Gesellschaft einen großen Unterschied, ob jemandem im Rahmen seiner Ausbildung der Erfahrungsraum „Betrieb“ oder „(Hoch-)Schule“ zugewiesen wird.

Fischer (ebd., 135) weist zudem darauf hin, dass Erfahrungslernen immer im Kontext mit den jeweiligen Charakteristika in den bereitgestellten Erfahrungsräumen gesehen werden muss, da die dort geltenden Regeln für Aneignungsprozesse und der dort ausgebildete Habitus ein gesellschaftlich verallgemeinerndes Element aufweisen.

Michael Tiemann vom Bundesinstitut für Berufsbildung (2015, 281ff.) zeigt ebenso auf, dass es sich bei Wissen, in welcher Form auch immer, um eine soziale Konstruktion handelt. Den unterschiedlichen Wissenssystemen ist gemein, dass sie jeweils Rechtfertigungen und Begründungen liefern können, das die Wahrheit einer Annahme bestätigt. Annahmen werden innerhalb eines sozialen Zusammenhangs interpretiert und dann mitunter für wahr gehalten. Was für wahr gehalten wird, ist abhängig von den Bezugspunkten zur Umwelt und von der Strukturierung sozialer Interaktionen.

Übertragen auf Mitglieder von Berufsgruppen gibt es hierfür jeweils eine eigene Sozialisation, und Interaktionen sind spezifisch strukturiert. Daher können Berufe aufgrund ihrer verschiedenen Inhalte auch abgegrenzt werden, da unterschiedliche Inhalte unterschiedliche Anforderungen bedingen. Somit setzt jeder Beruf ein spezifisches Wissen voraus, und insbesondere Berufe, welche auf der Lehrlingsausbildung gründen, sollten in Bezug auf Wissen nicht unterschätzt werden:

„Bei einer Untersuchung der Wissensanforderungen in Berufen sollte man also auch die nicht-akademischen Berufe berücksichtigen, da auch hier mit Wissen gearbeitet wird.“ (Tiemann 2015, 284)

Dieses Zitat drückt deutlich aus, dass insbesondere in nicht-akademischen Bereichen, wenn überhaupt, von geringen Wissensanforderungen ausgegangen wird, u.a. da Erfahrungswissen offensichtlich als ein geringeres Wissen angesehen wird. Daneben

geht man davon aus, sicher zu Recht, dass vor allem in akademischen Berufen permanent neues Wissen geschaffen wird bzw. treffender formuliert geschaffen werden muss. Hierzu wäre weiters sinnvoll, die Qualitätsgüte dieses neu geschaffenen Wissens regelmäßig zu verifizieren75.

Vor allem durch die Einführung neuer Technologien nimmt der Routineanteil ab und die Wissensarbeit zu. Maschinen verdrängen einerseits bisher manuell gemachte Tätigkeiten, gleichzeitig fördern sie Arbeiten mit weniger Routineinhalten. Das Qualifikationsniveau und der Grad der Wissensintensität der Tätigkeit wirken sich in der Entlohnung in der Weise aus, dass je höher diese sind, desto höher auch die Entlohnung ist. Umgekehrt führt es zu niedrigeren Löhnen, je höher die Routineinhalte bei einer Tätigkeit sind. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass die Entlohnung vom Grad der Wissensanforderung abhängig ist. Da eine hohe Entlohnung attraktiver erscheint als eine niedrigere, schlägt man in der Regel diesen Weg ein, der auch als

„meritokratische Triade“ bekannt ist: Eine hohe individuelle Investition in Bildung führt zu höheren Qualifikationen, und diese sind Voraussetzung für eine höhere berufliche Position und damit zu besserem Entgelt. Außerdem führen hohe berufliche Quali-fikationen zu mehr Weiterbildungsteilnahmen als niedrige berufliche QualiQuali-fikationen.

Ein wissensintensiver Beruf geht mit höheren formalen Qualifikationen einher, und diese Arbeitsplätze sind durch ein entsprechendes formales Anforderungsniveau geprägt. Es wird davon ausgegangen, dass dieses der geforderten Qualifikation entspricht. Es bedürfe empirischer Untersuchungen, ob es auch möglich wäre, dass man auch ohne entsprechenden formalen Nachweis für eine solche Tätigkeit ausreichend qualifiziert sein könnte. Denn letztlich bedingt jede Art von Erwerbs-tätigkeit Wissensanforderungen, unabhängig vom formalen Qualifikationsniveau. (vgl.

Tiemann 2015, 286f.)

Geringe Qualifikationen führen zu beschränkten Möglichkeiten der Lebensführung infolge niedrigerer Entlohnung, da geringe Qualifikationen mit Bildungsarmut verbunden und dies folglich als ein Mangel an Fähigkeiten ausgelegt wird. Die Definition der relativen Zertifikatsarmut hat systemische Relevanz, es handelt sich

75 Gravierende historische Entwicklungen, bei welcher die Überprüfung dieses Wissens gleich nach deren Schaffung notwendig gewesen wäre, um viel Unheil zu vermeiden, sind bspw. im 19. und 20. Jh.

der Degenerationsgedanke, der in Rassentheorien fortgeführt wurde und als Wissenschaft bezeichnet wurde.

dabei um „geringwertigere“ Bildungszertifikate im Gegensatz zu „höheren“. Dabei wird häufig von einem normativen Bildungsimperativ ausgegangen, dem soziale Anerkennungsprozesse folgen. Bildung wird dabei mit Moral verbunden, und zertifizierte Bildung wird mit gelingender Inklusion gleichgesetzt. Wer sich am Bildungsimperativ hingegen nicht orientieren will, verletzt eine Norm und gilt als

„geringqualifiziert“. (vgl. Wolf 2015, 340f.)

Der Soziologe Ulrich Beck (1986, 246) hebt hervor, dass die sogenannten Geringqualifizierten als „ein neuartiges, von der Bildungsgesellschaft produziertes, paradoxes `Quasi-Analphabetentum´“ von oben herab beäugt werden und permanent mit kategorialen Beobachtungsschemata konfrontiert sind. Damit spricht der Soziologe die zentrale Problematik der funktionalen Distributionslogik institutionalisierter Bildungszertifikate an.

Bezogen auf diese Legitimation sozialer Ungleichheit betrachtet der Bildungssoziologe Eike Wolf (2015, 341) weiters die Forschung zur Chancengleichheit kritisch, u.a. weil analytische und normativ orientierte Gegebenheiten vermischt werden:

„Aus gesellschaftlicher Perspektive wird damit die elementare Frage der Legitimation sozialer Ungleichheit in ihrem Gehalt gewendet und eben nicht als ein Problem der Distribution und Allokation begrenzter Ressourcen interpretiert.

Vielmehr geht es um subjektive Legitimationen defizitärer gesellschaftlicher Inklusion, die in Formulierungen wie beispielsweise ´Bildungsverlierer´,

´Schulversager´ oder ´Leistungsverweigerer´ ihren sinnfälligen Ausdruck findet.“

(Wolf 2015, 341)

Diese normative Aufladung führt neben den vorigen und nachfolgenden Gesichtspunkten mitunter dazu, dass man keine Lehrlingsausbildung absolvieren möchte, da jemand in bildungspolitischer und -theoretischer Hinsicht eher zu den Verlierern zählt als mit einem höheren Abschluss. Dies führt neben anderen Aspekten zu der Entwicklung eines Fachkräftemangels und allgemeiner zu einer Nichtüberein-stimmung von erlernten vs. benötigten Qualifikationen, was in der neueren Literatur als „Mismatch“-Problem bezeichnet wird (vgl. Mayerl 2017). Lassnigg (2015, 404) führt als eine Ursache dafür das Vorhandensein eines Bias76 zugunsten der Hochschulen an.

Das Strukturproblem „sich bilden“ steht in wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Bildung einerseits und der sozialen Anerkennung andererseits. Bildung wird mit

76 im Sinne einer Verzerrung bzw. eines systematischen Fehlers

Leistung gleichgesetzt, welche eine normative Grundlage dieser Anerkennungs-konzeption darstellt. Anerkennung wird gemäß dem Meritokratie-Prinzip verteilt und denjenigen wird Anerkennung verwehrt, welche durch dieses Prinzip diskriminiert werden. Geringqualifizierte werden durch fehlende Anerkennung entwürdigt. (vgl.

Wolf 2015, 342)

Fachkräfte können auf einen Wissensschatz zurückgreifen. Da es sich bei diesem häufig u. a. um langjähriges Erfahrungswissen handelt und diesem (v. a. wegen der technischen Entwicklungen, die Erfahrungswissen obsolet machen können) zunehmend eine Legitimation abgesprochen wird, ist es nicht verwunderlich, dass dieses permanent entwertet wird. Hingegen neu geschaffenes Wissen, unabhängig von der Qualität, wird unhinterfragt normativ höher bewertet. Das Bildungssystem mit den hierarchischen Stufen wird zu einem Problem, welches sich in fehlender Anerkennung ausdrückt.

Böhle (2015, 54f.) betont, dass Erfahrungswissen sich per se nicht als obsolet erweist, sondern wird zu einem eigenständigen Wissen, das über Routinen und den Erfahrungsschatz hinausgeht, und entsprechend anerkannt gehörte.