• Keine Ergebnisse gefunden

Der Zweite Weltkrieg im Lebenslauf von Kriegsveteranen

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Der Zweite Weltkrieg im Lebenslauf von Kriegsveteranen"

Copied!
89
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Nimmerfall Manuela

Der Zweite Weltkrieg

im Lebenslauf von Kriegsveteranen

Bedeutung und Folgen von Kriegserinnerungen im Alter

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts

im Rahmen des Universitätslehrganges Interdisziplinäre Gerontologie

Ao. Univ.-Prof.

in

Dr.

in

phil.

Karin Schmidlechner-Lienhart

Karl-Franzens-Universität Graz und UNI for LIFE

Kematen am Innbach, Dezember 2014

(2)

„Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit und die Verantwortung gegenüber der Zukunft, geben fürs Leben die richtige Haltung.“

(Dietrich Bonhoeffer)

(3)

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inlän- dischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröf- fentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Versi- on.

19. Dezember 2014

(4)

Kriege haben immer mit Zerstörungen, Gewalt, Ängsten, Verlusten, Schmerzen und Tod zu tun. Zum Glück gibt es aber auch Berichte über gelungene Fluchtversuche und Rettungsaktionen, über den Zusammenhalt in der Not oder über unvoreinge- nommene Hilfe von Menschen, die wieder Mut machten zum Weiterleben.

Ich habe mich für das Thema „Der Zweite Weltkrieg im Lebenslauf von Kriegsvetera- nen. Bedeutung und Folgen von Kriegserinnerungen im Alter“, zu einer Zeit ent- schlossen, als zwei Männer, die aufgrund ihres Alters, den Zweiten Weltkrieg aus unterschiedlichen Perspektiven erlebt haben, noch lebten. Mein Schwiegervater, 1922 geboren, wurde bereits mit 17 Jahren zum Kriegsdienst einberufen und war zuletzt bis Ende Jänner 1945 als Soldat in Stalingrad im Einsatz. Und mein Vater, 1933 geboren und daher nicht mehr als Soldat im Kriegseinsatz, trotzdem geprägt von den Gefühlen, die er als „nicht mehr Kind“ und „noch nicht einsatzfähig“ gemacht hat. Weil mich beide Männer an ihren Erinnerungen und somit an ihrem Leben teil- nehmen haben lassen, kann ich in Ansätzen verstehen, warum eine einfache All- tagssituation die Tür in die Vergangenheit öffnen und mitunter zur Belastung werden kann. Mit dieser Masterarbeit möchte ich einen Beitrag zu einem sorgsameren Um- gang in der Arbeit mit alten Menschen und ihren Erinnerungen und Lebenserfahrun- gen leisten.

Mein besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Frau Ao. Univ.-Prof.in Dr.in phil. Karin Maria Schmidlechner-Lienhart. Sowie meiner Familie und meinen Freunden.

(5)

Hintergrund. Die Veteranen des Zweiten Weltkrieges erlebten Situationen, die mit- unter prägend für den gesamten Lebenslauf sein konnten. Die Auseinandersetzung mit traumatischen Erfahrungen ist eine schwierige Aufgabe, zumal es um persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungen geht, die subjektiv zu bewerten sind, aber auch um kollektive Erlebnisse, die eine ganze Generation geprägt haben. Die Erforschung von belastenden Kriegserfahrungen und die Auswirkungen im späteren Lebenslauf haben erst in den letzten Jahren begonnen und sich vorwiegend mit Frauen und Mädchen nach Vergewaltigungstrauma und Kriegserfahrungen beschäftigt. Untersu- chungen über Kriegsveteranen sind erst in der jüngsten Zeit veröffentlicht worden.

Besonders in der professionellen Betreuung von alten Menschen, speziell Männern, fehlt das Bewusstsein über einen Zusammenhang von physischen und psychischen Erkrankungen und einem historisch-biografischen Hintergrund.

Ziel der Arbeit. Es wird ein Überblick über die Erfahrungen von Veteranen des Zwei- ten Weltkrieges der Kohorten 1920 bis 1932 gegeben. Welche physischen und psy- chischen Störungen daraus abzuleiten sind und welchen Einfluss die belastenden Erfahrungen auf die Lebenssituation im Alter haben. Die Ergebnisse sollen verdeutli- chen, dass für die pflegerische Versorgung im Alter in unterschiedlichen Settings das Wissen um den historischen Hintergrund eine Voraussetzung ist.

Methodik. Die Arbeit setzt sich aus einer Literaturanalyse, einer Untersuchung zu traumatischen Lebenserfahrungen und ihren Auswirkungen auf die Pflegebedürftig- keit und einer repräsentative Studie zur Erfassung von Lebensqualität im Alter bei Menschen mit und ohne Vertreibungshintergrund im Zweiten Weltkrieg, auseinander.

Ergebnisse. Die Ergebnisse der Arbeit bestätigen, dass belastende Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges physische und psychische Auswirkungen haben.

Die Erinnerungen bleiben oft über viele Jahre hindurch verborgen und können im Alter aufgrund altersbedingter Veränderungen und im Zusammenhang mit Schlüs- selerlebnissen wieder reaktiviert werden und als belastend erlebt werden.

Schlüsselwörter. Kriegsveteranen, Zweiter Weltkrieg, Trauma, Posttraumatische Belastungsstörungen, Biografie und Biografiearbeit Altenarbeit.

(6)

Background. The Veterans of World War II experinced situations which were forma- tive for the entire life. The confrontation with traumatic experiences is a difficult task, especially when it comes to personal experiences and perceptions that are subjective to assess, but also collective experiences that have shaped an entire generation. The study of stressful experiences of war and the impact in the later resume have just begun in recent years and is mainly concernded with the implications for women and girls after rape trauma and war experienses. Studies about veterans have been published so far. Especially in the field of professional care for the elderly, in particu- lar men, a lack of awareness about a connection between physical and mental illness and a historical-biographical background is evident.

Objectives. An overview about the experiences of veterans of World War II, namely the cohorts 1920-1932, is given. What physical and mental disorders are derived from these and the influence of the stressful experiences on the later lives. The result will show that the knowledge of the historical background is a prerequisite for indivi- dual and diverse care provision for the elderly.

Methodology. The thesis consists of a literature analysis, an investigation to trauma- tic life experienses and their impact on care and a representative study for the detec- tion of quality in life of the aged regarding people with and without explusion back- ground in World War II. Contemporary witness report found in the literature and quo- tes from affected writers support the results of the analysis.

Results. The results of the literature study approve the presumption that stressful experiences during the World War II have physical and psychological effects for the veterans. The memories often remain hidden for many years but can be reactivated again due to age-related changes and in the context of key experiences and thus are experienced as stressful.

Keywords. War veterans, World War II, trauma, post-traumatic stress disorder, bi- ography and biographical work with the elderly.

(7)

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ... 6

Abbildungsverzeichnis ... 8

Abkürzungsverzeichnis ... 9

1 Einleitung ... 10

1.1 Problemstellung ... 11

1.2 Ziel und Fragestellung ... 13

1.3 Methodisches Vorgehen ... 14

1.4 Aufbau der Arbeit ... 16

2 Bedeutung von zeitgeschichtlichem Wissen ... 16

3 Biografiearbeit in der Betreuung alter Menschen ... 18

4 Der Zweite Weltkrieg ... 20

4.1 Erinnerungen und sich erinnern ... 22

4.2 Flashbacks ... 24

4.3 Erfahrungen von Männern im Zweiten Weltkrieg ... 25

4.4 Kriegstauglichkeit und Einsatzfähigkeit ... 26

4.5 Lebens- und Kriegserfahrungen der Kohorten 1920-1934 ... 27

4.6 Die „jungen“ Soldaten ... 30

4.7 Versorgungs- und Entschädigungsanspruch ... 33

4.8 Gewalterfahrungen ... 35

4.8.1 Primäre und sekundäre Erfahrungen ... 36

4.8.2 Psychische und physische Gewalterfahrungen ... 36

5 Kriegsfolgen ... 40

5.1 Psychische Folgen ... 41

5.2 Physische Folgen ... 43

5.3 Das Schweigen ... 47

5.4 Trauma ... 49

5.5 Definition Trauma ... 49

5.6 Psychisches Trauma ... 50

5.7 Trauma und Alter ... 51

(8)

6 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ... 54

6.1 PTBS – Geschichte, Kultur und Politik ... 54

6.2 Definition Posttraumatische Belastungsstörung ... 58

6.3 NANDA Klassifikation ... 60

6.4 Pflegediagnose Posttraumatisches Syndrom ... 61

6.5 PTBS im Alter ... 63

6.6 PTBS im Ländervergleich ... 65

6.7 Diagnostische Besonderheiten im höheren Alter ... 66

6.8 Einfluss von PTBS auf die professionelle Versorgung ... 68

6.8.1 PTBS im stationären Akutbereich ... 71

6.8.2 PTBS im Langzeitpflegebereich ... 72

6.8.3 PTBS im rehabilitativen Bereich ... 74

6.8.4 PTBS im gerontopsychiatrischen Bereich ... 74

6.8.5 PTBS in der häuslichen Pflege ... 75

6.9 PTBS und Lebensqualität im Alter ... 76

7 Ergebnis ... 78

Literaturverzeichnis ... 81

(9)

Abbildungsverzeichnis

Tab. 1: Traumatische Lebenserfahrung. Angaben von 37 pflegebedürftigen Senioren ... 52

(10)

Abkürzungsverzeichnis

ANA American Nurses Association

DSM Diagnostic and Statistical Manual

ICD Internationale Klassifikation psychischer Störung NANDA North American Nursing Diagnosis Association PTBS Posttraumatische Belastungsstörung

PTSD Posttraumatic Stress Disorder

PTSS-10 Post Traumatic Stress Scale-10 Synonyme: PTBS - Posttraumatische Belastungsstörung

PTSD - Post Traumatic Stress Disorder

Die PTBS ist eine spezifische Form einer Traumafolgestörung.

Verwandte Störungsbilder sind:

Akute Belastungsreaktion ICD10: F 43.0 Anpassungsstörung ICD10: F 43.2

Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ICD10: F 62.0

(11)

10

1 Einleitung

„Es gibt ein Alter, in dem man Erfahrungen sammelt, ein anderes für die Erinne- rung. Die Empfindung vergeht am Ende, die empfindsame Seele aber bleibt be-

stehen.“ (Jean-Jacques Rousseau)

„Es gibt Erinnerungen an traumatische Erlebnisse, die die heute alten Men- schen jahre- ja manchmal jahrzehntelang verdrängt haben. Diese Erinne- rungen können nun auftauchen, wenn sie ihre soziale Umgebung mit ihren individuellen Bewältigungsstrategien durch einen Krankenhausaufenthalt oder ein Umsiedeln in ein Altenheim verlieren. Manchmal genügen aber auch normale Alterungsprozesse, wo Kontrollverluste erlebt werden, um traumatische Ereignisse zu erinnern.“1

In zahlreichen Veranstaltungen und Gedenkfeiern wird 2014 an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnert, ebenso an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 65 Jahren. Die Motivation für diese Themenwahl war persönliches Interesse, mein Beruf als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester und die Tatsache, dass in vielen Ländern der Welt aktuell Kriege stattfinden. „Die Kriegs- trommeln werden noch immer geschlagen.“2

Durch die schnelleren Kommunikationsmöglichkeiten werden täglich Bilder von neuen Kriegsschauplätzen und Konfliktherden, zeitnah und authentisch übermit- telt. Sie rücken mittelbar und unmittelbar betroffene Personen mit ihren Verlusten und Ängsten in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Man sieht, wie Frauen, Kinder und ältere Menschen um das tägliche Überleben kämpfen. Szenen von Gewalt, Vertreibung, Folter, Erschießungen, Bombenangriffe werden „frei Haus“ in die Wohnzimmer geliefert und sind in den Medien zu sehen und in den Tageszeitun- gen nachzulesen. „Aus dem vierten Stock des Gebäudes schießen junge Männer in Jeans auf junge Männer in Uniformen, auf Assads Soldaten. Auf den Straßen verrotten leblose Körper.“3

1 Brigitte Merkwitz, Unsichtbare Wunden. Traumatische Erfahrungen in der Biografie alter Frauen und Männer, 1.

2 Friedrich Orter, Nein, du wirst nicht sterben. In: Die Presse am Sonntag, 19.10.2014, 33.

3 Ebda, 33.

(12)

11 Solche und ähnliche Informationen erreichen auch Männer, die als Soldaten im Zweiten Weltkrieg ähnliche Lebenserfahrungen gemacht haben. Die Bilder und Berichte können bei diesen Menschen lange funktionierende Bewältigungsstrate- gien deaktivieren und psychische und/oder physische Symptome auslösen. Im Abschnitt „Intrusion“ (=Wiedererinnern und Wiedererleben von psychotraumati- schen Ereignissen), schreibt Herman4, dass Menschen lange nach dem traumati- schen Geschehen durch scheinbar bedeutungslose Ereignisse Situationen spon- tan wiedererleben können. Ein Ereignis kann demnach sehr lebensecht und emo- tional als sehr belastend wiedererlebt werden, weil diese Augenblicke im Ge- dächtnis abnormal abgespeichert wurden.

Neu ist, dass Männer, junge Männer, lebenserfahrene Männer, Familienväter sich nicht mehr ausschließlich als die Kriegshelden darstellen lassen. Viele davon pos- ten über ihre Erfahrungen, die Albträume, Schlafstörungen, Bilder, die sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sie teilen ihre Leiderfahrungen der ganzen Welt mit. Dadurch, dass sich die Medien- und Kommunikationskultur verändert hat, er- reichen Informationen sehr rasch eine große Zahl von Menschen. Die Auswirkun- gen kriegerischer Handlungen auf Soldaten sind präsent und erhalten dadurch eine andere Aufmerksamkeit als dies noch bei Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkrieges der Fall war.

Studien zu Langzeitverläufen der posttraumatischen Symptomatik liegen kaum vor, weil die Forschungen erst Jahrzehnte nach Kriegsende begonnen haben. Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung ist erst seit 1980 im diagnosti- schen System zu finden.5

1.1 Problemstellung

Traumatische Erfahrungen im Lebenslauf von Menschen können für die Betroffe- nen schwerwiegende und langfristige Folgen haben. Die meisten wissenschaftli- chen Arbeiten beschäftigen sich mit Traumafolgen bei jüngeren Menschen. Bei älteren Menschen zeigt sich noch ein großer Forschungsbedarf.6 Der Alterungs-

4 Vgl. Judith Herman, Die Narben der Gewalt, 58.

5 Vgl. Heide Glaesmer, Traumatische Erfahrungen in der älteren deutschen Bevölkerung. In: Zeit- schrift für Gerontologie und Geriatrie 3/2014,195.

6 Vgl. H. Glaesmer, 3/2014, 194.

(13)

12 prozess bringt zahlreiche physische und psychische Veränderungen mit sich. Be- sonders im höheren und hohen Lebensalter können Veränderungen der Sinnes- wahrnehmungen „Hören und Sehen“ zum Verkennen von Situationen führen.

„Ein über 80-jähriger Mann im Heim erlebt am Fernseher die Kampfhand- lungen in Serbien mit (Bombenangriffe, Beschuss, Flüchtlingsströme). Pa- rallel zu seiner schnell fortschreitenden Krebserkrankung verstummt er im- mer mehr und schweigt …, auch gegenüber den ihm bekannten und ver- trauten Pflegekräften.“7

Hermann, Bäurle8 bestätigen, dass durch verschiedene altersspezifische Verände- rungen es zu einer gehäuften Reaktivierung von Traumata im Alter, selbst nach jahrelangen beschwerdefreien Intervallen kommen kann. Sie führen u. a. folgende Beispiele an:

 Drohendes Ausgeliefertsein im körperlichen Alterungsprozess durch Verlust der Selbstständigkeit bei körperlichen Pflegehandlungen.

 Ältere Menschen leiden im Vergleich zu Jüngeren mehr unter dem drohen- den Verlust der Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit, weil es sich um unwiederbringliche Verluste handelt.

 Die Phase des hohen Alters ist speziell von Verlusten von nahestehenden Personen, aber auch sozialen Rollen geprägt.

„Traumatische Erinnerungen können über Sinneseindrücke (Bilder und Ge- räusche) ausgelöst werden, wie z. B. Bilder von Kriegsszenen in anderen Ländern, Menschen in Uniformen, Sirenen-Probealarm.“9

Es ist bekannt, dass Menschen nach traumatischen Erlebnissen dem Risiko aus- gesetzt sind „eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD, Posttraumatic Stress Disorder), (ICD-10: F43.1) mit Flash-backs, Alpträumen und psychovegeta- tiven Arousalreaktionen zu entwickeln“.10 Hingegen ist weniger bekannt, dass die-

7 Hartmut Radebold, Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit, 186.

8 Vgl. Marie-Luise Hermann, Peter Bäurle, Traumata – Warum werden sie im Alter wieder aktiv? In Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherpiewissenschaft, Psychologische Medizin 8 Jg. (2010) Heft 4, 33.

9 Hermann, Bäurle, Traumata, 33.

10 G. Heuft, H. G. Nehen, A. Kruse, et al., Funktionelle Störungen bei älteren Menschen. In: Deut- sches Ärzteblatt 97, Ausgabe 36, A-2310 / B-2000 / C-1755.

(14)

13 se Menschen nach Jahren eine Traumareaktivierung erleiden können. Häufig ent- wickeln sie im Zusammenhang mit dem Alterungsprozess funktionelle körperliche Symptome, die in einen Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen gebracht werden können.11

Bühring12 zitiert Heuft13, welcher der Frage nachgeht, warum Traumata gerade im Alter wieder reaktiviert werden. Heuft geht davon aus, dass durch unterschiedliche Altersveränderungen das Risiko für eine Reaktivierung von Traumata steigt. Er stellt dabei die Angst vor Abhängigkeit und Hilflosigkeit in eine zentrale Verbin- dung mit traumatischen Ereignissen die bis zu 50 Jahre zurück liegen können.

Tagay, Gunzelmann, Brähler14 bestätigen diese Aussage, sie führen Untersu- chungsergebnisse von Solomon, Ginzburg (1999), Maercker (2002), Heuft, Kruse, Radebold (2006) an, dass durch das Auftreten von altersbedingten Belastungen, die Inhalte von belastenden Erinnerungen reaktiviert werden können. Dieter For- te15 sagt über sich selbst, dass er Jahrzehnte gebraucht hat, bis er in der Lage war über seine Kriegserinnerungen zu erzählen. Er sagte in einem Gespräch mit Vol- ker Hage, das die Traumaforschung heute weiß,

„daß man vierzig, fünfzig Jahre braucht, um sich dem Schrecken zu stellen, Worte der Erinnerung zu finden, das Entsetzen zu finden, das unter dem Vergessen liegt. Es ist ja doch eine fast körperliche Vernichtung der eigenen Identität. Man ist ja nicht unbeschädigt.“16

1.2 Ziel und Fragestellung

Am 01.01.2014 lebten in Österreich noch 2.710 92-jährige Männer17. Insgesamt lebten zur selben Zeit 15.527 Männer zwischen 90 und 100 Jahren.18 Man kann

11 Vgl. G. Heuft, H. G. Nehen, A. Kruse, et al., A-2310 / B-2000 / C-1755.

12 Vgl. Petra Bühring, Die Generation der Kriegskinder. In: Deutsches Ärzteblatt 102(17): A-1190 / B-994 / C-938, 30.

13 Univ. Prof. Dr. med. Gereon Heuft Facharzt für Psychotherapeutische Medizin.

14 Vgl. S. Tagay, Th. Gunzelmann, E. Brähler, Posttraumatische Belastungsstörungen alter Men- schen. In: Zeitschrift für Psychotherapie Jg. 14, Band 14, Heft 2, 335.

15 Dieter Forte, geb. 1935, deutscher Schriftsteller und Dramatiker, Kriegsveteran.

16 Sabine Bode, Die vergessene Generation, 209.

17 Der Geburtsjahrgang 1922 wurde aus der im Vorwort persönlichen Motivation der Verf. ausge- wählt.

(15)

14 davon ausgehen, dass diese Männer mindestens eine oder mehrere Kriegserfah- rungen gesammelt haben und gegenwärtig in unterschiedlichen Settings mit un- terschiedlichen psychischen und physischen Bedürfnissen Betreuung in Anspruch nehmen.

Ziel der Arbeit war die Auseinandersetzung von Kriegserfahrungen von Soldaten im Zweiten Weltkrieg und deren Folgen auf das Alter bzw. höhere Alter. Daraus haben sich folgende Forschungsfragen ergeben:

 Welche Bedeutung hat zeitgeschichtliches Wissen für die Biografiearbeit in der Betreuung alter Menschen?

 Welche belastenden Kriegserfahrungen haben Männer im Kriegseinsatz gemacht?

 Sind daraus physische und psychische Folgen im Alter in einen Zusam- menhang zu bringen?

 Können die gewonnen Erkenntnisse zu einer Verbesserung der Lebens- qualität in der stationären Betreuung von alten Menschen beitragen?

 Ist es sinnvoll, beinahe 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, sich mit diesem Thema noch zu befassen?

1.3 Methodisches Vorgehen

Bevor auf den Methodenteil eingegangen wird ist es mir wichtig darauf hinzuwei- sen, dass es nicht Ziel der Arbeit war, auf die Rollen von Opfern und Täter einzu- gehen. Härri19 schreibt über die Problematik von Bezeichnung und Einteilung von Opfern und Tätern. Jeder Täter kann zugleich Opfer und jedes Opfer zum Täter werden. Herman beschreibt den moralischen Konflikt der für einen Berichterstatter entstehen kann, wenn ein traumatisches Ereignis das Ergebnis menschlichen Handelns ist.20

Für die Literatursuche wurden folgende Keywords verwendet: Kriegsveteranen, Zweiter Weltkrieg, Trauma, Posttraumatische Belastungsstörungen, Biografie und

18 Vgl. Statistik Austria, Bevölkerung, o.S.

19 Vgl. Judith Härri, Zeit heilt keine Wunden. Kriegstraumatisierung als verdrängtes Thema der Altenhilfe. Diplomarbeit, 7.

20 Vgl. J. Herman, 8.

(16)

15 Biografiearbeit Altenarbeit. Die Literaturauswahl setzte sich aus Basisliteratur und Beschreibungen von Definitionen sowie Reviews und aktuelle Studien über den Zeitraum von 1988 bis 2014 zusammen.

Ein- und Ausschlusskriterien zur Eingrenzung der Literatur:

Einschlusskriterien: Ausschlusskriterien:

Männer

Geboren ab 1920 bis 1932 Kriegsveteranen

Altersbedingte, geringe, kognitive Ein- bußen

Frauen, Kinder

Geboren vor 1920 und nach 1932 Vom Kriegsdienst befreit

Keine Diagnose einer mittelgradigen oder fortgeschrittenen Demenz

Den zentralen Punkt der Arbeit auf Kriegsveteranen zu richten hat sich im Zuge der Literatursuche bestätigt. Es wurde bereits sehr früh mit der Aufarbeitung von belastenden Erinnerungen im Zusammenhang mit Kriegserfahrungen bei Frauen und Kindern geforscht. Besonders zu den Themen Vertreibung, Flucht, sexuelle Gewalt bei Frauen, Verlust der Eltern bei Kindern, vaterlose Kindheit gibt es viele Publikationen. Untersuchungen bzw. Forschungsarbeiten, die sich ausschließlich mit deutschen Veteranen des Zweiten Weltkrieges befassen im Zusammenhang mit Traumaerfahrungen und Reaktivierung von Trauma im Alter wurden mit den ausgewählten Keywords nicht gefunden. Es gibt Untersuchungen an amerikani- schen Veteranen und Soldaten aus dem Vietnamkrieg, auf diese wird in der Arbeit vergleichend eingegangen.

„Es gibt bisher noch keine gesicherten empirischen Daten, die die klinische Relevanz von Trauma-Reaktivierungen im Alter beschreiben würden. Dies hängt zentral damit zusammen, daß man die Betroffenen nicht einfach ‚per Fragebogen„ dazu anhalten kann, zu diesen zum Teil sehr belastenden Le- bensereignissen frei zu sprechen.“21

Die Masterarbeit baut auf Basisliteratur, Fachliteratur, qualitativen und quantitati- ven Untersuchungen und Forschungsergebnissen, aus Zitaten von Zeitzeugen aus der Literatur und von zeitgenössischen Literaten und Gegenwartsliteratur auf.

Es wurden bewusst Zitate von Schriftstellern, die zugleich Zeitzeugen waren, ver-

21 Gereon Heuft, Die Bedeutung der Trauma-Reaktivierung im Alter. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Bd. 32, Heft 4, 228.

(17)

16 wendet. Diese haben bereits während und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg auf die traumatischen Erlebnisse und Ereignisse in ihren Werken hingewiesen.

1.4 Aufbau der Arbeit

Zu Beginn der Arbeit wird auf die Bedeutung von zeitgeschichtlichem Wissen und der Biografiearbeit in der Betreuung alter Menschen eingegangen. Zum besseren Verständnis werden dazu die Themen Erinnerung und sich erinnern und Flash- backs erläutert. Im Hauptteil werden Lebens- und Kriegserfahrungen der jungen Männer und späteren Soldaten aufgeteilt in Alterskohorten betrachtet. Im empiri- schen Teil stehen qualitative und quantitative Forschungsergebnisse von Kriegser- fahrungen Bezug nehmend auf die physischen und psychischen Folgen auf das Alter und höhere Alter im Mittelpunkt. Dazu werden die Begrifflichkeiten „Trauma“

und „Posttraumatische Belastungsstörungen“ erläutert. Zum Schluss wird auf den Einfluss von Posttraumatischen Belastungsstörungen auf die professionelle Pflege in den unterschiedlichen Seetings eingegangen. Im Kapitel Lebensqualität im Alter wird versucht die Frage zu beantworten, ob es noch zeitgemäß ist, sich mit einem Thema zu beschäftigen das nur mehr eine überschaubare Population betrifft.

2 Bedeutung von zeitgeschichtlichem Wissen

Radebold stellt die Frage:

„Holt uns unsere Geschichte wieder ein? Mit der Feststellung: ‚Wir haben eine Geschichte, wir sind Geschichte und wir verkörpern unsere Geschich- te, gilt selbstverständlich auch für uns als Professionelle selbst – sei es, dass wir der zweiten (= über 60-Jährigen) oder sei es, das wir der dritten (=

30- bis 50-Jährige) Generation angehören„.“22

Er stellt die Behauptung auf, dass uns die Geschichte einholt, wenn sie uns nicht interessiert hat, wenn wir uns ihr entzogen, sie bagatellisiert oder völlig verdrängt haben. Besonders Angehörige der zweiten Generation erleben die Schwierigkei-

22 H. Radebold, 231.

(18)

17 ten, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, sich dem Ausmaß dessen bewusst zu werden und es als Teil ihrer eigenen Biografie anzunehmen.23 Die Schwierigkeit der Annäherung an die eigene Geschichte wird in autobiografi- schen Berichten deutlich. Dies erleben Psychoanalytiker und Psychotherapeuten, Historiker, Theologen, Politiker, Wirtschaftsführer, Künstler und Schriftsteller.24 In Gesprächen mit der Kriegsgeneration ist zu bemerken, dass es für diese Men- schen von Bedeutung ist, ihre damaligen Handlungen zu begründen. Menschen, die von der damaligen Zeit berichten und über ihre Erinnerungen sprechen, sehen sich in der Position, dass sie sich rechtfertigen müssen.25 Glaesmer äußert den Wunsch darüber, dass der historisch-biografische Hintergrund von Patienten, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, in der medizinischen Versorgung mehr be- rücksichtigt werden muss. Es ließen sich dadurch Eigenarten und Symptome die- ser Patienten besser behandeln.26

Über das Vermächtnis des Aufpassens von Eckart Schwartz :

‚„Man muss die Geschichte erzählen, immer und immer wieder. Damit sie sich nicht wiederholen kann. Und man muss immer aufpassen.„ Vielleicht, so meint er, habe seine Generation nie wieder Krieg geführt, weil sie diesen in der eigenen Kindheit und Jugend erlitten hat. ‚Wir wissen, wie das ist, am Boden zu liegen und zu zittern, ob man die nächsten Minuten noch erlebt.

Wir haben ja nur in Angst gelebt.„ So fährt der charismatische alte Mann übers Land, um als Zeitzeuge aufzutreten, für seinen nächsten Roman zu recherchieren und aus seinen Büchern vorzutragen. Als er am Ende der Lesung das Buch ‚Die Schatten der Vergangenheit„ zuklappt, lädt er die ju- gendlichen Zuhörer ein, mit ihm zu ‚schwatzen, über sein Schicksal. Das Schicksal der Kinder des Krieges. Danach bedankt er sich und sagt noch:

‚Und fragt auch eure Großeltern und Urgroßeltern. So lange es noch mög- lich ist!„“27

23 Vgl. H. Radebold, 231.

24 Ebda. 232.

25 Vgl. Anna, K. Rau, Krieg, Flucht und Vertreibung. Nationalsozialismus und Kriegserfahrungen in der Biografie alter Menschen, 36.

26 Vgl. H. Glaesmer, 199.

27 Andreas Kuba, Wir Kinder des Krieges. Eine Generation erzählt ihre Geschichte, 320f.

(19)

18 Die Antwort auf Radebold´s Frage, über die Bedeutung von zeitgeschichtlichem Wissen und ob uns die Geschichte wieder einholt, kann vielleicht mit den Worten des Kriegskorrespondenten Friedrich Orter gegeben werden:

„Ich will fort von hier. Ich will nie mehr Wut und Trauer verzweifelter Frauen in schwarzen Gewändern sehen, die über den Leichen ihrer Männer und Kinder kniend ihren Schmerz hinausschreien.“28

3 Biografiearbeit in der Betreuung alter Menschen

Die Integration von persönlichen Erlebnissen in die persönliche Biografie, ist als eine wichtige Aufgabe im Alter wahrzunehmen. Im Mittelpunkt von pflegerischen Handlungen stehen neben dem individuellen Erleben von Krankheiten Behinde- rungen und Pflegebedürftigkeit.29 Einen besonderen Stellenwert erhält dabei die Persönlichkeit von Pflegepersonen, um mit diesen Anforderungen umgehen zu können. Empathisches Einfühlungsvermögen, hohe Kompetenz und Sensibilität ist besonders in der Betreuung und Pflege von Zeitzeugen erforderlich.30 In den 1970er Jahren hat ein regelrechter Boom der biografischen Forschung eingesetzt, der nach wie vor anhält. Das biografische Material erlaubt es u. a., Einsicht in be- stimmte Milieus, in fremde Kulturen oder zu bestimmten Handlungen zu bekom- men.31

Radebold weist auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte im Zu- sammenhang mit der Bedeutung professionelle Angebote für Betroffene setzten zu können und zählt für diese Aufgabe folgende Fragen und Wahrnehmungen auf:32

„Wie weit kenne ich meine diesbezügliche Familiengeschichte?

Welche Lücken in meinen Kenntnissen über meine Familiengeschichte be- stehen bei ihrer Rekonstruktion?

28 F. Orter, 33.

29 Vgl. A. K. Rau, 57.

30 Vgl. A. K. Rau, 69.

31 Vgl. Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichten. Gestalt und Struktur biografi- scher Selbstbeschreibungen, 11.

32 Vgl. H. Radebold, 235.

(20)

19

Was erschreckt mich, beunruhigt mich, beängstigt mich in der Begegnung mit und an der Geschichte dieser Betroffenen?

An welchen Details ihrer Geschichte bin ich nicht interessiert oder will sie auf keinen Fall weiter hören?

Welche Details verfolgen mich bis in meine Träume?

Welche Umstände einer spezifischen Geschichte versetzen mich in jeweils gefühlsmäßig strapaziöse Rollen, z. B. als Helfer, Retter, Spion, Verfolger, Ankläger oder Richter – somit die immer wieder auftauchende Täter-Opfer- Problematik widerspiegelnd?

Welche Personen meiner eigenen Geschichte fallen mir aktuell ein; auf wel- che Fragen an sie habe ich damals keine Antwort bekommen? Welche Fragen würde ich jetzt (noch) gern den bereits Verstorbenen stellen? Wel- che Fragen, so nehme ich mir vor, will ich den noch Lebenden stellen?“33 Die Zahl der Betroffenen, mit einer entsprechenden Erfahrungsgeschichte, ist so groß das Professionelle damit überall konfrontiert werden können.34 Die Befragung nach traumatischen Erfahrungen stellt speziell bei der Kriegsgeneration ein be- sonderes Problem dar. Teilweise ist es ihnen nicht bewusst, dass sie traumatisiert sind oder es fällt ihnen schwer sich als hilfsbedürftig zu sehen, weil ihre Erlebnisse während des Krieges nichts Außergewöhnliches sind, zumal es eine ganze Gene- ration betroffen hat. Radebold empfiehlt, gezielt auf die historisch-biografischen Hintergründe bei der Kriegsgeneration einzugehen, um aktiv Erlebnisse während des Krieges zu erfragen und mögliche Traumafolgesymptome zu erfahren.35 Le- bensgeschichtliche Interviews mit damals jungen Soldaten zeigen sehr rasch, „wie sehr frühere Sozialisationen, Wertesysteme, Hoffnungen und Erwartungen die Wahrnehmung und Erinnerung bestimmen und wie sehr nachträgliche Umorientie- rungen auch eigene Erlebnisse umwerten und erzählen lassen.“36

33H. Radebold, 235f.

34 Vgl. H. Radebold, 236.

35 Vgl. H. Glaesmer, E. Brähler, 349.

36 Ulrich Herrmann, Rolf-D. Müller, Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen.321.

(21)

20

4 Der Zweite Weltkrieg

„Wo warst du Adam?“

„Ich war im Weltkrieg.“

(Heinrich Böll, Zitat Theodor Haecker)

„Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ Diese Meldung von Adolf Hitler bes- tätigte am 1. September 1939 mit dem Angriff auf Polen den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Erst am 8. Mai 1945 endete mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands vor den Alliierten ein dunkles Kapitel des 20. Jahrhunderts.

Nicht zu Unrecht, wird der Zweite Weltkrieg und seine Folgen für die Bevölkerung als das erschütterndste und schwerwiegendste zeitgeschichtliche Ereignis des letzten Jahrhunderts beschrieben.37

Buchmann38 geht von ca. 1,3 Millionen Österreicher und Österreicherinnen, die zwischen 1938 und 1945 in der Deutschen Wehrmacht gedient haben aus. Über- einstimmende Zahlen von Soldaten im Kriegseinsatz waren bzw. wie viele davon verwundet wurden, als vermisst gemeldet, gefallen oder heimgekehrt sind wurden trotz ausgiebiger Recherche nicht gefunden. Man geht davon aus, dass zwischen 18 und 20 Millionen Männer der deutschen Wehrmacht gedient haben. Für die große Differenz und die ungenauen Angaben findet man Hinweise, dass die Un- tersuchungen dazu immer noch nicht abgeschlossen wurden bzw. möglicherweise nie genaue Zahlen zu erwarten sein werden. Radebold39 bestätigt die Schwierig- keiten einer genauen Datenanalyse, weil sie schwer aufzufinden, weit gestreut in unterschiedlichen Wissensdisziplinen publiziert und bis heute nicht abgeschlossen wurden. Ebenso schreibt Kunz in Herrmann, Müller40 von der Annahme, dass ca.

18,2 Millionen Soldaten (Angehörige der Waffen-SS inkludiert) am Zweiten Welt- krieg beteiligt waren. Sie führen für die Ungenauigkeit der Zahlen den Zusammen- bruch der Kommunikationsstrukturen in der Endphase des Krieges, kriegsbedingte

37 Vgl. H. Glaesmer, 194.

38 Vgl. Bertrand Michael Buchmann, Österreicher in der deutschen Wehrmacht. Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg, 287.

39 Vgl. H. Radebold, 23.

40 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 81.

(22)

21 Aktenverlusten sowie systematische Vernichtungen von Unterlagen nach Kriegs- ende an. „Ihre exakte Zahl ist nirgendwo zu ermitteln, ….41

In „Die Geschichte Deutschlands nach 1945 – Ein Soldat kehrt heim“, schreibt Mieder42 über den Deserteur Damerow und zieht einen Vergleich zum Schriftstel- ler Wolfgang Borchert43. Damerow ist undendlich müde, erschöpft, verwirrt. Als er an die Tür seines Elternhauses klopft und seine Mutter ihm öffnet, diese ihn er- kennt und in die Arme schließen will, fällt er auf die Knie und weint. Er ist heimge- kommen, vorerst hat er überlebt. Ihm ist wie seinem Kriegskameraden Wolfgang Borchert zumute. Beide sind sich nie begegnet, beide waren Soldaten, beide wa- ren Deserteure. Beide gehören einer Generation an, die den Krieg kaum überwin- den können. Sie sind zerrüttet, gedemütigt und geschlagen heimgekehrt.

„Heinrich Böll44 schrieb am 5.6.1944 aus Ungarn an seine Frau: ‚… und ich sage Dir … glaube nichts, was über den Krieg gedruckt wird oder gedruckt worden ist, wenn es nicht erfüllt ist von den Leiden der Soldaten und von dem Leid, dem wirklichen Pathos dessen, der es geschrieben hat, ….“45 Goltermann46 schreibt über die Unsicherheit, die bei den Heimkehrern in den ers- ten Jahren ihrer Rückkehr geherrscht hat. Es gab kein Gefühl der Sicherheit. Sie waren mit dem Kampf um das tägliche Leben konfrontiert. Dazu gehörten Arbeits- losigkeit, miserable Wohnungssituation, Nahrungsmittelknappheit und Gerüchte und Erzählungen. Die moralische, gesellschaftliche und politische Ordnung war für diese Männer zerstört.

41 Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden, 95f.

42 Vgl. Eckhard Mieder, Die Geschichte Deutschlands nach 1945, 16.

43 Wolfgang Borchert, 1921-1947, deutscher Schriftsteller, bekannt im Zweiten Weltkrieg als Autor der „Trümmerliteratur“.

44 Heinrich Böll, 1917-1985, deutscher Schriftsteller.

45 H. Böll, In: Ulrich Herrmann, Rolf-Dieter Müller, Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegser- fahrungen als Lebenserfahrungen, 32.

46 Vgl. S. Goltermann, 97.

(23)

22

4.1 Erinnerungen und sich erinnern

Es ist heiß, es ist dunkel, es ist Tag, es ist Nacht, es ist glühend heiß, die Haut brennt, die Haare fallen aus, weiße trockene Büschel, die Lunge brennt, die Brust schmerzt beim Atmen, die Luft ist ein ausgedörrter Wüstensturm, der laut durch die Straßen heult. Man steht in Staubwolken, die Welt ist verschwunden, der Himmel schwarzviolett, hinter den Hausfassaden Feuer und Rauchwolken, die Fassaden stürzen ein, die Feuerwolken lodern hoch, Da ist keine Straße mehr, kein Straßenschild, keine Verkehrsampel, da liegen Schuttberge. Die Welt, vor Sekunden noch vorhanden, ist nur Erinnerungsbild.“47

„Erinnern ist vielfältig und hat unterschiedliche Funktionen. Einerseits werden Ge- schehnisse im Rückblick neu bewertet, andererseits kann es zu einem Versöhnen mit der Vergangenheit kommen. In diesem Sinn wirkt Erinnern identitätsstiftend.“48 Die Erinnerung an biografische Ereignisse ist als eine Leistung des episodisch- autobiografischen Gedächtnisses zu sehen. Diese Gedächtnisform kann durch Emotionen gefärbt sein und können als mentale Zeitreise zurückverfolgt werden.49 Gedächtnisinhalte, Verhaltensweisen und Situationen aus der Vergangenheit kön- nen durch sinnliche Reize, durch Personen, Geräusche, Bilder oder Stimmungen ausgelöst werden. Die hervorgerufenen Emotionen können dadurch sehr lebendig und heftig wiedererlebt werden.50

„Günther Sereda51 hat die Erfahrung des Bösen zum Arzt und Psychothera- peuten gemacht. Der 84-jährige aus dem nördlichen Niederösterreich wurde 1945 ‚als 15-hähriger Rotzbub„ zur Waffen-SS rekrutiert, mit der Berufung,

‚dass es jetzt an uns liegt, das Vaterland zu verteidigen„. Was er in den fol- genden Monaten sah, hat ihn nie wieder losgelassen.“52

Den Unterschied zu einer spezifischen Erinnerung beschreibt Hromatka folgend:

47 Dieter Forte, Schweigen oder Sprechen, 25.

48 A. K. Rau, 56.

49 Vgl. Elisabeth Höwler, Erinnern und vergessen. Biografiearbeit in der Altenpflege, In: Pro Care, Dezember 2013, Jg. 18, Nr. 10, 37.

50 Vgl. E. Höwler, 37.

51 Günther Sereda, Zeitzeuge, geb. 1930.

52 A. Kuba, 35.

(24)

23

„Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem mein befreundeter Schulkollege mich schlecht behandelte.“ Letztere Angabe beinhaltet einen Ort, eine spezifische Person und ist an einen Tag gebunden (also nicht durch die Begriffe wie ‚immer„, ‚nie„, ‚meist„ zu einer zusammenfassenden oder ka- tegorischen Beschreibung gemacht).“53

Die Schwere eines Traumas kann jedoch auch zu einer Verdrängung von spezifi- schen Details führen, wie der folgende Zeitzeugenbericht erkennen lässt. Her- mann Baumann, geboren 1921 berichtet über die Zeit seiner Verurteilung:54 „Ich war zehn Monate in der Todeszelle, Tag und Nacht an Händen und Füßen gefes- selt. Und jeden Morgen in der Früh, wenn die Wachen wechselten, dachte ich, sie holen mich raus. Es war so ein Trauma, und es verfolgt mich bis heute.“55 Bau- mann hat das Trauma so sehr verdrängt, dass er das Zeitgefühl dafür verloren hat und lange Zeit glaubte, er wäre insgesamt vier Monate in der Todeszelle gewe- sen.56 Das autobiografische Gedächtnis enthält die Erinnerungen eines Menschen an seine Erlebnisse. Sie unterstützen den Aufbau und die Erhaltung der Identität und können durch Verknüpfungen von Ereignissen zur persönlichen Lebensge- schichte verknüpft werden.57 „Beim Abruf autobiographischer Erinnerungen kom- men dem sehenden Menschen viele Bilder in den Sinn beziehungsweise ins Ge- dächtnis.“58 Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges hinterließen in der individu- ellen Biografie tiefe Spuren.59 Helmut Arndt60, geboren 1929 beschreibt seinen Zugang zu Zeit und Erinnerung folgend:

„Wenn ich versuche, mein Leben zu gliedern in Erinnerungsräume – wie viel nimmt eine Zeit in Anspruch: die Schulzeit, die Kriegszeit, meine Berufszeit usw. – da würde ich sagen, dass das Jahr 1945 vielleicht 40 bis 50% meiner

53 Roland Hromatka, Im 2. Weltkrieg erlebte Kriegstraumata und deren Auswirkung en auf die au- tobiografische Erinnerungsspezifität, Diplomarbeit, 32.

54 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 231.

55 U. Herrmann, R.-D. Müller, (2010), 231.

56Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 231.

57 Vgl. T. Wolf, Nostalgie und die Funktionen des autobiografischen Gedächtnisses, In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 7.2014, 557.

58 R. Hromatka, 31.

59 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 108.

60 Helmut Arndt, Zeitzeuge, geb. 1929.

(25)

24 gefühlsmäßigen Erinnerung ausmacht, meine Schul- und Berufszeit jeweils 20%.“61

Erlebnisse und Erinnerungen in der letzten Lebensphase haben eine besondere Bedeutung und werden vom Pflegepersonal anders wahrgenommen, als von den Pflegebedürftigen. Rau stellt dazu einen Vergleich zwischen den Pflegepersonen und den hochaltrigen Pflegebedürftigen her. Für die Pflegepersonen ist der Zweite Weltkrieg Vergangenheit. Die alten Menschen hingegen sind Zeitzeugen. Im Alter werden die Erinnerungen wieder lebendig.62

4.2 Flashbacks

Unter Flashbacks versteht man ein blitzartiges Auftauchen von früheren Erlebnis- sen. Sie können traumatische Erfahrungen wiederbeleben. Es kommt zu einem blitzartigen Auftreten von traumatischen Situationen. Sie werden als Gegenwärtig empfunden und werden von entsprechenden Gefühlen und Körperreaktionen be- gleitet.63

Ein 76-jähriger Zeitzeuge berichtet über eine Alltagsbegebenheit, die bei ihm durch situative Reize, die traumatische Erinnerungen hervorgerufen hat:64 „Die Pflegerin hat die Pyjamahose aufgehängt und die Jacke darüber gezogen – plötz- lich sah ich meine Kameraden, die im Krieg erhängt wurden.“65 Bei Vielen haben sich die Erinnerungen tief verankert und werden u. a. durch Fernsehberichte wie- der belebt.66 „Die Vorfälle in den USA lösen Erinnerungen an den Krieg aus. – Ich sehe kein Fernsehen mehr!“ Ein 80-jähriger Mann.67

Auch Rau beschreibt auslösende Faktoren für Flashbacks. Dies können ein Ge- ruch, ein bestimmter Tonfall, ein Wort sein. Es werden dadurch die dazugehörigen

61 U. Herrmann, R.-D. Müller, 352.

62 Vgl. A. K. Rau, 9.

63 Vgl. http://www.alterundtrauma.de/glossar.html, o. S.

64 Vgl. F. Teegen, L.-D. Cizmic, 82.

65 F. Teegen, L.-D. Cizmic, 82.

66 Vgl. F. Teegen, L.-D. Cizmic, 83.

67 F. Teegen, L.-D. Cizmic, 83.

(26)

25 Erinnerungen wieder wach gerufen.68 Sogenannte Trigger – Sinneserfahrungen, die einem Menschen signalisieren, dass eine ähnliche erlebte Gefahr wieder droht, können Flashbacks auslösen. Es handelt sich dabei um ein unbewusstes Geschehen und kann von den Betroffenen nicht beeinflusst werden.69

4.3 Erfahrungen von Männern im Zweiten Weltkrieg

„Menschen rennen ins Feuer, retten Dinge, die sie nicht brauchen, Menschen laufen wie in Zeitlupe, kriechen auf allen vieren im Kreis, suchen Deckung, rennen plötzlich wieder los, stoßen andere in den Dreck. Menschen gehen in einer Schlange in der Mitte der Straße, um den einstürzenden Fassaden aus- zuweichen, stolpern über Steine, Fensterrahmen, Kinderbetten, Kleider- schränke. Schwach sichtbare Figuren, lebende Säulen aus grauem Staub ste- hen erstarrt, bewegen sich nicht, sie haben das Chaos gesehen, sie leben nicht mehr wirklich, ihr Leben wird nicht mehr sein, wie es einmal war, sie werden niemals davon erzählen können, der Tod ist in ihnen.“70

Otl Aicher71, schreibt über den Krieg: „vom Krieg macht man sich ein falsches Bild.“72 Er schreibt über die Kriegsführung und die Unterschiede zwischen Be- fehlsgebern und Befehlsausführenden.

„die generäle planen, geben anweisungen, mischen sich kurz in den angriff, ziehen sich aber schnell wieder in die unterstände der telefone und karten zurück. sie spielen krieg wie ein schachspiel, mit dem einzigen unterschied, der einem general nie bewusst wird, dass ein weggenommener bauer ein to- ter mensch ist.“73

68 A. K. Rau, 25.

69 Vgl. http://www.alterundtrauma.de/glossar.html, o. S.

70 D. Forte, 25.

71 Otl Aicher, 1922-1991, Gestalter und Grafikdesigner, Gegner des NS-Regime und Freund der Geschwister Scholl, 1952 Heirat mit Inge Scholl Schwester von Hans und Sophie Scholl.

72 U. Herrmann, R.-D. Müller, 33.

73 Ebda, 33, Kleinschreibung im Original.

(27)

26

4.4 Kriegstauglichkeit und Einsatzfähigkeit

Kunz schreibt, dass die Kriegstauglichkeit hinsichtlich Alter und körperlicher Eig- nung im Verlauf des Krieges gelockert wurde. Angehörige der Reichsbevölkerung wurden zu Beginn des Zweiten Weltkrieges im Alter von 19 Jahren erfasst und gemustert. Die Waffen-SS begann bereits 1940 16-jährige zum Dienst zu rekrutie- ren. Wehrmacht und Waffen-SS erwirkten Ende 1944, dass Freiwillige bei Errei- chen des 16. Lebensjahres auch ohne Zustimmung der Eltern oder gesetzlichen Vertreter einberufen werden konnten.74

„In den letzten Wochen des Krieges wurde es zur gängigen Praxis, dort, wo der Endkampf bevorstand, Luftwaffen-Helfer kurzer Hand zu regulären Sol- daten zu ernennen. Für den Kampf gegen Panzer und Infanterie waren die Jugendlichen weder ausgebildet noch den damit verbunden physischen wie psychischen Belastungen gewachsen.“75

Des Weiteren schreiben Hermann, Müller76 von der Verantwortung, die kaum 20jährigen Offizieren in der Verantwortung für das Leben von hunderten jüngeren und älteren Soldaten übertragen wurde. „Die Musterungsärzte konstatierten eine

‚beachtliche Zahl junger Menschen, die noch ausgesprochen knabenhaft ausse- hen und deren allgemeine körperliche Entwicklung und Pubertät noch nicht abge- schlossen ist„.“77

Für manche war ihre vorzeitige Meldung oder Einberufung gleichbedeutend wie einen „besonderen Status“ zu erreichen.

„A. S.: Meine Raucherkarte, die gab es erst ab dem 18. Lebensjahr. Ich war ja noch keine 18. Ich kriegte die aber, dasselbe wie die Lebensmittelkarte, da gab es eben Zigaretten drauf. Und ich konnte ins nichtjugendfeie Kino rein.

Was glauben Sie, was das bedeutet hat ……. Und man konnte den Schein rausziehen – mit welcher Genugtuung, dass müssen Sie erlebt haben … Das war, das war doch was.“78

74 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 91.

75 U. Herrmann, R.-D. Müller, 88.

76 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 92.

77U. Herrmann, R.-D. Müller, 92.

78 U. Herrmann, R.-D. Müller, 325f.

(28)

27

4.5 Lebens- und Kriegserfahrungen der Kohorten 1920-1934

Radebold79 geht gezielt der Frage nach der Beteiligung und Verantwortung bei den über 80-jährigen nach, er fasst die Jahrgänge zu Alterskohorten zusammen, um zu verdeutlichen in welchen Lebensphasen sie die Auswirkungen des Dritten Reiches, des Zweite Weltkrieges, des Kriegsendes und der unmittelbaren Nach- kriegszeit erlebt haben. Eine Differenzierung zwischen Männern und Frauen findet nicht statt und im Sinne der Ein- und Ausschlusskriterien werden nur die Geburts- jahrgänge ab 1920-193480 beschrieben.

Geburtsjahrgänge 1920-1924: ihre Kindheit war geprägt von Weltwirtschaftskrise und Not in der Zwischenkriegszeit. Sie erlebten eine stark nationalsozialistisch ausgerichtete Erziehungspolitik und wurden dem entsprechend durch Jugendor- ganisationen und Schulen stark beeinflusst. Bei Kriegsausbruch waren sie im Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Bei Kriegsende 1945 lag in dieser Altersgruppe die höchste Todesrate aller eingezogenen Jahrgänge bei Männern vor. Viele hatten ihre Berufsausbildung abgeschlossen bzw. mussten diese oder ein Hochschulstu- dium in der Endphase des Krieges unterbrechen. „Viele von ihnen beschleunigen die Heirat und die Familiengründung, bevor die Männer zum Krieg eingezogen werden.“81 Hingegen fand für viele der Beginn der beruflichen Karriere, Abschluss des Hochschulstudiums und Familiengründung unmittelbar nach Kriegsende statt.82

Geburtsjahrgänge 1925-1929: ihre Geburt fiel in die Weltwirtschaftskrise und den direkten Folgen daraus. Die schulische Erziehung erfolgte nach den Grundsätzen der nationalsozialistischen Erziehungspolitik, die Jugendorganisationen des Drit- ten Reiches wurden vollständig durchlaufen. Zu Kriegsbeginn waren sie im Alter zwischen 10 und 15 Jahren, sie erlebten Bombenangriffe, Kinderlandverschickun- gen in Heime, Lager oder Internate, waren von ihrem gewohnten Umfeld (Mutter, Geschwister) getrennt und wuchsen im Klassenverband mit Lehrern und Erziehern

79 Vgl. H. Radebold, 33.

80 H. Radebold teilt die Geburtsjahrgänge 1930-1934 ein (Anm. d. Verf.).

81 H. Radebold, 35.

82 Vgl. H. Radebold, 34.

(29)

28 auf. Mit Fortschreiten des Krieges mussten sie verstärkt am Krieg teilnehmen. Die Jungen wurden vorerst als Flakhelfer oder in anderen Funktionen eingesetzt, zum Ende des Krieges sogar als letztes Aufgebot.83

Von Plato84 fasst eine Befragung von Männern der Alterskohorte 1919 bis 1928 folgend zusammen: sie sind in einer Zeit aufgewachsen, „in denen ‚die Nation und soldatische Tugenden einen hohen Stellenwert einnahmen“.85

In ihrer Literatur wurden die Erlebnisse des Krieges positiv dargestellt und als na- tionale Notwendigkeit beschrieben. Mit dem Schlagwort „Deutschlands Ehre“86 wurde vielfältig Stimmung gemacht. Das Bild über den Krieg war von der damali- gen Jugend geprägt von „ehrenhaften Soldaten in gegenseitigem Respekt gegen- einander kämpfend“.87 In der HJ (Hitler Jugend) wurden soldatische Tugenden vermittelt, in paramilitärischen Spielen wurde die Männlichkeit erprobt und jeder Verweichlichung gegenüber gestellt.88

„So sieht die Biografie eines ‚Schüler„-Soldaten als eines typischen Vertre- ters der ‚skeptischen Generation„ aus: Jg. 1926, Schulbesuch (Oberschule) bis August 1943, Luftwaffenhelfer, nebenher Schulbesuch und ‚Reife- Vermerk„ März 1944 (später kein anerkanntes Abitur), Reichsarbeitsdienst Frühjahr 1944, Juni 1944 bis April 1945 Fronteinsatz im Westen, Verwun- dung, EK II, April 1945 Gefangennahme, bis Mitte Juli im Gefangenenlager, danach Arbeit auf einem Bauernhof in der Nähe von Reims, wegen Arbeits- unfähigkeit (Erkrankung) Ende Mai 1946 entlassen; Beruf: ‚Schüler„, ab 1.7.1946 Mitarbeit beim Aufbau der väterlichen Firma; Eltern ausgebombt, provisorisches Zusammenleben bei den Großeltern; kein regulärer Schul- abschluss, keine Berufsausbildung, völlige Orientierung am persönlichen

83 Vgl. H. Radebold, 36.

84 Alexander von Plato, Erinnerungen junger Soldaten an den Zweiten Weltkrieg, In: Ulrich Herr- mann, Rolf-Dieter Müller, Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen als Le- benserfahrungen, 323f.

85 Von Plato, In: U. Herrmann, R.-D. Müller, 323.

86 Ebda, 324.

87 Ebda, 324.

88 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 324.

(30)

29

‚kleine Glück„ mit Freundin und in der baldigen Ehe; bezüglich öffentlicher Angelegenheiten ‚unpolitisch„.“89

Geburtsjahrgänge 1930-1934: „wachsen (nach ihrer bewussten Erinnerung) be- reits vollständig während des Dritten Reiches auf.“90 Von Kinderlandverschickun- gen waren sie kaum mehr betroffen, sie lebten in ihren Familien, erlebten mit ih- nen im städtischen Raum und in industriellen Ballungsgebieten Bombenangriffe, Zerstörung ihrer Häuser und Wohnungen, Flucht und Vertreibung. Meist wurden sie in ländliche Gebiete evakuiert. Bei ihrer Rückkehr nahmen sie auch die schlimmen Erfahrungen ihrer Mütter in eine teilweise zerstörte oder beschädigte frühere Welt mit.91 „Ihre Jugend fällte in die direkte Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1950“.92 „Jungen wurden zum „Ersatz-Mann“ … und nahmen ihre eigenen Bedürfnisse nicht wahr.“93

Die Erinnerungen an die Erfahrungen sind sehr stark von der frühen Sozialisation, von Wertesystemen, Hoffnungen und Erwartungen bestimmt worden und müssen deshalb aus dem Blick der verschiedenen Alterskohorten der Soldaten betrachtet werden.94 Glaesmer95 verweist auf die bisher wenig verfügbaren Studien, die dar- auf hindeuten, dass „altersspezifische Entwicklungsaufgaben und Stressoren, aber auch kollektiv und generationentypische Traumatisierungen zu einer spezifi- schen Ausprägung und Verarbeitung von Traumatafolgestörungen im höheren Lebensalter beitragen.“96

89 U. Herrmann, R.-D. Müller, 18ff.

90 H. Radebold, (2014), 37.

91 Edem, 37.

92 Edem, 37.

93A. K. Rau, 33.

94 Von Plato, In: U. Herrmann, R.-D. Müller, 322f.

95 Vgl. Glaesmer, 194.

96 H. Glaesmer, 194.

(31)

30

4.6 Die „jungen“ Soldaten

Aufruf Joseph Goebbels (1943) im Berliner Sportpalast an vorwiegend 16-jährige Schüler zum totalen Krieg „Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstel- len können?“97

Einen interessanten Aspekt zu den Lebens- und Kriegserfahrungen von Soldaten bringen Herrmann, Müller98 indem sie der Frage nachgehen, wer die „jungen“ Sol- daten sind. Sie stellen fest, dass „Jung“99 nicht dasselbe meint, wie „Jugend“.100 Die Jugend ist als Phase, als Status des Übergangs zum Erwachsenen zu sehen und sowohl historisch, als auch kulturell sehr unterschiedlich und meist auch von geschlechtstypischen Merkmalen gekennzeichnet. Bestimmte Zäsuren, wie das Ende der Schulzeit, der Eintritt ins Arbeitsleben, das Erlangen der Heirats- und Strafmündigkeit, aber auch die „Wehrfähigkeit“101, können nicht immer einem be- stimmten Lebensalter zugeordnet werden. Im Wesentlichen geht es jedoch um die Öffnung von neuen Erfahrungsräumen, die der Jugend vorenthalten sind. Dass innerhalb dieser Erfahrungsräume immer noch zwischen jung und alt unterschie- den werden muss, verdeutlichen Herrmann, Müller102 anhand eines Beispiels. …

„ein 38-jähriger, frisch als Soldat eingezogener Familienvater ist im Vergleich zu einem 22-jährigen ledigen Leutnant zwar alt nach Lebensalter und –erfahrung, aber jung gemessen an seiner Kriegserfahrung.“103

Bereits im Herbst 1942 gab es den Befehl zum Abzug von 200 000 kriegserfahre- nen Soldaten von der Luftwaffe. Sie wurden aufgrund der hohen Verluste im Erd- kampf, bei der Kriegsmarine und auf U-Booten benötigt. Sie wurden von 15- bis 17-jährigen Oberschülern der Jahrgänge 1926-1928 ersetzt. Diese kamen aus der Hitlerjugend und wurden als Flakhelfer eingesetzt. Tatsächlich leisteten die Hitler-

97 A. Kuba, 161f.

98 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 115.

99 U. Herrmann, R.-D. Müller, 115.

100 Ebda, 115.

101 Ebda, 115.

102 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 115.

103 U. Herrmann, R.-D. Müller, 115.

(32)

31 jungen Dienst als Richt-, Lade- und Munitionskanoniere, ebenso wurden sie zu Wachdiensten und Telefondiensten herangezogen und mussten Waffenpflege und Schanzarbeiten durchführen.104

Richard Suchenwirth,105 1927 geboren, Neurologe, war einer dieser Flakhelfer. Er kam mit 16 Jahren von der Schule und wurde zum Luftwaffenhelfer rekrutiert. Be- reits mit 17 hatte er viele seiner Klassenkameraden und seinen Bruder im Krieg verloren.106 Suchenwirth erinnert sich, als er als 16jähriger einen Luftwaffenangriff über München miterlebte:

„Es dauerte nicht lange, da brannten rings um uns überall Häuser, sodass die ganze Theresienwiese hell erleuchtet dalag. Granatsplitter klackerten vor unseren Füßen zu Boden. Ein eigenartiger Geruch nach Schießpulver und Bränden lag in der Luft.“107

In dieser Nacht warfen die Engländer 70 000 Bomben ab und mehrere Hundert Menschen verbrannten. Suchenwirth dachte in diesem Moment nicht an die Men- schen.108

„Helmut Godai109 war 16, als er im Mai 1943 in Wien mit der Straßenbahn in den Krieg fuhr. Während sich die Tramway mit den Schülern der 5. Klasse, die zuvor die Uniform der Luftwaffenhelfer angezogen hatten, dem Winter- hafen an der Donau näherte, schwankte der Wiener Gymnasiast zwischen Euphorie und Angst.“ 110

Godai über seine Einberufung zur Kriegsmarine in Usum an der Nordsee:

„Die 17-jährigen mussten mit der Gasmaske durch die Dünen robben, auf dem schwarzen Schotter des Kasernenhofs in Deckung springen, mar- schieren und stillstehen, marschieren und stillstehen. Wurde bei der tägli- chen Musterung etwas beanstandet, musste der Kriegsschüler bei Tisch

104 Vgl. A. Kuba, 162.

105 Richard Suchenwirth, Zeitzeuge, geb. 1927.

106 R. Suchenwirth, In: A. Kuba, 25.

107 A. Kuba, 164.

108 Ebda, 164.

109 Helmut Godai, Zeitzeuge, geb. 1927.

110 A. Kuba, 168.

(33)

32 strammstehen und hungern. …. Aber uns hat das nichts ausgemacht. Wir waren ja hart trainiert. Und bereit, uns für die große Sache zu opfern„.“111 Diese jungen Soldaten waren noch wenige Monate zuvor ungeduldige Schüler und Studenten. Die Stimmung wurde durch die Kriegsrhetorik ihrer vom Kriegs- dienst befreiten Geschichts- und Deutschlehrer aufgeheizt. Sie wollten es ihren Vettern und älteren Brüdern zeigen, wie man „Krieg“112 führt. Mit einem Notabitur gingen sie zum Teil von den Gymnasien ab.113

Wolfgang Pickert114, 1930 geboren, als Einzelkind in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, erzählt dass er im Dezember 1944 als 14-jähriger ein Gewehr in die Hand gedrückt bekam.115

„Es wurden Gewehre ausgegeben. Einige ältere und verwundete Soldaten, die nicht mehr für die Front verwendungsfähig waren, haben uns gezeigt, wie wir mit den alten Karabinern vom Typ K98 umzugehen hatten. Die Handhabung mit diesen Modellen aus dem Ersten Weltkrieg war für uns recht schwierig, denn sie waren groß und schwer. Doch es machte uns Spaß.“116

Der Zeitzeuge Schörken R.117, Jahrgang 1928, berichtet über die Zeit als Flakhel- fer:

„Ich weiß noch, als ich 16 Jahre alt wurde, im Sommer 1944, da hab ich mir überlegt: Welcher 16-jährige auf der ganzen Welt kann von sich behaupten, dass er mit seiner Flakbatterie schon sechs englische oder amerikanische Bomber abgeschossen hätte? Ich fand das schon was Besonderes.“118

111 Ebda, 173.

112 U. Herrmann, R.-D. Müller, 159.

113 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 159.

114 Wolfgang Pickert, Zeitzeuge, geb. 1930.

115 Vgl. A. Kuba, 178.

116 A. Kuba, 178.

117 Rolf Schörken, Zeitzeuge, geb. 1928.

118 U. Herrmann, R.-D. Müller, 345.

(34)

33 In der historischen Jungend- und Sozialforschung wird die Jugend mit der oberen Altersgrenze von 25 Jahren begrenzt.119 Die Frage, wer die „jungen“ Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren kann somit einfach beantwortet werden. Von den im Jahr 1939 Eingezogenen waren ca. 47% höchstens 25 Jahre alt, geht man von der Obergrenze 18 Jahre aus, so waren dies im gleichen Zeitraum ca. 25%. Bei ca.

17,4 Millionen Wehrmachtsangehörigen, bedeutet das dass die Hälfte aus jungen Soldaten bestand und davon immer noch ein Viertel aus Jüngeren.120

Für die Soldaten war der Zweite Weltkrieg ein wesentlicher Lebensabschnitt, ge- prägt von Todesbedrohungen, Verwundungen, Erschöpfung und zahlreichen Her- ausforderungen, mit schrecklichen Erfahrungen und Erlebnissen und mitunter von verlorenen Ausbildungsjahren. Allerdings machten sie auch Erfahrungen von Ver- lässlichkeit, Kameradschaft und Freundschaft.121

4.7 Versorgungs- und Entschädigungsanspruch

Im Bericht über 50 Jahre Kriegsopferversorgung in der Zweiten Republik 1945- 1995, steht u. a. zu lesen, dass laut Kriegsopferverband am 1. Mai 1949 noch 116 313 Personen als Versorgungsberechtigte des Zweiten Weltkrieges galten.122 Nach dem Ersten Weltkrieg war die Zahl der sogenannten „Kriegsneurotiker“

enorm hoch. Herman123 beschreibt Männer, die in den Schützengräben einge- pfercht zum Warten verurteilt waren, konfrontiert mit der ständigen Angst vor dem Tod. Sich wie hysterische Frauen benehmend.

119 Vgl. Klaus Latzel, Töten und Getötet-werden. Ambivalenz von Erfahrungen, Gewalt und Ver- letzbarkeit, In: Ulrich Herrmann, Rolf-Dieter Müller, Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg.

Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen, 115.

120 Vgl. U. Herrmann, R.-D. Müller, 115.

121 Vgl. von Plato, In: U. Herrmann, R.-D. Müller, 321.

122 Vgl. Karl Ernst, 50 Jahre Kriegsopferverband in der Zweiten Republik 1945-1995. In: K. Ernst, T. Fischlein, E. Sengstschmied, et al., Schicksal Kriegsopfer. Die Geschichte der Kriegsopfer nach 1945. Kriegsopfer- und Blindenverband, 225-320.

123 Vgl. J. Herman, 34.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Denn durch diesen Umstand blieb ein Mann von seltener Quali- tät und seltenem Engagement an das 700-Betten- Haus gebunden – in einer seltenen Funktion: Mann zwar nicht für alles,

Kette hochkomplexer „Wenn-Dann“-Bedingungen, die vor allem aus der Präambel der Agenda 2030 ableitbar sind – und das liest sich so: (a) Erst wenn Armut und Hunger in der

W e r es einmal gelesen hat, wird mit uns der Meinung sein, daß es sicher zu den bedeutendsten politischen Publi- kationen unserer* Tage gerechnet werden muß, die jeder

Ilse Aichingers Erstlingswerk aber, der Roman Die größere Hoffnung 24 , der 1948 bei Bermann-Fischer in Amsterdam, also gleichsam noch im Exil erschienen ist, war für Walter

Juden mussten einen gelben Judenstern an die Kleidung machen. Juden wurden verfolgt

Im Falle, daß das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht oder irgendwelche unter seinem Befehl stehenden Streitkräfte es versäumen sollten, sich gemäß den Bestimmungen

Zwar hatte Hitler nun versichert, keine Gebietsansprüche mehr zu stellen, doch am 15. März 1939 marschierten dann doch deutsche Truppen in Prag ein und besetzten die

Literatur am Küchentisch Unter dem Titel „Literatur am Küchentisch“ lädt Sabine Vitten zu einem weiteren Literaturtreff für Leseratten und Bücherwür- mer am Mittwoch, 7. Diese