• Keine Ergebnisse gefunden

4. Legitimation von Bewertungen

4.5. Ungleichheit aus politischer Perspektive

Die eigene Positionierung im sozialen Raum gibt auch Aufschluss über das tendenzielle Wahlverhalten. Jemand wählt eine Partei, von der man sich in seinen persönlichen Werten, Einstellungen und Haltungen am besten vertreten fühlt. Spätestens seit diesem Jahrhundert zeigen sich Arbeiter/innen und Landbewohner/innen nicht mehr in so starkem Ausmaß wie früher verbunden zur SPÖ, welche früher die Partei für diese Gruppen war.

Der österreichische Bildungsforscher Erich Ribolits (2007, 27ff.) hält fest, dass sich in der Sozialdemokratie Anfang des 20. Jahrhunderts die Forderung etablierte, das Erreichen privilegierter Positionen für alle, nicht nur für die Bessergestellten, möglich zu machen64. So wurde auf Bildung als Aufstiegsvehikel gesetzt, jedoch wurde am bestehenden Gesellschaftsbild festgehalten, welches auf Konkurrenz und ungleicher Machtverteilung basiert. Daraus folgte, dass eben durch diese Chancengleichheit beim Bildungszugang die Forderung nach einer Gesellschaft, die auf Gleichheit beruht, letztlich außer Kraft gesetzt wurde. Die ungleiche Startposition wurde für alle gleich gemacht, da diese nun für alle hinter der gleichen Linie startet, indem das Bildungsproblem nun individuell lösbar sein sollte, aber

„[d]as Windhundrennen selbst – das, was euphemistisch als ´Wettbewerb´ und etwas realistischer als ´Konkurrenzkampf´ bezeichnet wird – ist allerdings kaum jemals Thema der Kritik, gefordert werden bloß gleiche Chancen, sich zum Objekt der Verwertung machen zu können.“ (Ribolits 2007, 32)

Gleichzeitig wurde damit die Sichtweise von Bildung in der Sozialdemokratie wesentlich und nachhaltig verändert. Der sogenannte „soziale Aufstieg“ durch Bildung wurde zunehmend propagiert, und die ursprüngliche Absicht der Chancengleichheit wurde in ihr Gegenteil verkehrt, da der „soziale Aufstieg“ wohl die Klassengesellschaft

64 Ursprünglich wurde das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft verfolgt und es wurde die Entscheidung zugunsten der Reform (Aufstieg durch Bildung) statt der Revolution gewählt, gemäß der Parole „Bildung für alle statt Revolution“. (ebd., 32f.)

untermauert und legitimiert. Diese Fokusveränderung sollte sich auch in den Wählergruppen bemerkbar machen. (vgl. ebd. 34)

Ein Blick zurück und man stellt fest, dass ein Fundament der Sozialdemokratie die

„Arbeiterbildungsvereine“ waren, welche zum Ziel hatten, ihren Mitgliedern Mut durch Wissen zu vermitteln, sodass sie selbstbewusst – auch durch politisch erlangte Macht – in die Geschichte eingreifen und zur sozialegalitären Gesellschaft beitrügen konnten. Bürgerlich-liberale Kreise hatten dagegen keinen Einwand, da die Ansicht bestand, mögliche Revolutionen durch die Bildungsteilhabe der Arbeiter/innen abschwächen zu können. Arbeiterbildungsvereine sollten eine Hilfestellung sein, dass die Besitzloseren in der Gesellschaft Wissen in Bildung im Sinne von Selbstbewusstsein ummünzen konnten. Unter dieser Voraussetzung würde es möglich sein, dass die Kinder der Arbeiter/innen es später besser haben. (vgl. ebd.)

Das Setzen auf „Bildung für alle“ konnte auch deshalb nicht zu einer Chancengleichheit beim Bildungszugang beitragen, da ein lediglich barrierefreier Zugang zu einer bürgerlichen Bildung zur Folge hatte, dass die bürgerliche Leistungs- und Aufstiegsideologie unhinterfragt übernommen wurde. So wurde die bürgerliche Bildung, die bisher nur den oberen und mittleren Schichten vorbehalten war, ausgedehnt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Bildungskonzept blieb aus (vgl. ebd.), und deshalb muss die Frage an dieser Stelle unbeantwortet bleiben, welche Potentiale auf sozialdemokratischer Basis zugeschnittene Bildungsvorstellungen freisetzen könnten.

In den 1960er und 70er Jahren wurden materielle Bildungsbarrieren reduziert, und die daraus resultierende Expansion des Bildungssektors lässt von da an auch benachteiligte Schichten öfter weiterführende Schulen besuchen. Parallel dazu sind die Bildungsteilnahme und das -niveau auch bei den sozial begünstigten Schichten angestiegen. Dies führt zu dem Ergebnis, dass eine privilegierte soziale Herkunft die relativen Vorteile seit jeher weiterhin ungehindert auskosten kann. Das Ansteigen vom durchschnittlichen Bildungsniveau führt letztlich nur zu einer geringfügigen Veränderung bei gesellschaftlichen Positionen. (vgl. ebd., 36f.)

Diese These untermauert der deutsche Soziologe Michael Hartmann (2002) in seiner Studie „Der Mythos von den Leistungseliten“. Er führte Untersuchungen zu Biografien von ca. 6.500 Doktoren aus vier Jahrgängen durch und kam zu dem Schluss, dass ein

Arbeitersohn nicht die gleichen Berufschancen hat wie ein Kind aus einer bürgerlichen Familie:

„Wenn man promoviert hat und als Arbeiterkind und als Kind eines leitenden Angestellten zur selben Zeit studiert hat, an derselben Uni, dasselbe Fach, mit derselben Geschwindigkeit, mit genauso vielen Auslandssemestern, mit allem was sonst noch an Variablen zu berücksichtigen wäre, dann hat das Kind eines leitenden Angestellten eine zehnmal so hohe Chance, in die erste Führungsebene eines deutschen Unternehmens zu kommen als das Kind eines Arbeiters.“

(Hartmann 2004, o.S.)

So spielt nicht nur der formale Bildungsgrad und die fachlichen Qualifikationen eine entscheidende Rolle, um zu hohen beruflichen Positionen zu gelangen, sondern auch das „Vitamin B“ (in Bourdieus Worten gesprochen das soziale Kapital) und weiters wesentlich ist auch der Habitus, den man sich aufgrund der familiären Sozialisation erworben hat (Bourdieu würde hierfür den Begriff des kulturellen Kapitals verwenden).

Diese Selektionsmechanismen im Berufsleben haben auch damit zu tun, dass die bestehende Führungsriege jene Personen inkludiert, die sie besser einschätzen und demzufolge vertrauen kann. Dieser gewünschte Habitus sollte in Chefetagen im Wesentlichen folgende vier Persönlichkeitsmerkmale erfüllen, und so wird dieser reproduziert: Entsprechende Dress- und Benimmcodes zeugen von der Kenntnis (un)geschriebener Regeln und Gesetze, eine breite Allgemeinbildung trägt zum Blick über den Tellerrand bei, eine unternehmerische Einstellung und persönliche Souveränität als wichtigstes Element. Diese Charakteristika werden meist vom Milieu, in dem man aufgewachsen ist, vermittelt und können nicht durch fachliche persönliche Leistung erworben werden. Wenn jemand nicht über das gleiche Auftreten, Erscheinungsbild, Verhalten oder den gleichen Wortschatz oder die gleichen Hobbys und kulturellen Interessen verfügt, wird es schwierig, in diesen Kreisen akzeptiert zu werden – auch wenn man auf fachliche Qualifikationen bestmöglich zurückgreifen könnte. (vgl. Hartmann 2007, 196f.)

Das eigentliche Problem hinsichtlich einer ungleichen Gesellschaft stellen die Konkurrenz- und Marktmechanismen dar, denn so wird sie erst geschaffen. Reiche Länder mit hohem Lebensstandard bzw. Industrienationen (wozu Österreich zählt) bauen auf solchen sozial ungleichen Lebenslagen und -chancen auf. Logischerweise werden die Gewinner immer versuchen, den Vorteil zu behalten und wenn möglich weiter auszubauen. Als Konsequenz würden Eltern, die zur Verliererseite gehörten,

Benachteiligungen gezwungenermaßen vererben. Der amerikanische Soziologe Christopher Jencks (1973, zit. n. Ribolits 2007, 41) geht davon aus, dass wenn „eine Gesellschaft die Bindung zwischen Eltern und Kindern nicht vollständig abschafft, garantiert die Ungleichheit der Eltern […] die Chancenungleichheit der Kinder.“ (ebd.) Daraus folgt, dass nur der Ausschluss der Eltern eine vollkommen gerechte Zuweisungsinstanz an Positionen brächte und so die Kinder tatsächlich gleichartig aufgezogen werden könnten – doch dies wäre dann keine humane Gesellschaft mehr.

Die Reproduktion der Chancenungleichheit, welche als erstes in der Schule zu spüren ist, kann aufgrund der ungleichen Voraussetzungen, die jedes Kind aufgrund der familiären Sozialisation entwickelt hat, in diesem österreichischen Schulsystem nicht gekittet werden. Jencks (vgl. ebd.) betrachtet das Unterfangen deshalb als absurd, soziale Gleichheit basierend auf Bildungsreformen herstellen zu wollen, da man sich innerhalb einer Konkurrenzgesellschaft befindet. Er schlägt vor, nicht Bildungspolitik zu betreiben, da benachteiligte Kinder immer benachteiligt bleiben würden, wenn alle Kinder die qualitativ gleiche Bildung bekämen. Die bevorteilten Kinder hätten seit jeher einen Startvorteil und behielten diesen unter diesen Umständen auch weiter fort.

Deshalb wäre das Einführen einer Verteilungspolitik zweckmäßiger.

Der Wert eines Menschen hängt nicht davon ab, was er leistet. Jeder Mensch ist gleich wertvoll. Auf dieser Grundlage beruht u. a. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

Menschen sind in ihren Leistungsdimensionen verschieden und diese individuellen Unterschiede zeichnen eine lebendige soziale Gemeinschaft aus. Ribolits (ebd., 42f.) weist darauf hin, dass nicht die individuelle menschliche Verschiedenheit das Problem ist, sondern das Vergleichen und die Bewertung dieser. Wer dadurch Nutznießer und Verlierer wird, würde jedoch von keiner Seite, welche für Chancengleichheit appelliert, jemals beantwortet. Der Forscher betont weiters, dass mit dem bloßen Fordern von Chancengleichheit zugleich das Akzeptieren der sozialen Hierarchie der bürgerlichen Gesellschaft einhergeht. Damit hätte man sich folglich von der Vorstellung, dass man allen Menschen gleiche Lebenschancen bietet, verabschiedet. Außerdem bedeute die Forderung nach Chancengleichheit auch automatisch das Zulassen vom fortwährenden Herrschen von Ungleichheit:

„Sozialen Aufstieg kann es nur dort geben, wo eine soziale Hierarchie existiert und nicht alle aufsteigen können; (…) Die Forderung nach Chancengleichheit ist also ein Indikator nicht nur dafür, dass es Ungleichheit gibt, sondern auch ein Indikator dafür, dass es Ungleichheit geben soll.“ (Ribolits., 42f.)

Die Folge dieser Demokratisierung sei, dass das Bildungssystem zwar als Verteilungsagentur für jede/n mit entsprechendem Leistungsnachweis potentielle Chancen einräumte, jedoch schafften es nur wenige bis in die obersten Führungsetagen in dieser hierarchisch aufgebauten Gesellschaft. Hinzu komme der widersprüchliche Effekt, dass Bildungsnachweise zunehmend entwertet würden und jene, die keine entsprechende formale Bildung haben, hätten so gut wie keine Chance, eine akzeptable gesellschaftliche Position zu erreichen. Es gleiche einem Zirkelschluss, denn durch die Verringerung von Bildungsbarrieren – welche die Forderung nach Chancengleichheit bewirkt hat – wird das Konkurrieren um die verhältnismäßig gleichbleibenden Privilegien immer größer, und die/der Einzelne kann zunehmend weniger davon lukrieren. Dies bewirke nicht selten einen erneuten Ruf nach Chancengleichheit. Mit diesem werde zwar generell ein Fordern nach Gerechtigkeit suggeriert und genau dies verhindere ein Hinterfragen, ob dies tatsächlich so sei. Ein Überwinden der Ungleichheit würde damit unmöglich, denn die Forderung nach Chancengleichheit impliziere das Hinnehmen der gesellschaftlichen Ungleichheit als naturgegebene Sache. (vgl. ebd.)

Nun ist die Frage noch nicht beantwortet, wie man andere gesellschaftliche Verhältnisse herbeiführen könnte, bei denen der Vergleich oder die Bewertung von

„sozialen Positionen“, wobei die Art der Erwerbsarbeit letztlich eine Rolle spielt (und die Ausbildung zuvor ist Grundlage dafür) einmal hinterfragt werden könnte. Der Soziologe Michael Hartmann hat in einem Interview folgende kryptische Worte als Lösungsvorschlag herangezogen: „Um dem Adel die Machtposition zu entreißen, musste auch das Bürgertum erst die Französische Revolution machen.“ (Hartmann 2004, o.S.)

Die Sozialdemokratie machte also das bürgerliche Bildungsideal für alle zum Maßstab, was mit einer Huldigung von formaler Bildung zum Ausdruck kam. Seitdem wurde die wichtige Stellung von Schulen und Universitäten vermehrt betont und diese öffentlich durch Medien produziert und verbreitet. Bildungsbarrieren wurden abgebaut, jedoch Sprachbarrieren geschaffen. Letztere stellen durch den ausgefinkelten gegenwärtigen

Wortschatz solche Hindernisse dar, dass es für Menschen mit keinem so voluminösen Wortschatz kaum möglich ist, zu dieser elitären Schicht Zutritt zu gewinnen. Jene, die also nicht mit herausragender formaler Bildung ausgestattet sind, finden nur schwer Anerkennung in diesen intellektuellen Kreisen. Diese Fokussierung auf formale Bildung, die, womöglich gar nicht beabsichtigt, alle anderen Kompetenzen (zB wenn man eine andere Ausbildung in Form der Lehre macht) in den Schatten stellen, führte zwangsläufig zu einer Verschiebung der Wählergruppen.65 Wenn die Arbeit von Arbeiter/innen plötzlich nichts mehr wert ist, da nur formale Bildung überaus hochgeschätzt wird, sucht man logischerweise eine andere Partei, die die eigene relativ geringe formale Bildung nicht abschätzig bewertet – auch wenn der Inhalt des Parteiprogrammes selbst, der soziale Ausgleich, im Interesse von dem-/derjenigen wäre. Und man kann die eine oder andere Partei in Österreich finden, bei welcher man sich angenommen fühlt. Dies sind zentrale Gründe, warum sich erwerbstätige Arbeiter/innen tendenziell nicht mehr der Sozialdemokratie verbunden fühlen, wohl aber vermehrt jüngere Personen, die mitunter diesen „sozialen Aufstieg“ verwirklicht haben (vgl. Huber 2019, 18). Huber nennt einen wesentlichen Grund für den Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand nach formalen Kriterien und dem Wahlverhalten in den unterschiedlichen Erziehungsmodellen. Dies ist einerseits das Modell des „strengen Vaters“ hinsichtlich Unterordnung und Gehorsam und andererseits das der „fürsorglichen Eltern“ hinsichtlich Bestärkung und Förderung des Selbstwertgefühls. Wenn man von einem dieser Erziehungsmodelle geprägt ist, lässt dies zu einem Unverständnis für die jeweils andere Gruppe führen. Diese unterschiedlichen Weltbilder sind auch der Grund, warum Linke und Rechte häufig aneinander vorbeireden. (vgl. ebd.) Man kann allerdings auch beginnen, Brücken zwischen den Welten zu bauen:

„Nur weil wir glauben, oft die besseren Ideen zu haben, sind wir noch nicht die besseren Menschen.“ (Werner Kogler, zit. in kurier.at vom 15.01.2020, jedoch zu einem anderen Thema)

65 Dass es einen Zusammenhang zwischen Bildungsstand (neben anderen Variablen wie Alter und Wohnort) und Wahlverhalten gibt, ist vielfach erforscht und wird bei jeder Wahl über die Medien kommuniziert. Eine bloße inhaltliche Verteidigung der Arbeiter/innen-Interessen in Abwesenheit von gleichzeitig gezeigter Wertschätzung ist zu wenig. So spricht Armin Wolf (2019, 13) das Empfinden des sich kulturell-ausgegrenzt-fühlen aufgrund von akademisierten, urbanen Eliten an. Peter Filzmaier (Interview vom 04.09.2019) bestätigt, dass von 1999 bis 2017 bereits 650.000 Wähler/innen nicht mehr der SPÖ, sondern insbes. einer anderen Partei (d.i. die FPÖ) ihre Stimme gegeben haben.