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die Wirtschaft Liechtensteins: eine empirische Erhebung

1. Zwischenbilanz der EWR-Mitgliedschaft Liechtensteins Die empirische Datenerhebung hat gezeigt, dass vorläufig eine positive

Bilanz der EWR-Mitgliedschaft Liechtensteins gezogen werden kann.1

Es haben sich bisher durch den EWR-Beitritt im Vergleich zur vorheri­

gen Situation keine elementaren volkswirtschaftlichen Veränderungen ergeben. Die Wettbewerbssituation hat sich zwar verschärft, die liech­

tensteinische Wirtschaft scheint für diesen Wettbewerb jedoch gerüstet zu sein. Der stetige Zuwachs an Arbeitsplätzen, faktische Vollbeschäfti­

gung sowie eine stabile konjunkturelle Lage sprechen für die Prosperität der liechtensteinischen Wirtschaft. Es darf nicht vergessen werden, dass bei einem EWR-Nein Liechtensteins nicht einfach alles beim Alten ge­

blieben wäre, wie auch die Erfahrungen der Schweiz zeigen. Liechten­

steins EWR-Mitgliedschaft hat zudem das Bewusstsein gestärkt, die Wirtschaft diversifizieren und notwendige Strukturreformen, insbeson­

dere im Gesundheitswesen und in Monopolbereichen, durchführen zu müssen.

Wichtig ist festzuhalten, dass die Aussagekraft der vorgestellten Ergebnisse in jedem Fall beschränkt ist. Erstens werden nur die wirt­

schaftlichen, nicht die politischen Folgen der EWR-Mitgliedschaft auf­

gezeigt. Zweitens können nach nur vier Jahren kaum mittel- und lang­

fristige Auswirkungen festgemacht werden. Drittens hat Liechtenstein eine Reihe von Ubergangsfristen erhalten, die teilweise erst Anfang 1998 oder 1999 abgelaufen sind bzw. immer noch bestehen. Viertens können die Effekte von EWR, Konjunktur und Weltwirtschaft nicht klar ge­

1 Stimmen aus der Wirtschaft zum Jahreswechsel 1998/99 bestätigen die hier gefundenen Ergebnisse und diese Bilanz; siehe Liechtensteiner Vaterland, 29.12.1998, S. 4f., Liech­

tensteiner Vaterland, 30.12.1998, S. 4f., Liechtensteiner Vaterland, 5.1.1999, S. 8f.

trennt werden. Fünftens stehen in Liechtenstein wichtige statistische Angaben (z.B. BIP, Wertschöpfung der einzelnen Wirtschaftssektoren, Abgrenzung der liechtensteinischen Ex- und Importe über die Schweiz) aufgrund der fehlenden Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht zur Verfügung. Und schliesslich gibt es die für Umfragen üblichen me­

thodischen Probleme, z.B. werden Fragebögen nicht immer so ausge­

füllt, wie dies vom Versender vorgesehen war, die Rücklaufquote ist zu gering, das Sample ist zu klein etc.

Interessant ist, dass es insgesamt gesehen kaum Unterschiede zwi­

schen Industrie und Gewerbe in der Beurteilung der EWR-Auswirkun-gen gibt. Eine unterschiedliche Einschätzung ergab sich bei der Libera­

lisierung des öffentlichen Auftragswesens. Diese wurde im Gewerbe, insbesondere im Baugewerbe, zum Teil negativ beurteilt, was allerdings eher auf die verstärkte Präsenz Schweizer Unternehmen denn auf den EWR zurückzuführen ist. Die graduelle Liberalisierung des Personen­

verkehrs wird von beiden Sektoren aufgrund des chronisch ausgetrock­

neten liechtensteinischen Arbeitsmarktes als vorteilhaft bewertet. Un­

terschiedliche Einschätzungen gibt es in der Bedeutung der EWR-Mit-gliedschaft. Während 26 % der Befragten im Industriesektor dem EWR eine grosse Bedeutung beimessen, sind dies im Gewerbesektor, welcher im Gegensatz zur Industrie eher regional orientiert ist, lediglich 13.6 %.

Auch im Finanzdienstleistungssektor wurden mit der EWR-Mit-gliedschaft weitgehend positive Erfahrungen gemacht. Liechtensteini­

sche Banken haben die Chancen genutzt und platzieren verstärkt Investmentfonds auf dem EWR-Markt. Das Wachstum der Banken ist unvermindert, auch wenn die Konkurrenzsituation speziell auf dem Ar­

beitsmarkt stark zugenommen hat. Im Treuhandwesen und bei den Rechtsanwälten, zwei Berufsgruppen, die dem EWR besonders kritisch gegenüberstanden, konnten ca. die Hälfte der Befragten keine EWR-be-dingten Nachteile nennen, nur ca. 24 % sahen überhaupt keine Vorteile durch den EWR und eine Mehrheit von zwei Drittel spürt keinen ver­

stärkten Konkurrenzdruck aufgrund der EWR-Mitgliedschaft. Dieses Ergebnis spiegelt die Tatsache wider, dass mit dem EWR-Beitritt wich­

tige liechtensteinische Rahmenbedingungen wie die Steuergesetzgebung und das Holdingprivileg, die restriktive Handhabung bei der Rechtshilfe in Steuersachen, das besondere Bankgeheimnis oder weite Teile des spe­

ziellen liechtensteinischen Gesellschaftsrechts aufrechterhalten werden konnten. Die Chancen im Versicherungssektor wurden zudem über­

haupt erst mit dem EWR-Beitritt geschaffen. Mit dem Aufbau eines Versicherungssektors hat Liechtenstein seine Wirtschaftsstruktur weiter diversifizieren können. Aufgrund der Erfahrungen innerhalb der EU sind allerdings zwei Aspekte zu berücksichtigen. Erstens bleibt festzu­

stellen, dass sich in der EU der für Liechtenstein so wichtige grenzüber­

schreitende Dienstleistungsverkehr (fehlender Binnenmarkt) im Versi­

cherungswesen im Generellen nicht durchsetzen konnte. Allein Luxem­

burg (im Bereich Lebensversicherungen) und Irland (im Bereich Nicht-Lebensversicherungen) erwirtschaften überdurchschnittlich hohe Beitragseinnahmen im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr.

Zweitens werden diese überdurchschnittlich hohen Einnahmen vor allem auf die günstigen Steuerregelungen zurückgeführt, denn norma­

lerweise ziehen es Versicherungen vor, direkt auf dem entsprechenden Markt tätig zu sein.2 Liechtenstein bietet mit seiner Steuergesetzgebung einen ähnlichen Anreiz von Liechtenstein aus grenzüberschreitend tätig zu werden. Sollte es zukünftig zu einer Aufweichung des liechtensteini­

schen Steuerprivilegs kommen, könnte den liechtensteinischen Versiche­

rungsunternehmen der entscheidende Anreiz für ihre Niederlassung entzogen werden.

Alle bisher angesprochenen Sektoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie einhellig die liechtenstein-spezifischen Standortfaktoren als wichtige Voraussetzung für ihre Konkurrenzfähigkeit ansehen. Das bedeutet in erster Linie die Beibehaltung des liberalen Steuersystems und die Auf­

rechterhaltung der Zoll- und Währungsunion mit der Schweiz. Für die Berufe und Branchen des Finanzdienstleistungssektors spielt zudem das liechtensteinische Personen- und Gesellschaftsrecht sowie das restriktive Bank- und Treuhändergeheimnis eine entscheidende Rolle. Industrie und Banken betonen die Notwendigkeit eines offenen Arbeitsmarktes.

Die in dieser Studie untersuchten Freien Berufe beurteilen die EWR-Mitgliedschaft am kritischsten. Ingenieure und Architekten stehen dem EWR zwar eher positiv gegenüber, sie befürchteten allerdings eine Ver­

schlechterung ihrer Lage mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über das öffentliche Auftragswesen. Da das Gesetz allerdings erst am 1.1.1999 in Kraft getreten ist, ist es zum Zeitpunkt der Erstellung der Studie noch zu früh, um sichere Aussagen treffen zu können. Grundsätzlich

ver-1 Dieser Politik liegen kommerzielle Strategien zugrunde, z.B. Qualität der Leistung, Kundennähe und zügige Schadensabwicklung (Eurostat 1998a, S. 3).

spüren bei weitem nicht alle Ingenieure und Architekten eine verstärkte Konkurrenzsituation aufgrund der EWR-Mitgliedschaft. Dementspre­

chend erteilt auch nur ein Teil dieser Berufsgruppe dem grenzüber­

schreitenden Dienstleistungsverkehr eine schlechte Note und beurteilt die Niederlassungsfreiheit sogar positiv bis allenfalls neutral. Versiche­

rungsfachleute spüren eine intensivere Konkurrenzsituation, die sich be­

sonders in Wanderungsbewegungen der Kundschaft sowie in geringeren Gewinnmargen zeigt.

Die Probleme im Bereich der Arzte, wie sie in Kapitel E angesprochen wurden, sind eher in der nationalen Gesetzgebung begründet und nur in­

direkt eine Auswirkung der EWR-Mitgliedschaft, da es Liechtenstein bislang versäumt hat, eine den EWR-Staaten entsprechende Gesetzeslage zu schaffen. Eine Kassenzulassungsbeschränkung oder das «Hausarzt­

modell» z.B. gilt auch in EU-Staaten und ist EWR-konform, solange EWR-Ausländer gegenüber Inländern nicht diskriminiert werden.

Liechtenstein hat mit der EWR-Mitgliedschaft offensichtlich einen komfortablen Integrationsweg gewählt. So spielt auch die lange dis­

kutierte «Grössenverträglichkeit» des EWR bislang keine Rolle. Liech­

tenstein hatte im Mai 1999 95.7 % der binnenmarktrelevanten EWR-Richtlinien in nationales Recht umgesetzt, hat aber insbesondere im Gesellschaftsrecht die Umsetzung von EWR-Recht versäumt.3 Im Ge­

gensatz zu Norwegen und Island konnte Liechtenstein bereits bis Mai 1999 den Grossteil seiner Implementierungsprogramme4 für das Jahr 1999 erfüllen.5

Die dynamischen Entwicklungen innerhalb Europas und die Weiter­

entwicklung der Europäischen Union machen es notwendig, diesen In­

tegrationsweg in einen gesamteuropäischen Kontext zu stellen und einen Blick auf die Herausforderungen zu werfen, mit denen sich Liech­

tenstein auch aufgrund seiner engen Anlehnung an die Europäische Union künftig auseinanderzusetzen hat. Ein zentrales liechtensteini­

3 10 der 11 Richtlinien im Bereich Gesellschaftsrecht waren im Mai 1999 noch nicht um­

gesetzt (EFTA Surveillance Authority, Single Market Scoreboard - Interim Report May 1999, S. 4).

4 Implementierungsprogramme werden von der ESA gefordert, wenn Richtlinien nicht vollumfänglich notifiziert wurden.

5 Für 1999 hatten Liechtenstein 29, Norwegen 38 und Island 22 Implementierungspro­

gramme vorgesehen, von denen Liechtenstein bis Mai 1999 83 %, Norwegen 23 % und Island 32 % erfüllen konnten {EFTA Surveillance Authority, Single Market Scoreboard -Interim Report May 1999, S. 7).

sches Anliegen ist die Regelung des freien Personenverkehrs. Aufgrund der Kleinheit des Landes ist Liechtenstein bestrebt, einen gewissen Grad an Kontrolle in Bezug auf den Zuzug von EWR-Ausländern erhalten zu können. In Verhandlungen mit der EU-Kommission wird seit Ablauf der Ubergangsfrist im freien Personenverkehr am 1.1.1998 versucht, eine für beide Seiten annehmbare Lösung zu finden. Zweitens besteht seit dem 1.1.1999 eine Währungsunion zwischen elf Staaten der Euro­

päischen Union. Es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dieser Währungsblock, der den Wirtschaftsraum Schweiz-Liechtenstein prak­

tisch «in die Zange» nimmt, haben kann. Drittens wird innerhalb der EU intensiver als je zuvor die Harmonisierung gewisser direkter Steuern diskutiert. Das Thema «Steuern» ist zwar aus dem EWR-Abkommen ausgeklammert; die Union hat aber gleichwohl begonnen, Sondierungs­

gespräche in denjenigen europäischen Nicht-EU-Staaten zu führen, in denen sie eine wettbewerbsverzerrende Steuerpolitik wittert. Viertens werden sich die EU respektive der EWR im nächsten Jahrzehnt nach Osten erweitern. Es bleibt zu untersuchen, welche Konsequenzen sich daraus für das EWR-Abkommen und allenfalls Liechtenstein ergeben.

Schliesslich wurden in den Jahren 1997 und 1998 mit dem Vertrag von Amsterdam sowie den bilateralen Abkommen Schweiz-EU zwei um­

fangreiche Vertragswerke abgeschlossen, die für die weitere Integration Europas von grosser Wichtigkeit sind. In Abschnitt 2 dieses Kapitels wird auf diese Punkte vertieft eingegangen.